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Ausgabe:

1904 Nr. 13

Spalte:

394

Autor/Hrsg.:

Giessler, Willy

Titel/Untertitel:

Das Mitleid in der neuen Ethik mit besonderer Rücksicht auf Fr. Nietzsche, R. Wagner u. L. Tolstoi 1904

Rezensent:

Ritschl, Otto

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393

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 13.

394

faffung, wie fie in feiner fcholaftifchen Weife z. B. Brentano
vertritt, oder umgekehrt einer lediglich fubjek-
tiviftifchen Löfung, wie fie bisher am konfequenteften
Ehrenfels durchgeführt hat. Der Verf. aber fchwankt
noch zwifchen beiden möglichen Standpunkten hin und
her. Daher tragen denn auch feine kritifchen Ausführungen
mehr oder weniger das Gepräge der Willkür.

Auf andere anfechtbare Anflehten des Verf. einzugehen
, fehlt es an Raum. Doch darf ich zum Schluß
wohl noch den Eindruck ausfprechen, daß die hervorgehobenen
Mängel der vorliegenden Arbeit zum guten
Teil daher rühren, daß der Verf., fo fleißig er fleh auch
fonft in der Literatur umgetan hat, Schleiermachers ein-
fchlägige Leiftungen noch nicht genügend ftudiert zu
haben fcheint. Die Reden über die Religion, diefes
grundlegende Buch für die gefamte wiffenfehafdiche Arbeit
an dem Problem der Religion, zitiert er nur einmal,
und zwar nicht in der erften, fondern in der 7. Auflage.
Ferner hat er den Begriff des fchlechthinigen Abhängigkeitsgefühls
als des lediglich abftrakt gemeinten elementaren
und zugleich charakteriftifchen Faktors der
fonft auch noch durch andere Faktoren konftituierten
wirklichen Frömmigkeit noch nicht richtig erfaßt (vgl.
dazu meine Abhandlung über Schleiermachers Theorie
von der Frömmigkeit in den Theologifchen Studien,
B. Weiß gewidmet, 1897, bef. S. 152). Ferner ift die
S. 63 Schleiermacher aufgebürdete Konfequenz, daß das
religiöfe Gefühl .fpontan, ohne Mitwirkung anderer
pfychifcher Elemente unter direkter Einwirkung der
Gottheit' entftehe, nach den Ausführungen fowohl der
dritten Rede wie der Glaubenslehre § 33 unrichtig, da
es nach Schleiermachers Darlegungen zur Auslöfung der
fpezififch religiöfen Leiftungen des fchlechthinigen Abhängigkeitsgefühls
zuvor ftets äußerer Erregungen des
finnlichen Selbftbewußtfeins bedarf.

Bonn. O. Ritfchl.

Schmitt, Kaplan Georg, Vernunft und Wille in ihrer Beziehung
zum Glaubensakt. Augsburg 1903, Th. Lampart.

(128 S. gr. 8.) M. 2.—

,Die hier entwickelte Auffaffung des Glaubensaktes
wird'jeder Forderung gerecht, welche Vernunft, Schrift
und Kirche in diefer Hinficht (teilen. Sie fchließt den
Rationalismus, Semirationalismus und Hermefianismus
ebenfo aus, wie den Fiducialismus, den Traditionalismus,
Fideismus, extremen Supranaturalismus, die Theorien des
Gefühls- und Poftulatsglaubens. Innere Vorausfetzung
des Glaubens ift das scio cui credidi, das credere felbft
ift foweit möglich eine fides quaerens intellectum. Subjekt
des Glaubensaktes und folglich auch des Glaubenshabitus
ift der Wille. Das bewegende Prinzip des
Glaubens ift die den Willen erhebende Glaubensgnade.
Das Materialobjekt des Glaubens ift Gott {credo Deum),
letzter Erkenntnisgrund für die den Glauben bedingende
intellektuelle Zuftimmung ift wiederum Gott (credo Ded),
Zuftimmungsmotiv für den Willen, alfo eigentliches
Glaubensmotiv, ift ebenfalls Gott und nur Gott (credo
in Deum). Hieraus ergeben fleh die Vernünftigkeit, Freiheit
, Unmittelbarkeit, Lbernatürlichkeit, über alles
gehende Entfchiedenheit und Göttlichkeit des Glaubens.
Diefe rationabiliflifch-voluntariftifche Auffaffung des
Glaubens ift alfo die „gewaltige Zauberin", die „der Verwirrung
bunten Verftrick" löft und „das Zwiefpaltige
zwingt zum Verein". Diefe Auffaffung ift es auch, welche
jedes Bedenken prinzipiell zerftört, das vom Standpunkt
der Perfönlichkeit, der Wiffenfchaft und des Fortfehritts
gegen den Katholizismus erhoben werden kann; höchfte
Selbftändigkeit des Intellekts in der Erkenntnis der Wahrheit
, höchfte Hingabe des Willens an die erkannte Wahrheit
: das ift das Ideal des katholifchen Glaubens. Hier
find Dogmatismus und Kritizismus, Objektivität und Subjektivität
, Integrität der Glaubenslehre fowohl wie der
Glaubensüberzeugung, die fleh fonft, in ftarrer Orthodoxie
und dogmenlofem Liberalismus, feindfelig gegenüber-
ftehen, harmonifch vereinigt. Die intellektuelle Fundamentation
des Glaubens fordert Wiffenfchaft und
Forfchung zur Gewinnung wie zur Erhaltung und Be-
feftigung des Glaubens, die willentliche Anerkennung und
Einfügung des Erkannten in das Syftem der Glaubensüberzeugung
fichert und bewahrt die einmal gewonnenen
Wahrheitswerte' (S. 124f.). Diefes von dem Verf. dargebotene
Refume charakteriflert den Inhalt feines Buches
beffer, als es die eingehendfte Rezenfion tun könnte.
Hinzuzufügen ift nur, daß die Beweismethode diefer
katholifchen Vermittlungstheologie ganz fcholaftifch ift.

