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Ausgabe:

1904 Nr. 9

Spalte:

270-273

Autor/Hrsg.:

Strunz, Franz

Titel/Untertitel:

Theophrastus Paracelsus, sein Leben und seine Persönlichkeit 1904

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 9.

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weigerte ihm den Einlaß nach England. Dagegen erklärte
man (ich bereit, mit dem Legaten auf der franzö-
fifchen Küfte zu verhandeln. Die Verhandlungen fchloffen
mit der Exkommunikation der Führer des Adels und
dem Interdikt über London und fünf Hafenflädte an der
Küfte des Kanals.

Während wir früher über die Legatron Guidos nur
fporadifche Kenntnis befeffen haben, hat H. durch
Herausgabe des .Legationsregifters' des Kardinals, auf
welches Sdralek ihn hingewiefen hat, für diefen Zwifchen-
akt des englifchen Verfaffungskampfes eine reichhaltige
Quelle erfchloffen, die es ermöglicht, einen genauen Einblick
in die Verhältniffe zu gewinnen. In einem dritten
Abfchnitt druckt H. nach einer kurzen Einleitung das
Regifler nach einer Parifer Handfchrift ab.

Die Arbeit H.s enthält nicht bloß eine fleißige Zu-
fammenftellung deffen, was über das Vorleben Clemens' IV.
zu fagen ift, fondern fie bietet auch, wie man fleht, eine
Reihe neuer Tatfachen, und ift in diefem Sinne als ver-
dienftlich zu bezeichnen. Nur ift es zu bedauern, das H.
im Vorwort die Abficht ausfpricht, den Charakter und
die Lebensverhältniffe des künftigen Papftes in ihrer
Eigenart darzuftellen. Denn gerade das hat der Verf.
nicht gekonnt. Statt kräftiger Farben verwendet er bei
dem Bilde Fulkodis die dünnflüffige Tünche, die manchen
katholifchen Kirchenhiftorikern feit den mittelalterlichen
Heiligenbiographien noch immer nicht ausgegangen zu
fein fcheint. Der zukünftige Papft muß eo ipso ein Ideal
von Vollkommenheit fein. Man würde über diefen
Mangel noch hinwegfehen können, wenn er den Verf.
nicht veranlaßt hätte, manches falfch darzuftellen. Schon
gleich zu Anfang begegnet man der merkwürdigen
Argumentation: als Fulkodi in den Dienft Raimunds
trat, fo kann das erft gefchehen fein, nachdem der Graf
der häretifchen Bewegung feine Unterftützung entzogen
hatte. Der Grund für diefe Behauptung ift nicht etwa
eine Ausfage in den Quellen, fondern Fulkodis anerkannt
.kirchliche Gefinnung'. Noch fchlimmer wird das bei der
Darftellung der Legation. Daß ein großer Teil des
englifchen Klerus auf Seiten des Adels ftand, daß Simon
von Montfort, der Freund Groffeteftes, ein durchaus
kirchlicher Mann war, hindert H. nicht, die Phrafen
Fulkodis, die Wohlfahrt und Freiheit der Kirche flehe
in England auf dem Spiele, einfach in feine Darfteilung
herüber zu nehmen. Wenn H. die Frage befpricht,
warum denn der Papft den Beftrebungen des englifchen
Adels gegenüber (ich ablehnend verhalten hat, fo gibt
er die eigenartige Antwort: der Papft habe die Barone
als Rebellen beurteilt. Als ob mit diefer Auskunft irgend
etwas darüber gefagt wäre, warum denn der Papft diefe
Auffaffung vom Adel hat1 Auch feine Darfteilung der
Verhandlungen ift vielfach verfehlt. Freilich ift es richtig,
daß Fulkodi die Weigerung des Einlaffes nach England
übel nehmen durfte. Im übrigen aber ift das Verhalten
des Adels dem Legaten gegenüber durchaus korrekt.
Das gleiche gilt umgekehrt von Fulkodis Verhalten
keineswegs; denn 1. hat er mit dem Prozeß begonnen,
ehe der mit den Baronen vereinbarte Termin von zwei j
Wochen um war; 2. hat er bei den Verhandlungen zu
Boulogne am 25. und 26. September 1264 eine unwürdige
Komödie gefpielt, fofern er einerfeits mit den Ge-
fandten der Barone ein Kompromiß vereinbart (H. fcheint
die Worte: Super hac forma pars utraque deliberare
voluit etc. [No. 43 a] vollftändig uberfehen zu haben),
anderfeits einem Prälaten am felben Tage {eadem die,
d. h am 26. und nicht am 29. Sept.) erklärt, er würde I
an feinem Prozeß durchaus fefthalten; 3. hat er in der
Exkommunikationsurkunde (No. 50c) als Schuld der
Barone ihr Nicht-Erfcheinen zu Gravelingen bezeichnet,
obgleich er felbft auf ihren Wunfeh als Ort der Zusammenkunft
Boulogne beftimmt hatte. Somit ift das
Verfahren des Legaten von Ungerechtigkeit und Heuchelei
nicht freizufprechen. Alles das hat H. einfach nicht ge- I

fehen. Infolgedeffen ift feine Darfteilung des Prozeffes
als irreführend zu bezeichnen, und es wäre wünfehens-
wert, daß die intereffante Quelle von berufenerer Hand
einer Darftellung unterzogen würde.

