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Ausgabe:

1904 Nr. 9

Spalte:

273-275

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Leibniz‘sche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Stellung 1904

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 9.

274

zum Sehen und zum Menfchlichen, den ,fcharfen
nomothetifchen Blick in Naturwiffenfchaft und Medizin'
(S. 17), und er weift die Meinung, Paracelfus fei ein .Vertreter
der aftrologifchen Medizin' unter Berufung auf
Sudhoff als völlig unhiftorifch zurück. Was Paracelfus
Aftronomie nenne, fei die Rückwirkung meteorologifcher
Vorgänge auf die großen Volkskrankheiten, alfo auf
pandemifche Erkrankungen (S. 23).

Ob er damit nicht doch feinen Helden demGeifte der
Neuzeit allzunahe gertickt hat? Allerdings: der Arzt foll ,aus
der Natur wachfen', fie ift der befte Lehrmeifter(Paragranum
S. 26); aber wie wird diefer Grundfatz angewandt? Hier
tritt die Lehre von der Analogie zwifchen Makrokosmus
und Mikrokosmus entfcheidend ein, die, im Altertum
wurzelnd, bei Nicolaus Cufanus im Menfchen als parvus
mundus ihre erfte fyftematifche Ausprägung findet, die
Naturphilofophie und Myftik der beginnenden Neuzeit
beherrfcht und fpäter in Leibnizens Monadologie zu har-
monifcher Vollendung gelangt. Ift aber der Menfch ein
Spiegel des Univerfums, vereinigt er etwa in fich das
Wefen aller materiellen Hinge in feinfter Verdichtung, l'o
find für die Erkenntnis zwei Wege möglich: durch den
Mikrokosmus zum Makrokosmus oder umgekehrt. Den
erftern gehen in der Regel Myftik und Naturphilofophie,
am konfequenteften bei Valentin Weigel und bei Campanella
, den letztern geht — mindeftens als Arzt —
Paracelfus. ,Wo wirdt euch der grund der Artzney
geben werden? Alfo | daß ihr den Microcosmum erkennt
in der äußeren Natur . .. Denn wer ift je gewefen | der
den Menfchen als ein Menfchen fürgenommen? Es
feind in im erblindt alleFaculteten | niemandts kennt ihn:
darauß entfpringt nur Verderben' (Paragr. S. 46). /Einer
der da will ein Phtlosophus fein | und darinn kein falfch
legen | der muß den Grund der Philofophey dermaffen
fetzen | das er Himmel und Erden in einen Microcosmum
mache | unnd nicht umb ein härlen fehlfchieß' (35 f.).
Darum foll der Arzt anftatt der ,unfichtigen Spekulation'
über den Menfchen felbft an die ,fichtige Natur' fich
halten (2g{.) er foll aus den ,eußern Dingen wachfen'
,unnd nicht auß dem Menfchen' (39) und die Auditores
werden ermahnt, daß fie ,den großen Menfchen wollen
erkennen | durch ihn nachfolgend den innern' (45 vgl.
auch S. 26f.; 33f.; 108. 47). So trifft es wohl auch für
Paracelfus zu, daß ein neues wiffenfchaftlich.es Programm
in feiner Ausführung durch die Übermacht der Zeitvor-
ftellungen, hier die Forderung der Naturerkenntnis durch
eine phantaftifche Metaphyfik, bis zur Unkenntlichkeit
modifiziert wird.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Hoffmann, Dr. Heinrich, Die Leibniz'sche Religionsphilosophie
in ihrer geschichtlichen Stellung. Tübingen 1903,
J. C. B. Mohr. (VIII, 107 S. gr. 8.) M. 2.—

Unter Religionsphilofophie verlieht man heutzutage
zweierlei. Einmal bezeichnet man wohl mit diefem Titel
die Disziplin, welche die Religion beziehungsweife eine
beftimmte Glaubensform philofophifch zu beweifen oder
zu konftruieren und damit gelegentlich auch zu rektifizieren
unternimmt. Dann aber belegt man noch mit
gleichem Namen die Wiffenfchaft, die es mit Wefen und
Urfprung der Religion zu tun hat, das heißt, die fee-
lifchen Vorgänge darlegen will, in denen diefelbe verläuft
, und darin fie gegründet ift. Die vorliegende Schrift
gebraucht das Wort in feiner doppelten Bedeutung und
gibt daher Auskunft nicht bloß über Leibniz' apologetifche
und kritifche Bemühungen um den beftehenden Glauben,
fondern auch über feine Religionspfychologie. Daß die
Befprechung der letzteren verhältnismäßig knapp ausfällt
, rechtfertigt fich daraus, daß fie in den Werken des j
deutfchen Denkers felbft zurücktritt und da eher angedeutet
als ausgeführt ift.

