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Ausgabe:

1904 Nr. 10

Spalte:

299-300

Autor/Hrsg.:

Richter, Raoul

Titel/Untertitel:

Friedrich Nietzsche, sein Leben und sein Werk 1904

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Seite 1

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299

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 10.

300

die L. in Abfchnitt VIII—XVI. XVII—XXIII publiziert,
find durchzogen von Äußerungen feiner religiöfen An-
fchauungen; fie Mammen aus den Jahren 1560 bis 1583.
Notizen über die Arbeiten des Verfaffers find eingeftreut
und geben ihnen ein über das Perfönliche hinausgehendes
Intereffe; z. B. geht aus dem unter Nr. XVIII gedruckten
Briefe hervor, daß an die Verbefferung des Martyrologiums
fchon 1580 gedacht worden ift. Von Intereffe ift der
Brief an den Beichtvater Philipps IL, in dem fich Baro-
nius über die ,Verfolgung' der Kirche im Königreich
Neapel beklagt (Nr. XXIV). Von den an Baronius gerichteten
Briefen find intereffant die 2 des Federigo Mezio,
der Baronius mit Überfetzungen griechifcher Stücke für
die Annalen verforgte (Nr. XXV); der Brief Bellarmins
über die Conftantinifche Schenkung, die Paul V. für ge-
fchichtlich hielt (Nr. XXVII); die Stücke aus den fchon

beftimmt ift, fo wird man begreifen, daß das Auseinanderhalten
kaum gelingen konnte. Wenn Verf. die mit Recht
an die Spitze der Betrachtung des gewordenen Werkes
gedeihe Frage: ,Woher fchöpft Nietzfche die Berechtigung
ein neues Wertfydem aufzuhellen?', damit beantwortet
, daß er den willkürlichen Charakter jedes Werturteils
betont, weih er doch darauf hin, wie viel das
Willkürliche, Perfönliche mit diefen ganzen Erörterungen
zu tun hat. Für die Stellung des Verfaffers zum Chriften-
tum fei auf S. 204 aufmerkfam gemacht. ,Bedarf es denn
überhaupt eines Beweifes, daß diefes Chridentum — das
des neuen Tedaments und der erden Jahrhunderte —
mit feiner Verachtung des Leibes und des Fleifches, des
Reichs der Welt und der Sünde, diefes durch und durch
dualidifche Chridentum mit feinen abweifenden Geberden
gegen die Welt und feinen hinweifenden Geberden zum

1858 von de Ram veröffentlichten Briefen des Bifchofs j Himmel eine dem Erdenleben feindliche Religion ift?'
von Antwerpen Laevinus Torrentius über den Neudruck j Eine befriedigende Behandlung der Stellung Nietzfches

des Martyrologiums und der Annalen etc. in Antwerpen
(Nr. XXXIII—XXXVIII). Und fo findet fich noch eine
Reihe intereffanter Notizen in den 38 Abfchnitten, in
denen L. feine Aphorismen mitteilt. Die bisher unpubli-
zierten Stücke find den römifchen Bibliotheken, namentlich
der Bibliotheca Vallicellana entnommen, in der des
Baronius Korrefpondenz gefammelt vorliegt. In den
erden Abfchnitten befpricht L. die Tätigkeit und das
Werk des erden Herausgebers der Briefe des Baronius,
Raimondo Alberici, zugleich auch den Wert der in der
Vallicellana erhaltenen Biographien des Baronius
(S. 8-14). -

Der Druck ift ziemlich korrekt. In der Wiedergabe
italienifcher Briefe follte man in Anlehnung an das
Original doch nicht fo weit gehn, daß man drucken läßt
(S. 72, aber ähnliches auch öfter) V. S. lllma et Reuma
humilmo et affettmo servitore.

Halle a. S. G. Ficker.

Richter, Priv.-Doz. Raoul, Friedrich Nietzsche, sein Leben
und sein Werk. Fünfzehn Vorlefungen gehalten an
der Univerfität zu Leipzig. Leipzig 1903, Dürrfche
Buchhandlung. (VII, 288 S. gr. 8.) M. 4 —

Drews, Prof. Dr. Arthur, Nietzsches Philosophie. Heidelberg
1904, C. Winter. (X, 561 S. gr. 8.)

M. 10. ; geb. M. 12. x% auch jecJe perfönlichkeit, die kräftig auf ihn ein

zur Religion und zum Chridentum werden wir hier kaum
fuchen.

