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Ausgabe:

1904 Nr. 16

Spalte:

467-468

Autor/Hrsg.:

Schoen, Paul

Titel/Untertitel:

Das evangelische Kirchenrecht in Preussen. I. Bd 1904

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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467

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 16.

468

Zum Schluß betont der Verf., daß er ganz abfichtlich
keine induktive, fondern eine deduktive Methode ein-
gefchlagen habe, da nur eine folche feinem Thema gerecht
werde. Die Gründe, die er dafür angibt, treffen
allerdings gewiffe Schwierigkeiten, die das Gebiet des
fittlichen Lebens im Unterfchiede von andern Erkenntnisgebieten
belaften. Dennoch würde der immerhin lohnende
und nicht durchweg ausfichtslofe Verfuch einer induktiven
Behandlungsweife doch vielleicht manche Vorausfetzungen,
von denen aus der Verf. nun argumentiert, mehr oder
weniger alteriert haben. Jedenfalls hängt die ganz ab-
ftrakte und vielfach mit künftlichen Fiktionen arbeitende
Behandlungsweife des Verf. mit feiner deduktiven Methode
zufammen. Infofern aber fcheint fich ein Einfluß
von Avenarius namentlich darin geltend zu machen, daß
der Verf. nicht nur zunächft der Standpunkt eines objektiven
Betrachters des fremden Wollens einnimmt, fondern
dann auch eine vermeintlich über allen Zweifel erhabene
Objektivität auf dem künftlichen Umweg erftrebt,
die Erfahrungen der individuellen Sittlichkeit an ,unferm
Individuum' wie an einem völlig indifferenten Beobachtungsobjekt
zu demonftrieren.

Bonn. O. Ritfchl.

Schoen, Prof. Dr. Paul, Das evangelische Kirchenrecht in

Preussen. Erfter Band. Berlin 1903, C. Heymanns
Verlag. (XII, 465 S. Lex. 8.) M. 10.—

Ich kann mich zu diefem außerordentlich forgfältig
gearbeiteten Buche, welches die erfte Hälfte des ganzen
beabfichtigten Werkes darftellt, lediglich als Referent
verhalten. Es gibt wohl kein Kirchenrecht, welches
kurzweilig zu lefen wäre; aber eine intereffante Ausführung
des Stoffes darf man erwarten; diefe ift hier geboten
, und zwar fcheint mir dies befonders dadurch und
infofern erreicht zu fein, daß ,möglichft überall von der
hiftorifchen Entwicklung ausgegangen' wird; fo wird
die Rechtslage begreiflich. Da nun aber weiter die Darfteilung
auch überfichtlich, lichtvollund klargenannt werden
darf, fo ift das Buch zugleich inftruktiv, felbft für denjenigen
, der mit preußifchem Kirchenrecht gar nichts zu
tun hat. Außerdem aber fcheint es mir infolge der zahlreichen
und forgfältigen Verweifungen, genauen Zitate und
reichen Literaturangaben als Nachfchlagebuchfehr geeignet
zu fein; wer fleh über eine preußifche kirchenrechtliche In-
ftitution orientieren will, wird hier ftcher feinen Zweck
erreichen oder doch die Wege weiteren Nachforfchens
gewiefen bekommen. Der vorliegende erfte Band geht
über die Darftellung des gefamten kirchlichen Organismus
oder der verfaffungsmäßigen Ordnung der Kirche
nicht hinaus. In einem 1. Buch (1—142) fehen wir den-
felben werden: in den örtlichen Provinzen fetzt fleh die
Konfiftorialverfaffung, in den weftlichen im Anfchluß an
das franzöflfehe Vorbild die reformierte Presbyterial- und
Synodalverfaffung durch. Nach der Kodifikation des
Beftehenden im Allg. Landrecht tritt eine Periode
völliger Verftaatlichung der Kirchenordnung ein; erft
unter Friedrich Wilhelm IV. kommt das geiftliche Element
wieder mehr zu felbftändiger Geltung, bis in der
Verfaffung eine Ablöfung des kirchlichen Gebietes vom
ftaatlichen gefordert wird, deren fehr allmähliche Verwirklichung
bis zum Jahre 1876 in allen Stadien zur
Darftellung kommt. Die Aufgabe ift dabei die fchon
feit der Einverleibung der weftlichen Provinzen geftellte
und in der dortigen Kirchenverfaffung von 1835 ausgeführte
: die Vereinigung von konfiftorialer und presbyterial-
fynodaler Verfaffung. Dazu treten durch die Erwerbung
der neuen Provinzen feit 1867 noch neue und heikle
Aufgaben. Sofern diefe wefentlich durch das Verhältnis
der preußifchen Union zu den konfeffionellen Landeskirchen
bedingt find, kann hieher fofort auch das
4. Buch (203—222) gezogen werden, welches, ebenfalls

