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Ausgabe:

1904 Nr. 14

Spalte:

419-421

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Julius

Titel/Untertitel:

Was die Rechtgläubigkeit in der evangelischen Kirche bedeutet 1904

Rezensent:

Rade, Martin

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 14.

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glauben fchlechthin ableiten läßt, ift ja wieder richtig;
dagegen muß ich es durchaus beftreiten, daß es uns nur
ß.s Freiheitslehre möglich macht, den Glauben an Gottes
Liebe feftzuhalten. Denn bloß als Zuchtmittel läßt fich
das Übel eben nicht rechtfertigen; darüber ftrebte doch
B. felbft fchon in feinem erften Vortrag hinaus.

Endlich der dritte behandelt die Fortdauer nach dem
Tode als wiffenfchaftliches Problem und fucht zunächft
zu zeigen, 1) daß unfre Seele ebensoviel Ausficht auf Fortdauer
hat, als die andern Elemente der Wirklichkeit,
2) daß die Befürchtung, fie möchte zwar fortexiftieren,
aber im Totenreich der Materie verfinken, nichtig ift, weil
diefes Totenreich felbft eine fiktive Größe ift, 3) daß die
aus der Bedeutung des Leibes für das Seelenleben gezognen
Befürchtungen unbegründet find. Ich könnte
zwar auch gegen diefe Ausführungen, namentlich die
erfte und zweite mancherlei einwenden, will aber darauf
hier nicht eingehen, da B. felbft — und das ift wieder
durchaus anzuerkennen — zugibt, daß mit alledem unfre
Fortdauer noch nicht pofitiv garantiert ift. Auch darin
hat er gewiß recht, daß das nur durch den (chriftlichen)
Gottesglauben möglich ift, deffen Beweis daher hier noch
einmal rekapituliert wird — aber nun mit der fchon 1
angedeuteten Ergänzung, daß wir nur unter Vorausfetzung
der Unfterblichkeit an Gottes Liebe glauben können.
So ift der Grundgedanke, wie im erften Abfchnitt, allen
Beifalls wert, nur die Einzelausführung kann wieder nicht j
genügen — auch wenn von der gerade unter jenem Ge-
fichtspunkt vielmehr bedenklichen Annahme einer Seelenwanderung
hier keine Rede mehr ift.

Bonn. Carl Clemen.

Kaftan, Prof. D. Julius, Was die Rechtgläubigkeit in der
evangelischen Kirche bedeutet. Vortrag, gehalten auf der
theologifch-kirchlichen Konferenz der Provinz Brandenburg
am 26. November 1903. Berlin 1904, Georg Nauck.
(22 S. gr. 8.) M. -.50

Julius Kaftan ,ift von Haufe aus ein Orthodoxer und
Pietift; er hat auch niemals aufgehört es zu fein, fondern
bekennt fich freudig zu den idealen Forderungen diefer
Richtungen, Autorität und Weltflucht eingefchloffen. Sie
find ihm unveräußerliche Momente der perfönlichen chriftlichen
Überzeugung geblieben, auch nachdem er fich der
Theologie entfremdet hat, welche in jenen Kreifen die !
herrfchende ift'. So charakterifiert 1889 der Verfaffer fich
felbft (Glaube und Dogma, S. 9), und er wird diefe
Zeichnung heute noch von fich gelten laffen. Er ift in
feiner theologifchen Gefamtarbeit fich treu geblieben.
Eine neue Orthodoxie, ein neues Dogma, eine neue Rechtgläubigkeit
hat allezeit ihm als das eine Ziel vorgefchwebt,
das die Theologie unferer Tage verfolgen muffe. Seine
,Dogmatik' will nichts anderes fein als dies neue Dogma.
Sie will ,das Dogma der Kirche' darftellen, nicht das alte
der griechifchen und römifchen Kirchen, mit welchem
das der lutherifchen Scholaftik fich im Prinzip deckt,
fondern das neue Dogma der neuen Kirche, wie es der
felbftverftändliche Ausdruck des in der Reformation neugeborenen
Glaubens ift, die chriftliche Lehre, wie fie nur
in der evangelifchen Kirche exiftiert, aber in ihr auch
ganz gewiß fo lautet und fo lauten muß. — Was K. fonft
unter dem ,neuen Dogma' verftanden hat, Hellt er in
feinem jüngften Vortrage unter dem Titel der Rechtgläubigkeit
dar. ,Was die Rechtgläubigkeit in der
evangelifchen Kirche bedeutet', fragt er. Daß fie etwas
bedeutet, fetzt er als zugeftanden voraus. Und zwar kann
fie nicht bloß bedeuten: ,die rechte Herzens- und Ge- |
wiffensverfaffung haben Gott und der Welt und den |
Menfchen gegenüber'. Dergleichen Selbftverftändlichkeit
in diefem Zufammenhang hieße Spielerei. Nein, 1) rechtgläubig
ift. wer fich mit dem als beftimmt vorausgefetzten |
Glauben der Kirche in Übereinflimmung befindet (S. 8).

