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Ausgabe:

1904 Nr. 12

Spalte:

365-366

Autor/Hrsg.:

Weis, L.

Titel/Untertitel:

Kant: Naturgesetze, Natur- und Gotteserkennen. Eine Kritik der reinen Vernunft 1904

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Seite 1

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365

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 12.

366

Kant S. 264 und .Kantftudien' IV, S. 430), fondern auch
Otto Pfleiderer, mit dem fich Dorner (S. 439) doch fonft
verwandt fühlt, in feiner Rel.-Phil.3 S. 448. Mit diefer
Wendung zur Metaphyfik im Sinne Hegels hängt auch
die Einfeitigkeit der religiöfen Pfychologie Dorners zu-
fammen. Der religiöfe Trieb ift wefentlich Einheitstrieb
und zwar trotz aller anderen Wendungen, die hie und
da hervortreten, im intellektualiftifchen Sinne. Das be-
weifen die Äußerungen über den Glauben S. 252, 259, 385
mit aller Klarheit, trotzdem, daß S. 404 — ein Anlauf,
der gar nicht weiter zur Geltung kommt! — der relativ
fekundäre Charakter der Gottesvorftellung im Verhältnis
zum innerlichen Wefen der Frömmigkeit ausgefprochen
wird. Neben dem intellektualiftifchen Charakter kommt
dann vorzugsweife auch noch in der Schilderung der idealen
.Religion der Gottmenfchheit' der äfthetifche Charakter
derfelben zur Sprache; beides aber deutet auf einen Dualismus
hin, der dem zwifchen den Straußfchen ,Wir', den
Efoterikern, den philofophifch- Religiöfen, den kontemplativen
und äfthetifch-genießenden Geiftesariftokraten
einerfeits und der Volksreligion, den Exoterikern des
gewöhnlichen Bewußtfeins, ,in denen der Geift feiner felbft
noch nicht mächtig geworden ift', wie es oft heißt, anderer-
feits gleicht wie ein Ei dem andern. Für diefe Efoteri-
ker, diefe neue Kultusgemeinfchaft, die Dorner u. a. S. 402
fo fchön befchreibt, wie nur Strauß feine ,Wir', hat unfer
Religionsphilofoph, wie es fcheint, feine Vorträge gehalten,
die nun in den ,Grundproblemen' vorliegen und über
deren Zweck und befondere Art im Unterfchied von dem
.Grundriß' das Vorwort genügend Rechenfchaft gibt.

Weinsberg. Auguft Baur.

Weis, Prof. Dr. L., Kant: Naturgesetze, Natur- und Gottes-
erkennen. Eine Kritik der reinen Vernunft. Berlin
1903, C. A. Schwetfchke & Sohn. (VIII, 257 S. gr. 8.)

M. 3.60

Gewiß ein gut gemeintes Buch, ein Denkmal lebhaften
Intereffes für evangelifches Chriftentum und
eifrigen Bemühens um die Auseinanderfetzung zwifchen
Religion und Wiffenfchaft. Aber mindeftens für den Be-
richterftatter kein erfreuliches Werk. Denn fo kompliziert
der Titel ift, fo wenig überfichtlich ift auch der
Inhalt. Zwar erinnern die pofitiven Urteile, die vorgetragen
werden, vielfach an diejenigen, die der Verf, in
feiner Schrift .Erkennen und Schauen Gottes. Beitrag
zu einer neuen Erkenntnislehre. Berlin, Schwetfchke,
1898' ausgeführt hat. Aber der Gedankengang wird nicht
erhellt, fondern verdunkelt und verdeckt durch die
polemifchen Auseinanderfetzungen mit E. von Hartmann
, Schopenhauer, dem Katholizismus, dem Konfeffio-
nalismus, den Konfequenzen der Infpirationstheorie, vor
allem aber und insbefondere mit der Kantifchen Philo-
fophie.

Die Dispofition ift etwa folgende. Ein erfter Teil
befchäftigt fich wefentlich mit der transzendentalen
Äfthetik und Analytik. Er proteftiert gegen die Kategorienlehre
, und zwar ift es fpeziell der apriorifche und
fubjektive Charakter der Denkformen, aber auch in ge-
wiffem Sinn der Anfchauungsformen, der Widerfpruch
erfährt. Gegen die .Kritik der reinen Vernunft' wird
immer wieder die .Allgemeine Naturgefchichte und Theorie
des Himmels' aufgerufen und ausgefpielt — als ob diefe
beiden Schriften des Königsberger Philofophen überhaupt
kommenfurabel wären.

