Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1904 Nr. 15

Spalte:

433

Autor/Hrsg.:

Wernle, Paul

Titel/Untertitel:

Was haben wir heute an Paulus? 1904

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

433

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 15.

434

Paulus für die Gefchichtlichkeit der Perfon Jefu und vor
allem um den Zeugenwert der drei erften Evangelien.
Was in diefer Richtung fowohl über die nicht hinwegzudisputierenden
Schwierigkeiten ihrer Benützung für hifto-
rifche Zwecke, als auch über die Erreichbarkeit einer be-
ftimmten und wefentlich genügenden Ausbeute gefagt
ift, gehört zu dem Verftändlichften und Einleuchtendften,
was man heute lefen kann. Der Laienwelt läßt fich
Befferes kaum in die Hände geben. Beifpielsweife fei
auf die umfichtige Begrenzung des zur Zeit ja viel um-
ftrittenen Quellenwertes des Markus (S. 30f. 33 f. 47 f. 79)
oder, um auch auf einen entlegenen Punkt aufmerkfam
zu machen, auf die Parallelifierung der Evangelienliteratur
mit den in Mifchna und Talmud gefammelten
Erinnerungen an jüdifche Schulhäupter wie Hillel und
Jochanan ben Zakkai (S. 42t. 54. 78) hingewiefen. Ganz
befonders eindrucksvoll geftaltet fich gerade gegenüber
fo vielem Verzicht, zu dem uns eine unbefangene Würdigung
und Verwertung der Quellen nötigt, das fchließ-
lich doch als unauflösbarer Reft bleibende Bild des ge-
fchichtlichen Jefus als des Befreiers der Religion von
alledem wovon er felbft frei war, ,der große Streiter für
Wahrheit und Wirklichkeit, für Schlichtheit und Einfachheit
in der Frömmigkeit' (S. 64). Wir lefen da manchen
fehr erwägenswerten Beitrag zur Würdigung der Religion
Jefu, wie: ,Es gehört zum Grundzug des hiftorifchen Jefus,
der'in feinen echteften Worten, namentlich in feinen
Gleichnisreden, klar heraustritt, daß er die Menfchen-
feele direkt vor Gott fuhrt und feine Perfon dabei ganz
aus dem Spiel läßt' (S. 58).

Straßburg i. E. H. Holtzmann.

und Vervollftändigungen, aber zu keinerlei irgend wefent-
licher Korrektur oder gar Zurücknahme früherer Auf-
flellungen geführt hat, fo daß im wefentlichen heute
noch gilt, was bezüglich der 3. deutfchen Ausgabe (eine
4. erfchien gleichzeitig mit dem Originalwerk) in diefen
Blättern (Jahrg. 1892, Sp. 348 f.) A. Link geurteilt hat.
Um dem gegenwärtigen Stand der Diskuffion einigermaßen
Genüge zu tun, hat der Sohn des Verfaffers, der
jetzige Neuteftamentler in Neuchatel, einige Literaturnachträge
, zumal eine lebhafte Invektive gegen Jean Re-
ville beigefügt; dazu ein Verzeichnis der Namen, welche
fehlen, fowohl unter den Verteidigern (Düfterdieck, Steinmeyer
, Keil, Schanz, Wahle, Bonnet), wie unter den
Gegnern der Echtheit (die angeführten Namen erfcheinen
gelegentlich fpäter). Heute könnten beide Liften noch
erheblich vermehrt werden. Aber darauf wäre ja nicht
viel zu geben, wenn fich nur das Urteil kompetenter
und ,der Höhe der Wiffenfchaft', davon die Vorrede zu
rühmen weiß, entfprechender erwiefe. Damit, daß der
Herausgeber nachträglich noch Bezug auf den Kommentar
von Wahle (1888) genommen hat, ift gerade in der
Hauptfache nichts getan. Glücklicher Weife find das
nicht die einzigen Zutaten, mit welchen er die väterliche
Hinterlaffenfchaft bereichert; fo, wenn er aus Merx
(1897) die Lesarten des finaitifchen Syrers anmerkt und
die Verwandtfchaft derfelben mit dem älteren abend-
ländifchen Text betont. Unverftändlich bleibt, weshalb
die 3. Auflage von Schürers Buch (1898—1901) noch
nicht zugänglich gewefen fein follte bei der Drucklegung
eines Buches, deffen Vorrede vom Juni 1903 datiert. Der
Titel trägt freilich — einer nicht ganz feltenen Unfitte
gemäß — keine Jahreszahl. Durchfchnittlich verletzen
uns die polemifch-apologetifchen Ausfuhrungen Godets