Bonn. O. Ritfchl.

Giessler, Dr. Willy, Das Mitleid in der neueren Ethik mit

befonderer Rückficht auf Fr. Nietzfche, R. Wagner
und L. Tolftoi. Halle a. S. 1903, C. A. Kaemmerer
& Co. (IV u. S. 7—178 gr. 8.) ~ M. 2.—

Diefe Monographie fcheint eine erweiterte Doktor-
differtation zu fein. Sie ift mit ausgebreiteter Belefenheit,
anerkennenswertem Fleiß und maßvollem Urteil verfaßt.
Wen die Gefchichte des Mitleids in der Philofophie feit
Descartes intereffiert, wird in dem Buche ein brauchbares
Repertorium finden. Die Korrekturen hätten von
dem Verf. etwas forgfamer gelefen werden dürfen.

Bonn. O. Ritfchl.

Drews, Prof. D. Paul, Die Predigt im 19. Jahrhundert. Kri-
tifche Bemerkungen und praktifche Winke. (Vorträge
der theologifchen Konferenz zu Gießen. 19. Folge.)
Gießen 1903, J. Ricker. (VI, 59 S. gr. 8.) M. 1.—

In diefem Vortrag hat Drews einen feinen Beitrag
zur Homiletik geliefert; an ihm kann man recht ftudieren,
wie das Praktifche in ihr doch aufs innigfte mit dem
Hiftorifchen verknüpft ift. Diefes fleht hier im Mittelpunkt
des Intereffes, aber durchleuchtet von prinzipiellen An-
fchauungen und begleitet von praktifchen Ergebniffen.
Mit kundiger und fehr glücklicher Hand greift D. aus der
unüberfehbaren Maffe des Stoffes, den fein Thema darbietet
, einen Punkt heraus, um an ihm die Wandlungen
des homiletifchen Wefens im Laufe des 19. Jahrhunderts
zu illuftrieren: den Predigtgegenftand. Es ift nun höchft
intereffant, zu verfolgen, wie diefer, nachdem ihn der
Pietismus möglichft allgemein gefaßt hat, fleh unter den
Händen des Rationalismus und Supranaturalismus fpezia-
lifiert, von der Mitte des Jahrhunderts an wieder ins Allgemeine
übergeht, um in der Neuzeit wieder aufs neue
fleh dem Speziellen zuzuwenden. Parallel mit diefer Bewegung
geht die andre, daß bei Allgemeinheit des Pre-
digtgegenflandes der Text mit feinem ganzen Inhalt in
den Vordergrund tritt, während er bei feiner Spezialifierung
an Bedeutung verliert, jedenfalls nicht mehr den Anfpruch
auf .Erfchöpfung' erhebt. Eine Sonderflellung nimmt —
auch hier ein Mann von einziger Größe — Schleiermacher
ein, der übrigens ausgezeichnet charakteriflert ift. Diefer
gefchichtliche Gang wird nun fo fein und lehrreich, an
der Hand zahlreicher konkreter Beifpiele aus der Predigt-
gefchichte dargelegt, daß man das Schriftchen mit dem
größten Vergnügen und Intereffe lieft, fofern man wenig-
ftens an Solidität auch in den praktifch-theologifchen
Fächern feine Freude hat. Durch folche Unterfuchungen
wird die homiletifche Theorie ungemein gefördert. Die
Gründe und die Folgen des mannigfachen Wechfels werden
fo einfichtsvoll und gerecht dargelegt, die Behauptungen
und Folgerungen find fo maßvoll und befonnen
gehalten, daß man — wenigftens ift das bei dem Referenten
der Fall — keinen Widerfpruch fleh regen fühlt,