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Ausgabe:

1904 Nr. 12

Spalte:

370

Autor/Hrsg.:

Kutter, Hermann

Titel/Untertitel:

Das Unmittelbare. Eine Menschheitsfrage, dargestellt 1904

Rezensent:

Otto, Rudolf

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Seite 1

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369

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 12.

3/0

Hensel, Prof. Dr. Paul, Hauptprobleme der Ethik. Sieben
Vorträge. Leipzig 1903, B. G. Teubner. (VI, 106 S.
gr. 8.) M. 1.60

Die kleine Schrift hat den Wert einer ethifchen Prin-
zipienlehre oder richtiger einer populär formulierten Einleitung
in die Ethik. Sie fetzt fich aus heben Vorträgen
zufammen, die ungefähr in der beim Druck ihnen erteilten
Form zu Mannheim gehalten worden find auf Ver-
anlaffung des dortigen Vereins für Volks-Hochfchulkurfe.

Die drei erften find hiftorifchen und kritifchen Inhalts.
Sie befchäftigen fich mit Beftrebungen, die daraufgerichtet
find, die fittlichen Normen aus der Beobachtung von Tatfachen
abzuleiten, nämlich mit denjenigen des Utilitaris-
mus und des Evolutionismus. Als Vertreter des erfleren
erfcheint Jeremias Bentham, der das ,unfchätzbare Verdienft
grandiofer Einfeitigkeit' in der Durchführung feiner Prinzipien
hat. Als Repräfentant des zweiten wird Herbert
Spencer genannt. Beider Syfteme werden in lichtvoller
Darfteilung befchrieben, um dann einer feinen und humorvollen
aber ablehnenden Beurteilung unterzogen zu werden.

Mit dem vierten Vortrag beginnt der thetifche Teil.
Der Autor wendet fich der .Gefinnungsethik' zu. Er verwirft
jeden Verfuch — auch den von Kant felbft unternommenen
—, das Sittliche durch Beftimmungen materialer
Art und anders als durch formale Merkmale zu
kennzeichnen und kommt zu dem Ergebnis, daß das
Wefen desfelben ,in der mit einem Pflichtgebot überein-
ftimmenden Willensrichtung' zu finden fei. Zu weiterer
Erläuterung dient dann noch eine Auseinanderfetzung
über das Verhältnis des Ethifchen zur Rechtsordnung und
zur Sitte fowie ein an originellen und intereffanten Bemerkungen
reicher Abfchnitt, der neben dem Sittlichen

Themas von felbfl. Um nur ein Bedenken anzuführen:
ift es fo ohne weiteres und ohne Einfchränkung richtig,
daß auch die ,religiöfe' Betrachtung der Wirklichkeit
eine folche ,nach der Freiheit' ift? Das Beifpiel großer
Heroen der Frömmigkeit fpricht nicht eben dafür.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Kutter, Pfr. Lic. Hermann, Das Unmittelbare. EineMenfch-
heitsfrage, dargeftellt. Berlin 1902, G. Reimer. (IV,
342 S. gr. 8.) M. 6.—

Das ftark affektvolle, mehr rhapfodifche als ftreng
theoretifche Buch gehört vielleicht nicht ganz in den
Rahmen diefer Zeitfchrift. Doch offenbart es zugleich
methodifche Schulung in der Gedankenbildung und inten-
five und feinfinnige Arbeit auch an den theoretifchen
Problemen. Ein Motto Sendlings leitet es ein und fchon
der Titel läßt vermuten, was der Inhalt vollauf beftätigt:
daß wir es zu tun haben mit einem Werke der jetzt
allerorten wieder aufblühenden Neuromantik, die hier dem
Chriftentume fich innigft verfchwiftert. In bisweilen hinreißender
Sprache wird die .Menfchheitsfrage' des Unmittelbaren
erwogen, mit dem Schwung und auch mit
den elaftifchen und fchwebenden, den allgemeinen und
vieldeutigen Begriffen des älteren romantifchen Philofo-
phierens. Und der Erfolg des Buches und feiner Predigt
ift mehr eine lebhafte Erregung des Gemütes, als eine
deutliche Belehrung über die Wege, die einzufchlagen
find, um das Verlangen der Zeit und der Menfchheit zu
füllen. — Leben fuchen wir, Leben als Glück, als Ideal,
Leben nicht in taufend Vermitlungen, in vielen Künften, im
Weiten, in Vergangenheit oder Zukunft, fondern in Un-
, mittelbarkeit und Wahrheit. Das unmittelbare Leben
ein Außerfittl.ches ein Unfitthches und ein radikal Bofes | aber ift uns verloren. Es ift verloren in der Welt des

ftatuiert, ohne jedoch dies letztere ,für eine dem Men
fchen urfprünglich zukommende Eigenfchaft' auszugeben.