Wernle, Prof. Lic. Paul, Was haben wir heute an Paulus? At_a • 7 . - r. „ T ,

o r u iw j? t * u, u u 1 oc o tv/t etwa ,n die zeit vor 3° bls 5° Jahren. Er kämpft bei-

Bafel 1904, Helbing&Lichtenhahn. (48S.gr. 8.) M.i- fpielSweife viel gegen Reuß und macht Anlehen bei

Luthardt. Manches verdankt er aber auch den fpäteren
Einleitungswerken von B. Weiß und Th. Zahn. Freilich

Die Veranlaffung des Schriftchens ift für den Vertreter
der praktifchen Theologie feine bette Empfehlung,
nämlich der rohe Angriff eines fchweizerifchen Journalisten
auf Paulus, der für das Urteil unterer gebildeten
Kreife' bezeichnend ift. W. (teilt, ohne auf die Theologie
des Apoftels einzugehen, die Perfönlichkeit, feine Reli-
giofität und feinen Charakter dar. Es ift nichts Neues
in der Schrift, aber das Bekannte ift fo klar und fchlicht
gefagt, und die Perfönlichkeit des Apoftels leuchtet fo
hell heraus, daß zumal der im Amt flehende Pfarrer
fich mit diefem Heft befchäftigen follte. Es hilft ihm,
von den ofc fo fchwer verständlich zu machenden Worten

leistet fich felbft der Letztgenannte zuweilen ,certaines
idees tris novatrices' (S. 31), und erst der Sohn Godet
macht in feinen Anmerkungen zum Kommentar einen
herzhaften Gebrauch von feinem Werke. Der Andere
entwertet feinen Glauben an die Gefchichtlichkeit des jo-
hanneifchen Berichtes durch die Art, wie er die Christusreden
zunächst als Eigentum des Evangelisten behandelt.
Auf diefem Punkt genügt daher unferm Verf. auchSanday
nicht (S. 336). Immerhin erhellt fchon aus folchen Angaben
, daß G. wenigstens feine Lefer mit den vorhan-

Pauli in feine uns viel durchfichtigere Perfönlichkeit ; denen Schwierigkeiten bekannt macht, und das unterfchei-
hinunterzufteigen. Wer diefe in Predigt und Unterricht ! det feine zweifellos gefchickt und anständig verfahrende
als Beweis und Organ der Kraft des lebendigen Christus Verteidigung der Tradition vorteilhaft von gewiffen deut-
zu fchildern weiß, wird viele packen, die von den Lehren fchen Werken, die bei größerem Aufwand von Gelehrkalt
gelaffen werden. Daß W.s Schriftchen vielen, die j famkeit es fich doch viel weniger angelegen fein laffen,
Jefus lieben, aber Paulus nicht leiden mögen, zu einer den Lefer zu einem allfeitigen Einblick in die wirkgerechteren
Würdigung des Apostels und zu einem tiefe- siehe Sachlage gelangen zu laffen. Dazu kommen als
ren Verftändnis Chrifti verhelfen kann, wird fie zumal
dem großftädtifchen Seelforger wert machen.

weitere Vorzüge der ätthetifche Takt und die warme
innere Beteiligung des Auslegers an dem, was tr feinen
Evangelisten und diefer wieder feinen Christus fagen
laffen. Auch in diefer Beziehung könnte ich hier nur
wiederholen, was ich bei frühern Anläffen (Theoloeifcher
Godet, Prof. D. F., Commenta.re sur l'evangile de Saint Jahresbericht X, S. 87f. XII, S. 125 f.) weiter ausgeführt
Jean. 4m<: edition, revue par l'auteur. Tome I, Intro- | habe, daß nämlich diefer Kommentar, wenn man von

Heidelberg. Niebergall.

duetion historique et critique. Tome II, Explication
des chapitres I—VII. Neuchatel 1902—1903, Attinger
freres. (XVI, 346 et VI, 533 p. gr. 8.) Fr. 12.50

Der vielgelefenfte unter den neueren Johannes-Kommentaren
ilt wohl der des bekannten Führers der franzöfifch-
fchweizerifchen, auch modern-reformierten Orthodoxie
F. Godet. Zuerfl 1863, fchon 1881 — 85 in 3. Auflage
erfchienen, ift er wiederholt auch deutfeh und englifch überfetzt
worden. Noch kurz vor feinem Tod (29. Okt. 1900)
hatte der Verf. wenigftens dem EinFitungsband eine Re-
vifion gewidmet, die zwar zu mancherlei Verbefferungen

feinem gelehrten Apparat abfieht, eine beredte Darstellung
des christlichen Glaubens liefert, wie ihn der
Ausleger verstanden und vertreten hat, unter durchgehender
Benutzung des vom johanneifchen Evangelisten
gelieferten Anfchauungsmaterials.

Straßburg i. E. H. Holtzmann.