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Ausgabe:

1904 Nr. 16

Spalte:

465-467

Autor/Hrsg.:

Störring, Gustav

Titel/Untertitel:

Moralphilosophische Streitfragen. 1. Teil 1904

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 16.

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Entwicklung und die fittliche Vollendung find nicht
identifch, denn das zweite Glied ftellt immer den uns
wertvollen Spezialfall des im erften genannten indifferenten
Ganzen dar. Diefe Werte aber entliehen nur in
der Gefchichte und werden gehalten durch einen Glauben
, der in großen Ereigniffen und Perfonen der Gefchichte
die Sprache eines perfönlichen Gottes vernimmt.
Auf eine folche Abrundung des Weltbildes fcheint auch
die Gewiffenspofition eher hinzuweifen, als auf den pan-
theifierenden Monismus von K. Sicher gibt es auch
andere Wege, die moderne Naturerkenntnis mit einer
unferer gefchichtlichen Stellung entfprech enden Auffaf-
fung vom Chriftentum in einer Perfönlichkeit verträglich
zu machen.

Diefe Reden als Gemeindepredigten verlaffen alle
homiletifche Tradition. So gefchickt fie auch dem
Kirchenjahr eingepaßt find, wenn z. B. am Bußtag von
der Anpaffung, am Chriftfeft von dem neuen Chriftus-
bild geredet wird, fo pflegt doch in Predigten mehr unmittelbare
Erbauung, die Behandlung folcher Fragen
aber mehr in Vorträgen dargeboten zu werden. Sprache
und Ausllattung find gut.

Heidelberg. Niebergall.

Störring, Prof. Dr. Dr. Guftav, Moralphilosophische Streitfragen
. I. Teil: Die Entftehung des fittlichen Bewußt-
feins. Leipzig 1903, W. Engelmann. (VII, 151 S. gr. 8.)

M. 4.—

Der Verf. will unter dem Titel ,Moralphilofophifche
Streitfragen' drei Probleme behandeln: die Entftehung des
fittlichen Bewußtfeins, die fittlichen Zwecke und die Rechtfertigung
der Forderung des fittlichen Lebens. Von dielen
Thematen wird das erde in dem vorliegenden Bande
erörtert. Der Verf. hält es ,für die hauptfächlichfte Aufgabe
des Moralphilofophen, den ethifchen Tatbeftand, wie
er vorliegt, zu analyfieren und feine Abhängigkeitsbeziehungen
feftzuftellen', nimmt nach einer folchen Behandlung
jedoch das Recht in Anfpruch, ,auf Grundlage der Erkenntnis
derjenigen Grundprinzipien, welche die fittliche
Wertfehätzung bedingen, die vorhandenen fittlichen
Normen zu modifizieren'. Da die vorliegende Abhandlung
es nur erft mit jener erften Aufgabe zu tun hat, läßt fich
auch noch nicht die Art beurteilen, in der der Verf. jene
beiden Aufgaben mit einander zu vereinigen vorhat.

Da die fubjektive und die objektive Forfchungsme-
thode dazu geführt habe, ,für das Zuftandekommen des
fittlichen Tatbestandes den Sympathiegefühlen eine wefent-
liche Bedeutung zuzufprechen', unterfucht der Verf. das
Wefen und die Entftehung der Sympathiegefühle, um
dann auch ,die Frage nach der Leiftungsfähigkeit des
Sympathieprinzips für die Erklärung des fittlichen Tatbestandes
' zu beantworten. Seine eigne Anficht läßt er
aus einer Kritik der Auffaffungen von David Hume und
Adam Smith hervorgehen, ,die für die Feftftellung des
Wefens des Sympathiegefühls und für feine Verwertung
zur Erklärung des fittlichen Tatbestandes von klaffifcher
Bedeutung geworden' feien. Weshalb er aber nur jene
beiden Philofophen als ,Klaffiker der Sympathie' betrachtet
und, um von Schopenhauer zu fchweigen — deffen
einfeitige Beachtung des Mitleids ebenfo wie die dagegen
gerichtete Polemik Nietzfches nur in der Einleitung kurz
befprochen wird — nicht auch z. B. Spinoza und Rouffeau
berückfichtigt hat, wird nirgends erfichtlich. Uberhaupt
nimmt die Auseinanderfetzung mit anderen Moralphilofophen
in diefem erften Bande eines Werkes über ,moral-

Rhilofophifche Streitfragen' keinen breiten Raum ein.
[ur Lipps und neben ihm Paul Ree und Paulfen werden
als die Vertreter von zum Teil anderen Anflehten berückfichtigt
. Abgefehen von anderen aber, die außer diefen
doch auch hätten in Betracht kommen können, bleibt
eine Auseinanderfetzung mit den modernen Werttheoretikern
, wie Ehrenfels, Meinong u. a. um fo mehr zu ver-

miffen, als der Begriff der Wertfehätzung auch bei dem
Verf. von grundlegender Wichtigkeit ift.

