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Ausgabe:

1904 Nr. 11

Spalte:

329-330

Autor/Hrsg.:

Lindner, Theodor

Titel/Untertitel:

Weltgeschichte seit der Völkerwanderung. 3. Bd 1904

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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329

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. II.

330

wird der Satz gedeckt (S. 237), daß es merkwürdigerweife
unter den Hofleuten früher (? frühe) viele Chriften gab;
Apg. 19, in wird (S. 408) nach Smyrna, ftatt nach Ephefus
gefetzt. Lieft man folche Proben von Quellenbenützung, j
fo hat man wohl ein Recht, inbetreff der Sorgfalt des
Verfaffers etwas mißtrauifch zu werden. Ich führe auch
das katholifche Bild, das fich der Verf. von Chriftus gemacht
hat, und feinePolemik gegen proteftantifche Autoren
und ihr Chriftusbild zum guten Teile auf die Flüchtigkeit
zurück, die es nicht geftattet, den Dingen ernftlich und
nachhaltig ins Auge zu fehen. Dabei ift der Verf. durchaus
gemäßigt; er gefteht auch zu, daß Chriftus außerhalb
der katholifchen Kirche zu finden ift (S. 473), aber nicht
der ganze Chriltus; es hat faft den Anfchein, als ob
Chriftus in der katholifchen Kirche nur deswegen ganz
zu finden fei, weil es dort Afketen gibt. Aber auf die
Schranken, die dem Verf. feine Konfeffion gezogen hat,
will ich nicht weiter eingehen. Ich möchte die Erwartung
ausfprechen. daß der nächfte Band die Spuren einer allzu
eiligen Arbeit nicht erkennen laffe.

Halle a. S. Gerhard Ficker.

Lindner, Prof. Theodor, Weltgeschichte seit der Völkerwanderung
. In neun Bänden. Dritter Band: Vom
dreizehnten Jahrhundert bis zum Ende der Konzile.

, Die abendländifch-chriftliche Kultur. Anfänge einer
neuen Zeit. Stuttgart 1903, J. G. Cotta'fche Buchhand- j
lung Nachfolger, G. m. b. H. (X, 592 S. gr. 8.) M. 5.50

Der dritte Band von Lindners Weltgefchichte ift von
den bisher erfchienenen für den Theologen der intereffan-
tefte. Zugleich kommen die Refultate der eigenen
Quellenftudien des Verfaffers am beften zur Geltung.
Er enthält 3 Bücher, fchildert im erften Buche den Kampf |
der letzten Staufer mit dem Papfttum, im 2. die abend- I
ländifche Kultur im dreizehnten Jahrhundert; das 3. Buch
ift überfchrieben: Der Niedergang der politifchen Macht
der Päpfte; die europäifchen Staaten; und führt die Ge- |
fchichte bis zum Ausgange der Konzilsperiode, alfo etwa !
bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Es ift erklärlich
, daß für den behandelten Zeitraum neue Tatfachen
oder überrafchende Kombinationen nicht geboten
werden konnten; auch fehlt der Darftellung in etwas das j
dramatifche Leben, das anderen Darftellungen der Ge-
fchichte des Mittelalters eigen ift. Aber ich möchte j
gerade in der nüchternen Verftändigkeit und Verftänd-
lichkeit und in dem nüchternen Urteile über Perfonen
und Sachen einen Vorzug des Werkes erblicken. Wie
weit ift doch diefe Darftellung entfernt von der roman-
tifchen Schätzung des Mittelalters! Wie weit aber auch
von jener Geringfehätzung, mit der humaniftifche Kreife
das Mittelalter beurteilten! Es ift hier wirklich Ernft gemacht
mit der Beobachtung, daß das Mittelalter pofitive
Arbeit für die neue Zeit geleiftet hat. Und daß das |
dreizehnte Jahrhundert von einfehneidender Bedeutung 1
gewefen ift, kommt zu voller Geltung. Wie der Verfaffer
darüber denkt, fagt er felbft am beften in der Einleitung
(S. IV): ,Die mit dem dreizehnten Jahrhundert anhebende j
Wandlung kam erft fpät zu einem vollen Abfchluß. So tief
und für die Zukunft unendlich wirkfam die Reformation j
einfehnitt, auch fie fland nach rückwärts und nach vorwärts j
noch ganz in dem einmal gegebenen Gange. Erft das i
fiebzehnte Jahrhundert brachte allfeitige Löfungen und in ]
feiner zweiten Hälfte eröffnete fich kirchlich, religiös, poH-
tifch, wiffenfehaftlich, wirtfehaftlich, fozial, fittlich eine neue
Periode'. Ich kann mich in diefe Betrachtungsweife nicht
finden; aber darüber werden uns die folgenden Bände j
belehren. Auch in der Beurteilung der mittelalterlichen
Kirche verhehle ich nicht, einen andern Standpunkt einzunehmen
, als der Verfaffer. Man kann die Verdienfte j
der mittelalterlichen Kirche noch viel höher würdigen,
als es in diefer Weltgefchichte gefchieht; aber man muß, j