Auch die Edition des Regifters entfpricht den zu
Hellenden Anforderungen nicht. Denn trotzdem H. zwei
Handfchriften kennt, fo hat er nicht eine einzige Variante
angegeben. Wenn er fleh der Mühe unterzogen hätte,
die Handfchriften zu vergleichen, fo hätte er vielleicht
auch verfchiedene Textfehler bemerkt, die ihm entgangen
find; z. B. p. 204v Z. 3 v. u. fehlt ein verbum finitum vor
quorum, p. 207, Z. 2 v. u. concessionis ftatt concessionem,
p. 208, Z. 9 v. o. possent ftatt possei, Z. 10 v. u. libere
ftatt liberos, Z. 7 v. u. ftreiche et, p. 219, Z. 19 v. u.
serenilatis ftatt severitatis, p. 223, Z. 17 v. o. vos ftatt
nos, p. 227, Z. 13 v. o. vos ftatt Hos, p. 240, Z. 15 v. o.
vitetis ftatt velitis, Z. 17 v. o. singulis ftatt singuli. Die
ungenügende Interpungierung erfchwert die Lektüre der
Quelle fehr; um einige ganz befonders grobe Fehler zu
nennen, fo ift auf p. 207, Z. 12—15 ein Nebenfatz als
Hauptfatz behandelt, und p. 208 bildet ein Nebenfatz gar
einen felbftändigen Abfchnitt (L.). Ebenfo genügt es
nicht, wenn der Verf. die übrigen von der Legation
handelnden Quellen bloß in einer kurzen Anmerkung
befpricht (p. 186, A. 1). Sie hätten einer ausführlichen
Analyfe bedurft, um den Wert des Regifters in noch
klarerer Weife zutage treten zu laffen. Auch die Korrektur
läßt zu wünfehen übrig. Druckfehler finden fich: p. 6
Z. 7 v. o.; p. 8 Anm. 1 Z. 2; p. 12 Anm. 1 Z. 2; p. 13
Z. 10 v. u.; p. 55 Z. 4 v. u.; p. 61 Z. 1 v. o.; p. 107 Z. 9
V. o.; p. 169 Z. 5 v. u.; p. 193 Z. 16 v. u.; p. 204 Z. 14
v. u.; p. 208 Anm. 2; p. 218 Z. 8 v. u.; p. 220 Z. 19 v. u.;
p. 224 Z. 10 v. o.; p. 245 Z. 18 v. o.

Göttingen. Walter, lic. theol.

Strunz, Franz, Theophrastus Paracelsus, fein Leben und

feine Perfönlichkeit. Ein Beitrag zur Geiftesgefchichte
der deutfehen Renaiffance. Leipzig 1903, E. Diederichs.
(127 S. gr. 8. mit 6 Tafeln.) M. 4. — geb. M. 5. —
Paracelsus, Theophraftus, Das Buch Paragranum. Herausgegeben
und eingeleitet von Dr. Franz Strunz.
Leipzig 1903, E. Diederichs. (112 S. gr. 8. mit Bildnis.)

M. 4. —; geb. M. 5. —

Das erfte der beiden vorliegenden Bücher (teilt fich
die dankenswerte Aufgabe eines ,erftmaligen zufammen-
faffenden Verfuchs, das Gefamtbild der ganzen gewaltigen
Perfönlichkeit des Paracelfus als den eigenartigften, durch
die Naturwiffenfchaft befruchteten Vertreter der deutfehen
Renaiffance und des chriftlichen Humanismus zu zeichnen'.
Unter mehrfacher Berufung auf Karl Sudhoffs Para-
celfusforfchungen wendet fich der Verf. hauptfächlich
gegen die herkömmliche Beurteilung des großen Natur-
forfchers und Arztes, deffen eigenartige Perfönlichkeit
nur aus der Gefchichte der Renaiffance heraus mit ihren
Taufenden von Stimmungen und Individualwerten zu ver-
ftehen fei.

Einzelne Lebensfarben der Renaiffance und der
Reformation haben fich bei Paracelfus zu einer eigenartigen
Unterfarbe und Grundnuance verfärbt und darauf
projiziere fich fein durchaus originales Bild. Man fei
gewohnt, mit dem Namen diefer fremdartig romantifchen
Geftalt einen Nebenfinn von okkultiftifcher Myftik, Charla-
tanerie, Fauftfehnen und Grobkörnigkeit beizulegen und
man habe dabei das Kernige und Freie und doch Gemütvolle
und Fromme feiner Seele nicht erfaßt und nicht erkannt
, daß hinter feinen Bildern und Vergleichen, Allegorien
und Parabeln ein ftarkes und unverbildetes Erleben
ftand; man überfah dabei auch oft, daß er es war, der
als Reformator der Medizin den ,philologifchen Ärzten'
und dualiftifchen Naturforfchern des Mittelalters die neue