Der Verf. nämlich ftellt zuerft das wertfehätzende
Individuum als Betrachter fremden Wollens und Handelns
vor. Diefe Wertfehätzung ift abhängig ,von der Beachtung
verfchiedener Seiten an dem Effect' eines beftimmten
fremden Wollens, ,an dem Wollen felbft und an den
Beziehungen, in denen diefes Wollen fleht'. Dann wird
die Wertfehätzung eines nicht etwa als wirklich, fondern
als möglich vorgeftellten eignen Wollens unterfucht, mit
der fich egoiftifche Gefühle komplizieren können. Hier
wirken Reproduktionen von Gefühlszuftänden und Sym-
pathieempfindungen, die aus der Wertfehätzung fremden
Wollens herrühren, auf die Entwicklung ähnlicher Gefühls-
zuftände fördernd ein. Indem fich ferner der fympathifche
Ahndungstrieb in einem Individuum gegen deffen vorge-
ftelltes eignes Wollen richtet, bekommt deffen Wert-
fchätzung einen imperativifchen Charakter. Wird nun das
gedachte Wollen jenes Individuums ,als übereinftimmend
mit feiner Willensrichtung aufgefaßt . . . ., fo fühlt es Achtung
vor fich felbft als einer fein dauerndes Wohl gegen
Augenblicksimpulfe und als einer feine geiftige Lebensbetätigung
fördernden Perfönlichkeit'. Zielt ferner das
mögliche eigne Wollen auf Entwicklung von Dispofi-
tionen zur Selbftachtung in andern ab, fo fühlt das Individuum
auch ,Achtung vor fich als einer die Förderung
diefer Dispofitionen in anderen wollenden Perfönlichkeit'.
Tritt dagegen in Folge von einer wiederholten Nachgiebigkeit
gegen gewöhnlich mißbilligte Augenblicksimpulfe eine
Diskrepanz zwifchen der Billigung und Mißbilligung des
eignen Wollens ein, fo kann die Unzufriedenheit damit
,das Individuum veranlaffen, feinem eigenen zukünftigen
Wollen mit einem felbft gegebenen Imperativ gegenüberzutreten
'. Diefe Analyfe der individual bedingten Wert-
fchätzungen zeigt, daß zu deren Entwicklung die Prinzipien
der Sympathie und der Übertragung der Gefühle nicht
ausreichen, fondern daß zu ihnen die höhere Schätzung
geiftiger Luft und dauernden Wohles vor der finnlichen
und augenblicklichen Luft und verfchiedene Arten von
Selbftachtung hinzukommen.

Die fozial bedingten Wertfehätzungen, die nun erft
behandelt werden, ftellt der Verf. in einen Gegenfatz zu
den individual bedingten Wertfehätzungen, indem er doch
die Hauptfache richtig hervorhebt, daß durch die Wirkungen
von Lohn und Strafe, Lob und Tadel die Erfahrungen
ganzer Generationen dem Individuum mitgeteilt
werden. Da indeffen diefe heteronomen Einwirkungen im
Leben jedes menfehlichen Individuums früher wirkfam
find, als fowohl die Erfcheinungen der zuvor befprochenen
,Selbftachtung', wie die der fittlichen Wertfehätzung fremden
Wollens, fo hätte immerhin die Frage mindeftens
aufgeworfen werden dürfen, ob diefe Phänomene fich zum
größten Teile nicht vielmehr nur als ein fekundärer Nieder-
fchlag jener Erfahrungen darftellen.

Die Gedanken derRealifierung eines einzelnen Wollens
durch uns, an die fich imperativifche Gefühle der Billigung
und Mißbilligung anfchließen, faßt der Verf. zufammen
in dem fchon in feinen Vorlefungen über Pfychopa-
thologie begründeten Begriffe von Summationszentren der
Gefühle. Er will in ihm zum Ausdruck bringen, ,daß
mit der Reproduktion folcher Vorftellungen und dem
Wiederauftreten folcher Urteile emotionelle Erlebniffe aus
den verfchiedenften Zeitabschnitten des Lebens zum Nachklingen
kommen'. Was der Verf. im Zufammenhange
feiner Ausführungen über die Bedeutung diefer Summationszentren
für die moralifche Weiterentwicklung des
Individuums gegen die Meinung vieler theologifcher
Ethiker bemerkt, daß die ,reine Moralität' nur in der
Peripherie, die chriftlich religiöfe dagegen im Zentrum des
feelifchen Lebens arbeite, halte ich für begründet. Auch
die Korrekturen der Kantfchen Ethik, mit deren Grundgedanken
der Verf. übereinftimmt, fcheinen mir in der
Hauptfache berechtigt zu fein.