fcheint mir, deutlicher zur Erkenntnis bringen, daß fie
fich zu einer dem Wohle und dem Fortfehritt der Menfch-
heit fchädlichen Inftitution entwickelt hatte. Sätze wie
die auf S. 558 befindlichen: ,Die mittelalterliche Kirche
war einft ein Bedürfnis gewefen. Sie hatte ihre Zwecke
erfüllt und dadurch verlor fie, wie das ftets in der Ge-
fchichte geht, ihre Berechtigung' fcheinen mir zu wenig
zu fagen. Dagegen ift die Schilderung des mittelalterlichen
Papfttums eine zutreffende.

Der vorliegende Band vereinigt eine ungeheuere
Summe von einzelnen Vorgängen und Tatfachen zu einem
Bilde, fo viele, daß mitunter die leitenden Grundgedanken
Mühe haben, zur Geltung zu kommen.

Halle a. S. Gerhard Ficker.

Walter, Privatdoz. Johannes von, Robert von Arbrissel.
(Die erften Wanderprediger Frankreichs. Studien zur
Gefchichte des Mönchtums. Teil I.) (Studien zur
Gefchichte der Theologie und der Kirche, herausgegeben
von N. Bonwetfch und R. Seeberg. Neunter
Band. Heft 3.) Leipzig 1903, Dieterich. (IX, 195 S.
gr. 8.) M. 5-

Die vorliegende Schrift zerfällt in 2 Teile. Im erften
unterfucht der Verfaffer die Quellen zur Gefchichte
Roberts, im zweiten gibt er eine Biographie feines Helden.
Die Quellenunterfuchung beginnt mit einer ausführlichen
Befprechung der beiden alten Biographien Roberts. Zu
neuen Ergebniffen ift dabei der Verfaffer, foviel ich fehe,
nicht gelangt. Dann handelt er gleichfalls fehr ausführlich
über die an Robert gerichteten Briefe. Den wichtig-
ften, das Schreiben Marbods von Rennes, druckt er im
Anhange aus der editio prineeps ab, aber leider ohne
die groben Fehler diefer Edition zu verbeffern und die
zahlreichen Zitate nachzuweifen. Gegen Petigny und
andere fucht Verfaffer fodann darzuthun, daß diefer Brief
aus den Jahren 1101 —1117 herrühre. Denn er fetze bereits
die Gründung Fontevraults voraus. Aber Fonte-
vrault kann nicht mit unter den cellulae gemeint fein,
die Marbod § 30 erwähnt. Denn Fontevrault war fo-
wohl nach Baldrich wie nach den Urkunden von Anfang
an ein ftattlicher conventus, keine bloße von 2 oder 3
Schwertern bewohnte cellula, wie fie Robert wohl zur
Bedienung der Pilger und armen Reifenden bei den
diversoria und xenodoclüa gründete. Dazu beweift
§ 33, daß zu der Zeit, da Marbod fchreibt, Roberts
Verzicht auf die Leitung von La Rod noch in frifcher
Erinnerung ift. Ergo ift der Brief ein Dokument aus der
erften Zeit von Roberts Wanderpredigt 1097—1100, wozu
auch durchaus der Inhalt ftimmt, namentlich die
Charakteriftik des magister und feiner homines. Auch
darin kann ich dem Verfaffer nicht beiftimmen, daß
Marbods Angaben über die Lebensweife der Reuerinnen
widerfpruchsvoll leien. Denn unter praeeepta novae perfee-
tionis § 31 find nicht Regeln im technifchen Sinne zu
verftehen, fondern die üblichen Anweifungen zu asketifcher
Vollkommenheit. Und ebenfowenig vermag ich ihm beizupflichten
, wenn er in Marbods Rede verhaltenen Haß
verfpürt, S. 122. Marbod erkennt vielmehr ausdrücklich
die Reinheit der Motive Roberts an. Er fchätzt und verehrt
ihn. Aber er fühlt fich als Bifchof mit Recht verpflichtet
, dem revolutionären Radikalismus des magister
und feinem exaltierten, unvorfichtigen Betragen im Verkehr
mit feinen iuvenculae entgegenzutreten. Wie diefen
wichtigen Brief, fo fetzt der Verfaffer auch das ähnliche
Schreiben Gottfrieds von Vendöme nach Mabillons und
Petignys Vorgang in die Zeit nach der Gründung Fontevraults
. Aber der Ausdruck sexum femineum regere,
auf den er fich dabei ftützt, ift fo allgemein, daß auch
hier ein früherer Anfatz nicht ausgefchloffen ift. Neben
diefen alten gutenBekannten verwertet Verfaffer als Quellen
erftmalig Nr. 32 und 37 der Brieffammlung des Ivo von