Glauben war und ift in der Kirche der Reformation immer
nur Anerkennung gegebener göttlicher Wahrheit (S. 9),
wie fie in der Schrift und in den evangelifchen Bekennt-
niffen zu finden, diefe als Zeugniffe des Väterglaubens
genommen, nicht als Produkt ihrer Theologie. Die gegebene
Wahrheit wieder einmal in einer feften Lehr-
Ordnung neu zu faffen bleibt die mit dem Begriff der
Rechtgläubigkeit geftellte Aufgabe, auf deren Löfung man
geduldig warten, aber nicht verzichten kann. 2) Lehre
ift aber in der evangelifchen Kirche niemals Objekt des
Glaubens, denn das kann nur Gott fein, Gott in feiner
Offenbarung. Lehre ift Ausdruck und Bekenntnis des
Glaubens, wächft organifch aus ihm hervor, und wird nur
in diefer Bezogenheit auf das perfönliche Leben des
Glaubenden wirkliche Erkenntnis. (So K. fchon 1879:
Die Pred. des Ev. im mod. Geiftesleben.) Infofern bleibt
die Rechtgläubigkeit für jeden Chriften ein ideales Ziel,
das er immer nur annähernd erreicht. 3) Nichtsdefto-
weniger müffen wir in der evangelifchen Kirche auf eine
nach Schrift und Bekenntnis ,bemeffene' Rechtgläubigkeit
den größten Wert legen. Die Forderung ,eigenen' Glaubens
bedeutet nicht die Erhebung des einzelnen Glaubens-
Subjektes zur oberften Autorität; fondern die maßgebenden
Inftanzen des religiös-fittlichen Lebens, wie des geiftigen
überhaupt, find in der Gefchichte zu fuchen: wir leben
von den großen Überlieferungen der Menfchheit, in diefem
Fall von Bibel und Reformation. — Diefe Darlegungen
find von immer wiederkehrenden Verficherungen durchzogen
, daß es fich nicht darum handle, Rechtgläubigkeit
als Schranke aufzurichten. Umfo lieber hört man dem
Redner zu. Aber leider erfährt man S. 20, daß bis dahin
nur die Rechtgläubigkeit des evangelifchen Chriften be-
fchrieben ift, daß dem evangelifchen Geiftliehen aber
noch eine andere zuzumuten fei. Was nun darüber auf
den letzten zwei Seiten des Vortrages gefagt wird, ift gar
zu kurz. Und doch hebt hier erft recht eigentlich das
Intereffe an, hier erft wird die Sache brennend. Die
Schwierigkeit wird auch dadurch nicht von K. überwunden
, daß er den Amtsträgern das Gewiffen fchärft. Den
Leichtfertigen zwar gönnt man das, aber das Problem
beginnt erft bei den Gewiffenhaften. Und die wiederholte
Erklärung, daß eine Lehrordnung fein müffe, aber
freilich erft von der Zukunft erwartet werden könne,
dürfte gerade denen nichts nützen, denen die Frage
fchwer auf der Seele laftet. So können diefe zwei Schlußfeiten
niemanden befriedigen.

Aber zum Ganzen möchte ich noch ein Bedenken
äußern. Wozu diefe neue Einführung des Terminus
,Rechtgläubigkeit'? Welchen praktifchen Wert hat er?
welchen wiffenfehaftlichen? Ich fürchte, er wird nur verwirrend
wirken, wie der Ausdruck ,neues Dogma' verwirrend
gewirkt hat. Unfer Glaube muß ,recht' fein, fo
wie wir rechte Kinder fein follen gegenüber dem rechten
Vater im Himmel. Er foll auch .richtig' fein im Unter-
fchied von allerlei irrigem Glauben auf Erden. Und es
muß .richtige Lehre' da fein, teils ihn erzeugend, teils
von ihm immer wieder erzeugt. Ich bin gern einverftan-
den damit, daß es in der evangelifchen Kirche keine
wichtigere Angelegenheit gibt, als die Lehre. (So K.
fchon 1879.) Sagen wir für das, um was es fich handelt,
,reine Lehre'! Wir gebrauchen dann dafür einen ebenfo
ehrwürdigen, wie jeder praktifchen und wiffenfehaftlichen
Vertiefung fähigen Ausdruck. (Vgl. über den Begriff
,rein' Cohen, Logik des reinen Erkennens S. 4fr.) Die
Aufgabe einer Scheidung des Wahren vom Irrigen, des
Wefentlichen vom Unwefentlichen, des Bleibenden vom
Vergänglichen ift klar geftellt. Die Überlieferung kommt
nicht zu fchlecht weg, dafür forgt das Wefen der chriftlichen
Religion, aber es fallen alle falfchen Befitztitel.
Und Lehre: was fehlt denn an diefem Wort, das in
dem Wort /Dogma' gewinnbringend hinzu käme? Dogma
ift nach K.: Lehre, die gelten foll. Ja, gibt es eine Lehre,
die nicht gelten foll? oder ift Dogma etwa eine Lehre,