Der abfchlkßende Vortrag deutet zunächft an, daß
die allmähliche Entftehung und die hiftorifche Entwicklung
der ethifchen Gebote deren Normativität und Autonomie
keinen Abbruch tut, und führt ferner aus, daß

Gedankens (Abfchnitt I), wo die Reflexion zwifchen uns
und die Dinge getreten ift, die uns hindert, jenes urfprüng-
liche Verhältnis mit ihnen einzugehen, deffen Vorhanden-
fein fich uns in den felbftvergeffenen Momenten unteres
Lebens überrafchend oft und mit unmittelbarer Evidenz
aufdrängt. Dem intuitiven Erfaffen, der intellektualen

der Kulturfortfchritt in zweifacher Hinficht fittlich bedeut- Anfchau6ung Schellings und Scho^

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fam fei, einmal, fofern er die — freilich an fich morahfeh
indifferente — Ausbildung der Perfönlichkeit begünfügt,
und dann, indem er das ,Material der Pflichterfüllung',

Wort geredet. — Und verloren ift das unmittelbare Leben
im Gebiete des Willens. Darin aber befteht das Böfe.

und dann indem er das .Material aer rmcrueriuiiung-, £s jft die Unmittelbarkeit, zu fich felber in Gegenfatz

das heißt die Verfuchung mehrt. Endlich wird das Fre.^ ratend. Durch dasfelbe lft auch der Wille aus dem un-

heitsproblem durch die Lofung entfch.eden daß ein und j mittelbaren zum .reflektierten' geworden, in den Gegen-

derfelbe Wirklichke.tsinhalt, wiffenfchafthc betrachtet, als fatz VQn Qut und'Böfe getreten und fo der Moral unter-

kaufal determiniert angefehen werden muß normativ ge- w def Be ngach der urfprüngiichen Unmittel-

wertet, als frei zu fchatzen ift, und in d.efem Zufammen- barkejt hjn, go fft und ^ ß ^ Religion>

ein tranfitorifches, dem Willen felber fremdes. Das

hang darauf hingewiefen, daß die fittliche Beurteilung der
Dinge zu einem Abfchluß in einer religiöfen Weltan-
fchauung drängt.

wahre Leben, das Leben im Unmittelbaren, ift jenfeits
von Moral und Religion. Es ift erfchloffen in Chrifto.

Das Buch ift frifch und flott, ja ftellenweife geiftreich n"" „ ift „ cht.andere, als LrT «-nrntc,
. , . , , .,. r', ' . ,. . . , t „. . .. Uenn es 11t nients anderes als das Leben im lebendigen

gefchrieben - man langweilt fich nicht bei der Lektüre, | GoU (Das Evangelium ift nicht Moral oder Religfon,
im Gegenteil - und durfte ein zutreffendes Bild geben ' fondernV die endgültige Überwindung beider, finkt aller'
von der Auffaffung der Ethik, die in der neueren Kan-
tifch-Fichtefchen Philofophie angezeigt und möglich ift.
Unter den Einzelheiten wird für den Theologen noch von
befonderm Intereffe fein die Bemerkung über das Verhältnis
Kants zur Reformation und die andere über den

dings im Chriftentum alsbald zu beiden wieder herunter.)
Die Gefchichte der Menfchheit und ihr Sein ift Rückkehr
zum unmittelbaren Leben. Und der in diefer Richtung
am mächtigften vorantreibende Fktktor ift in heutiger
Zeit der fozialiftifche Gedanke, die fozial-demokratifche
Einfluß des Chnftentums auf die Entwicklung des Sltt- B _ Diefen letzten Gedanken hat der Verfaffer

liehen. Es bedeutet .auch hier eine große und folgen- , h* * d Werke Sie müff ;

fchwere Umwandlung. Das Unendliche wird zum Wert- 1
begriff; alles Endliche wird nur foweit gewertet, als es
fich als Vorftufe zu diefem überragenden Wert anfehen
läßt'. Aber auch das ift von Intereffe, daß aus der ganzen
Art der Behandlung deutlich erhellt, wie die Wiffenfchaft Baumgarten,Prof.D.Otto,Predigt-Probleme. Hauptfragen
auf dem Gebiet der Ethik nicht zu produzieren, fondern der heutigen Evangeliumsverkündigung. Tübingen
nur zu regiftrieren und zu analyfieren vermag: eine Auf- j Q B. Mohr. (IV, 150 S. gr. 8)

gäbe, die freilich nicht immer in fo fauberer und durch- J „ «

fichtiger Arbeit erledigt, wird wie feitens des Verfaffers. M- ^ Seb- M- 2-50

Daß es dabei nicht an Äußerungen fehlt, die den Wider- Unter .Predigt-Problemen' verftehtB. eine Anzahl von

fpruch herausfordern, verfteht fich bei der Natur des Schwierigkeiten, von denen fich ein modern denkender

geführt.

Göttingen. R. Otto.