gefchichtlich, die Union behandelt. Der eigentlichen
Darfteilung der Rechtsverhältniffe geht im 2. Buch
(142—154) eine Erörterung über die Rechtsquellen (gefetztes
und Gewohnheitsrecht) voraus, worauf dann das
3. Buch (154—203) das Verhältnis der Kirche zum Staat
(Summepifkopat, nur hiftorifch zu erklären, nicht juriftifch
zu rechtfertigen 160, Begriff der ,Kirchenhoheit' und der
,Landeskirche', deffen Ableitung aus dem Oberbegriff
der öffentlichen Korporation' wie mir fcheint mit Recht
abgelehnt wird) und zu andern Religionsgefellfchaften
bringt, das 5. und umfaffendfte (223—446) endlich die
Darfteilung des kirchlichen Organismus felbft darbietet.
Hier werden nun alle kirchenregimentlichen Organe
vom Summepifkopus bis zum Superintendenten herunter
und alle presbyterial-fynodalen Organe von der Einzelgemeinde
bis zur Landesgemeinde hinauf nach Zweck,
Zufammenfetzung, Herkunft, Wirkungskreis ufw. bis
ins kleinfte Detail der ,heben preußifchen evangelifchen
Landeskirchen' (3) durchgenommen, eine Mühewaltung
die gewiß große Geduld und Genauigkeit erfordert hat.
Sich da durchzuarbeiten ift lehrreich und nicht ohne
Intereffe — befonders wenn man, wie Referent, die
Kirchenverfaffung des eigenen, nicht-preußifchen Gebietes
zur Vergleichung heranzieht — unter der Vorausfetzung,
daß man überall tunlichft die großen Gefichtspunkte
im Auge behält, welche in diefem komplizierten Organismus
zur Durchführung gelangt find. Hiezu gibt der
Verf. felbft in einem letzten Abfchnitt erwünfehte Anleitung
, wo er den Sinn und Grundgedanken der hier
vollzogenen Verbindung zweier Verfaffungsfyfteme darlegt
(442 ff.). Er kommt hier zu dem intereffanten und
wie mir fcheint unanfechtbaren Refultat, daß ein einheitliches
Prinzip bei derfelben nicht obwalte, fofern zwar
nicht in den Kreis- und Provinzialinftanzen, wohl aber
bei der Landesfynode ein Analogon zu dem politifchen
Konftitutionalismus vorliege, indem dort die kirchenregimentlichen
und fynodalen Organe fich mehr oder minder
verbinden, hier aber fich gegenüberftehen wie Regierung
und Parlament, ohne daß deshalb, bei der Zufammenfetzung
der General- bezw. Landesfynode, die Einführung
eines demokratifchen Elementes behauptet werden könne.

Wenn ich noch zum Schluß einige wenige kritifche
Bemerkungen mir zu machen erlaube, fo follen das nur
befcheidene Fragzeichen, keine Ausftellungen fein. Sehr
fraglich erfcheint mir und für die Jurisprudenz allzu ela-
ftifch der Begriff der ,Rationabilität' (151), mit dem das
Gewohnheitsreht operieren foll; ebenfo S. 191 der große
Wert, der dem apoftolifchen Glaubensbekenntnis (wiefo
fleht hier der Plural?) in Bezug auf die Unterfcheidung
unter den nicht landeskirchlichen Religionsgefellfchaften
zugefprochen wird: wohl wird ein Zirkular-Erlaß des
Ob.-Kirch.-Rats vom 21. 2. 1860 dafür angeführt, aber
das ift doch nicht identifch mit dem Urteil ,der evangelifchen
Kirche'? Unklar ift mir auch bei der ,Einzelgemeinde
' (deren Verfchiedenheit von ,Parochie' gut
dargelegt wird) die Antwort auf die Frage geblieben,
worauf im letzten Grunde die Konfeffionszugehörigkeit
zur Gemeinde beruht: ift wirklich und rechtlich ,die
Taufe und Konfirmation in einer evangelifchen Gemeinde'
(312) ausfchlaggebend, hat nicht die Zahlung der Kirchen-
fteuer eigentlich mehr Gewicht? Ein Widerfpruch
fcheint mir 328 vorzuliegen, wenn die Gemeindevertretung
,nicht für die Gemeinde handeln' foll, und doch ,ihre
Befchlüffe an die Stelle der Willenserklärung aller Gemeindeangehörigen
treten'. Ich bin geneigt, fie vielmehr
wirklich und im Unterfchied vom Kirchen vorftand als
Vertreterin der Gemeinde felbft aufzufallen. Ich fchließe
mit herzlichem Dank gegen den Verfaffer für die reiche
Belehrung, die mir fein Buch gewährt hat.

Heidelberg. Baffermann.