Ein zweiter Teil unterzieht die transzendentale
Dialektik einer abfprechenden Beurteilung. Er fucht zu
zeigen, daß Kant nicht in dem Maße der .Zermalmer'
aller Metaphyfik gewefen fei und habe fein wollen, wie
vielfach angenommen werde. Unter den Einzelheiten
ragen hervor die in breiter Ausführung begründete Behauptung
, daß die Seele nicht nur mit der Kritik der

reinen Vernunft als eine denkende, fondern ebenfo als
eine wollende und fühlende aufzufaffen fei, und die Ablehnung
der gegen die Gottesbeweife gerichteten Widerlegung
.

Im dritten und letzten Teil treten die eigenen An-
fchauungen des Autors am deutlichften zu Tage, die in-
deffen wiederum in ftetiger Diskuffion mit Kant reproduziert
werden. Es wird feftgeftellt, daß fich auf empirifchem
Wege objektive Naturgefetze eruieren laffen, und daß
diefe auf einen Schöpfer als ihren Urheber zu fchließen
erlauben. Es wird dargelegt, daß mit Hülfe der auf
Jefus Chriftus zurückgehenden religiöfen und fittlichen
Erfahrung des weiteren die Exiftenz Gottes begründet
werden könne. Zugleich wird eine Lanze gebrochen
für den engen Zufammenhang des Glaubens
und der Moral, für das Recht des Gefühls, für die Wirklichkeit
einzelner biblifcher Wunder und anderes.

Wirkt die Form der Darftellung oft ftörend, fo befremdet
erft recht und häufig genug der Inhalt. Man wird
nicht zu herb urteilen, wenn man ausfpricht, daß der Verf.
Kant vielfach gröblich, ja völlig mißverftanden habe. So,
wenn er die Behauptung eines apriorifchen und fubjek-
tiven Charakters der Naturgefetze mit der Leugnung
jedes objektiven Werts derfelben identifiziert; oder gar,
wenn er durchblicken läßt, daß der Königsberger
Philofoph die empirifche Bafis der Naturwiffenfchaft verkenne
. An einer Stelle (S. 173) fcheint der Autor felbft
feinen Fehler einzufehen: ,In den einleitenden Worten fagte
ich, Kants Kritik fei mir zumal der Kategorien wegen wertlos
, feine Gottesbeweife dagegen feien mir ein Widerfpruch
gegen den Schluß feiner Kritik gewefen. Ich
überfah damals, daß diefe Kritik aus zwei Teilen be-
fteht, einem verneinenden, worin die reine Vernunft, welche
erfahrungslos, alles aus reinen Begriffen a priori entwickeln
zu können vermeint, verworfen wird, und einem
bejahenden, in welchem die Vernunft der Erfahrung
Rechnung trägt. Infolge davon überfah ich auch, daß
der bejahende Teil fogar den Weg zur wahren Naturwiffenfchaft
zeigt'. Unter dem Einfluß diefer verfpäteten
Erkenntnis hätten die erften 172 Seiten geftrichen oder
umgearbeitet werden müffen: was leider nicht gefchehen
ift. Aber auch fonft kommen wunderliche Äußerungen
vor. Was foll man zu Sätzen fagen, wie nachftehende:
,Daß Raum und Zeit Formen der Änfchauung fein follten,
erfchien mir felbftverftändlich. Kant felbft brauchte ja
zu feiner Theorie des Himmels einen unendlichen Raum
für die unendlichen Weltfyfteme und er brauchte Millionen
und Abermillionen von Jahren zur Bildung eines Welt-
fyftems'! Oder: ,Kant unterfcheidet eine reine, nur mit
Begriffen, nicht mit Erfahrungen arbeitende, eine er-
fahrungslofe, theoretifche oder fpekulative Vernunft
und eine mit Erfahrungen arbeitende, eine erfahrungsfrohe
und erfahrungsreiche, die praktifche Vernunft.
Diefe letztere nennen wir die Vernunft der Wiffenfchaft
'. Auf S. 165 heißt es: ,Ich faffe die folgenden
Abfchnitte unter diefer Jberfchrift (Aus der Welt der
Erfahrung) zufammen, da nach Kant Religion und Sittlichkeit
zur Erfahrungswelt gehören, und wir nun zu betrachten
haben, wie man nach Kant in diefer Erfahrungswelt
fowohl zur Naturerkenntnis als auch zur Gotteserkenntnis
gelangt'. Auf Seite 187: ,In diefem Sinne ift
die Naturwiffenfchaft das Werk der praktifchen Vernunft
' ufw.

Wenn es Rezenfentenpflicht ift, auch das Gute herauszuheben
, wo es fich finden läßt, fo fei wenigftens auf
die verftändnisvollen Ausfagen über den transnomiftifchen
Charakter der chriftlichen Moral hingewiefen. Aber man
muß lange fuchen, um auf folche Stellen zu flößen, die
man mit ungemifchter Freude lieft.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.