Das erfte Kapitel geht aus von der großen Bedeutung
, die Leibniz für die deutfche Aufklärung gehabt
hat, um zu zeigen, daß das beftimmende Motiv für feine
Auseinanderfetzung mit dem Glauben ein lebhaftes apo-
logetifches Intereffe gewefen fei. Er erkennt die kritifche
Lage der Religion; er fieht deutlich, wie ftark fie durch
die mechanilche Welterklärung gefährdet ift, und kann
fich für feine Perfon nicht beruhigen bei der gewalttätigen
, oft auf heimlicher Skepfis beruhenden Doktrin
von einer zwiefachen Wahrheit, einer geoffenbarten und
einer der Vernunft zugänglichen. Daher ihm denn ungemein
viel darauf ankommt, den Glauben rational zu
begründen und fo eine natürliche Religion' metaphyfifch
zu konftruieren.

Für letztere find konftitutiv — das erhellt aus dem
zweiten Kapitel — die Idee Gottes und, fummarifch ge-
fprochen, die der Unfterblichkeit. Die Wahrheit der
einen und der andern demonftriert Leibniz. So gewiß
er nämlich an der mechanifchen Welterklärung fefthält,
fo ftößt er fich doch an deren Hauptvertretern, namentlich
an Descartes und Spinoza, weil fie damit eine teleo-
logifche Deutung nicht vereinbar finden wollen. Dagegen
vertritt er die Meinung ,daß alles einzelne mecha-
nifch zu erklären fei, aber die mechanifchen Gefetze felbft
nichts Letztes feien, fondern ihre Quelle in etwas
Höherem, Metaphyfifchen hätten'. So begründet er kos-
mologifch und teleologifch eine Lehre von Gott, und
zwar formuliert er diefe wefentlich theiftifch, obwohl ge-
wiffe Gedanken der Monadologie zum Pantheismus
drängten. Die Unfterblichkeit der Seele aber erklärt er
durch den Hinweis auf die Kontinuität der Subftanz fo-
wie auf den hohen Wert des individuellen Geiftes. Als
weitere Konfequenzen der gewonnenen Einficht er-
fcheinen dann noch die Idee der Vergeltung und die
einer zugleich auf das Ganze und auf die Glückfeligkeit
der einzelnen gerichteten Vorfehung.

Das dritte Kapitel befchäftigt fich mit Leibniz' Auf-
faffung vom Wefen der Religion. Diefe befteht vor allem
in der richtigen Erkenntnis Gottes, die mit derjenigen
der notwendigen Wahrheiten zufammenfällt, in der aus
der rechten Erkenntnis folgenden Gottesliebe, in der Ergebenheit
, die freilich etwas anders gefärbt ift als bei
Spinoza, in Zufriedenheit und Freudigkeit und im moralischen
Handeln.

Das letzte Kapitel endlich fchildert die Stellung des
Philofophen zur Offenbarung. Er tritt ausdrücklich für
fie ein und gefleht Myfterien zu, die zwar nicht den
verites eternelles wohl aber den verites de fait wider-
fprechen. Es ift aber anderfeits charakteriftifch für ihn,
daß er die Offenbarung doch nur infoweit gelten laffen
will, als wenigftens ihre Möglichkeit und Glaubwürdigkeit
durch die Vernunft bewiefen ift. Weshalb er denn auch
fchwankt zwifchen der Anerkennung von Wahrheiten,
die über diejenigen der natürlichen Religion hinausgehen,
und einer gelegentlichen Identifizierung beider. Die felbe
Unficherheit der Haltung, die fich übrigens nicht nur aus
Akkomodationsbedürfniffen, fondern ebenfo gut aus
Motiven feiner perfönlichen Frömmigkeit erklärt, bekunden
im einzelnen feine Urteile über die Bibel, die
Wunder, die Dogmen.

Wie man fieht, enthält die Schrift Hoffmanns keine
Ergebniffe, die geradezu oder wefentlich neu find. Aber
fie entwirft in guter Beleuchtung und unter Würdigung
des hiftorifchen Zufammenhangs ein anfchauliches Bild
und hat fich ein Verdienft dadurch erworben, daß fie für
ihre Darfteilung ein fehr umfangreiches Quellenmaterial
benutzt und nicht bloß, wie vielfach gefchehen ift, die
Theodizee. Wertvoll ift auch der Nachweis eines ftarken
religiöfen Intereffes bei dem deutfchen Denker, fowie die
in feiner Analyfe herausgearbeitete Unterfcheidung
zwifchen feiner Auffaffung der Frömmigkeit und derjenigen
Spinozas. Dagegen erfcheint es dem Ref. fraglich, ob
der Verfuch gelungen ift, Leibniz gegen den Vorwurf des