Das Buch von Arthur Drews gehört zu den ein-
gehendften und feffelndften über Nietzfche. Über das
Verhältnis zu Schopenhauer und Wagner, zumal zu
letzterem, fpäter dann zu den Franzofen Gobineau und
Ree haben wir kaum Verdändnisvolleres fonft gefunden.
A. Drews ift ein Schüler und Anhänger Ed. von Hartmanns
und mit diefem hat er ein vorurteilsfreies Urteil
über viele Erfcheinungen der Gegenwart. Auch wer
die chriftliche Weltanschauung teilt, kann, wie z. B. die
durch Reinke angeregten Verhandlungen über den Zweckbegriff
ergeben haben, ein gut Stück mit ihm gehen.
Dem Urteil Nietzfches über das Chridentum ftimmt er
fachlich ziemlich bei. ,Vom germanifchen Stamme der
arifchen Raffe wenigftens id ficher, daß er unter der
chriftlichen Infektion mit femitifcher Geiftesart fchwer
gelitten hat'. Was die eigentümliche Stellung zur Perfönlichkeit
Jefu betrifft, fo ift es fchwer, darüber zu
dreiten, ob Nietzfche, wenn er in Belitz feiner geidigen
Gefundheit geblieben wäre, wieder Chrid geworden wäre,
nach dem Urteil von Drews vielleicht ein katholifcher
Chrid. Sicher gehört die Perfönlichkeit Jefu zu den
Faktoren feines geidigen Lebens, von denen er nie ganz
losgekommen ift, fo tief hakt fie fich in feine Seele ein,
und Nietzfche ift darin, wie ein Zerrbild freilich, mit
Goethe verwandt, daß er alles, was ihm wirklich nahe-

Deußen, Prof. Dr. Paul, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche.

Mit einem Porträt und drei Briefen in Fakfimile.
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1901. (IX, 110 S. gr. 8.)

M. 2.50; geb. M. 3.50

Noch geht der Strom der Literatur über Nietzfche
fort, aber er hat eine andere Gedalt angenommen. Man
fteht ihm objektiver gegenüber. Es find nicht mehr
einzelne Zeit- und Gelegenheitsfchriften, es find größere
Arbeiten, die es mit dem Ganzen des Lebens, der Perfönlichkeit
, der Gedankenwelt Nietzfches zu tun haben.

Ob auch fonft fchon akademifche Vorlefungen nur
über ihn gehalten worden find? In 15 folchen Vorlefungen,
je eine wöchentlich ein Semefter hindurch, die nun im
Druck erfchienen find, hat Raoul Richter zuerft das
Leben, dann das Werk behandelt. Wir folgen mit
Intereffe den leicht verftändlich und mit eingehender
Kritik dahinfließenden Erörterungen, in denen auch

wirkt, in Poefie und Philofophie, freundlich oder feindlich,
zuletzt meid das letztere, innerlich verarbeiten und in
Wort und Schrift fich mit ihm auseinanderfetzen muß.
So hat A. Drews recht getan, Leben und Werke innig
ineinanderzuarbeiten, indem er auch die Wirkung der
geidigen Abnormität, die R. Richter wenigftens in allen
feinen Druckfchriften zurückweift, rückhaltlos bis weit
zurück in feinem Leben anerkennt.

Nietzfche hat eine liebende Schweiler, die feine Biographin
geworden ift, er hat auch treue Jugendfreunde
gehabt, die auch bei auseinandergehenden Wegen die
Freundfchaft mit ihm nicht verleugnet haben. Zu diefen
gehört Prof. Deußen in Kiel, fein Freund von Pforta
her, der in einer intereffanten Schrift bald nach feinem
Tode Erinnerungen an feine Jugendzeit und an Begegnungen
im fpäteren Leben veröffentlicht hat. Deußen
fteht wohl auf dem Standpunkt Schopenhauers, von dem
aus er am Ende Nietzfches Philofophie beurteilt, mit dem

innerlich das Geifteswerk Nietzfches, das nicht nur [ fich auseinanderzufetzen hier nicht der Ort ift.
Philofophie, fondern auch Predigt und Poefie ift, von dem Auch er nimmt an, daß es vielleicht zu einer noch-

Lebensgang möglichft unabhängig gemacht wird, mit j maligen Umwertung aller Werte gekommen wäre. Wer
dem ausgefprochenen Beftreben, das vermeintlich Patho- j mag es fagen? Jedenfalls beweifen diefe Urteile, wie klar
logifche, das man für fein Denken und Dichten verant- es jedem werden muß, daß Nietzfches Denken zu
wortlich gemacht hat, davon abzuweifen. Allein wenn keinem Abfchluß gekommen ift.

man bedenkt, wie vieles Nietzfche mit feinem Herzblut Leipzig. Härtung.

gefchrieben hat, wie durch die wechfelnden Orientierungen v g'____

feiner Gedanken und Stimmungen feine Anfchauung mit