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Ausgabe:

1904 Nr. 9

Spalte:

256-261

Autor/Hrsg.:

Wellhausen, Julius

Titel/Untertitel:

Das Evangelium Marci übersetzt und erklärt 1904

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 9.

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der griechifchen Bibel, welche im hebräifchen Kanon
fehlen. Eine fo ausführliche fpezielle Behandlung der-
felben haben wir feit Eichhorn's ,Einleitung in die
apokryphifchen Schriften des A. T.' (1795) nicht wieder
erhalten. Es ift ein erfreuliches Zeugnis für das lebhafte
Intereffe, welches jetzt diefen Studien entgegen
gebracht wird, daß ein in Italien lebender franzöfifcher
Theologe die franzöfifche Literatur mit einer fo eingehenden
Monographie darüber bereichert. Der Verf. ift
Pasteur de PEglise evangelique reformee de Florence und
Ancien Privat-Docent a l'Universite de Geneve. Er ift
mit dem Stoffe, infonderheit auch mit der neueren
deutfchen Literatur aufs gründlichfte vertraut und behandelt
die Probleme durchweg mit befonnenem Urteil.
Eine recht ftarke Benützung meiner ,Gefchichte des
jüdifchen Volkes' Bd. III, namentlich was die Bibliographie
betrifft, muß ich allerdings konftatieren. Ich
glaube dem Verf. nicht Unrecht zu tun mit der Vermutung
, daß ein großer Teil der bibliographifchen
Angaben aus meinem Buche herübergenommen ift.
Aber ich muß zugleich betonen, daß auch die feit der
letzten Auflage meines Buches (1898) erfchienene
Literatur mit felbftändiger Sachkenntnis und faft er-
fchöpfender Vollftändigkeit verzeichnet und verwertet ift.

Nach den Preliminaires (S. 1—57)> welche über den
Begriff der Apokryphen, Handfchriften, Ausgaben und
Überfetzungen handeln, befpricht der Verf. zunächft
,die hiftorifchen Bücher', nämlich I Makkabäer (S. 65
bis 86), II Makkabäer (S. 86—115), III Makkabäer (S. 115
bis 132), III Efra (S. 132—146), dann ,die paränetifchen,
polemifchen und erbaulichen Schriften', unter welcher
Rubrik zufammengefaßt find: Judith (S. 147—170), Tobit
(S. 170—189), die drei Pagen des Darius, d. h. der
Abfchnitt III Efra 3,1—4,63 (S. 190—195), die Zulätze
zu Efther (S. 195—208), die Zufätze zu Daniel (S. 208
bis 237), das Gebet des Manaffe (S. 237—245), das Buch
Baruch (S. 245—263), der Brief des Jeremia (S. 263 bis
270); endlich im letzten Abfchnitt wird die Litterature
gnomique unterfucht: Jefus Sirach (S. 271—310) und
Weisheit Salomonis (S. 310—328).

Die Refultate, zu welchen der Verf. hinfichtlich der
Abfaffungszeit und der fonftigen Entftehungsverhältniffe
gelangt, entfprechen im Wefentlichen der communis
opinio der neueren proteftantifchen Forfcher. Es foll
kein Tadel fein, wenn ich bekenne, in diefer Beziehung
nur wenig Eigentümliches in dem Buche gefunden zu
haben. Als bemerkenswert möchte ich befonders die
Unterfuchung über das Buch, Baruch hervorheben.
A. trennt fehr fcharf die beiden Teile desfelben: 1,1
bis 3,8 und 3,9—5,9. Auch den erften Teil hält er für
griechifches Original, denn die Hebraismen feien daraus
zu erklären, daß der Verf. bereits die griechifche Über-
fetzung des Jeremia und die des Daniels benützt habe.
Die Daniel-Überfetzung aber habe ihm nicht in
derRezenfion derLXX, fondern in der des Theodotion
vorgelegen. Er verweift hiefür (S. 251 f.) auf folgende
Parallelen:

Baruch 1,15—20 = Dan. 9,7—n
2,1 —2 = „ 9,12—13
2,7 —14 = „ 9,13—17
2,16—19 = „ 9,18.
In der Tat find hier die Berührungen des Baruch
mit Theodotion gegen LXX fehr ftark. A. glaubt daher,
daß nur zweierlei möglich fei: entweder un copiste
posterieur a corrige d'apres le texte de Teodotion les
phrases qui avaient ete faites d' apres le Daniel des LXX,
oder die erfte Hälfte des Baruch fei fpäter als Theodotion
et daterait de la seconde moitie du second siede apres
J.-C. (S. 258f.). Er feinerfeits neigt zu letzterer Anficht,
die möglich fei, da Athenagoras und die älteren Kirchenväter
nur die zweite Hälfte des Baruch zitieren. Ich
möchte dem in der Hauptfache zuftimmen, aber mit
der Modifikation, daß die Abhängigkeit von Theodotion

nicht die Abfaffung erft in der zweiten Plälfte des
zweiten Jahrhunderts n. Chr. beweift. Es fprechen vielmehr
auch fonft ftarke Gründe dafür, daß die Rezenfion
des Theodotion erheblich vor die Mitte des zweiten
Jahrhunderts nach Chr. zu fetzen ift (f. meine Gefchichte
des jüd. Volkes III.3 S. 322 f.).

Bei Befprechung des hebräifchen Sirach (S. 302
bis 310) fchließt fich A. der Anficht an, daß die uns
erhaltenen hebräifchen Stücke nur ,fehr unvollkommen'
das hebräifche Original darftellen; der urfpüngliche
Text fei nicht nur überhaupt vielfach alteriert, fondern
namentlich auch ftark nach der Pefchito korrigiert
(S. 309) Obwohl ich als Nicht-Orientalin mir kein
eigenes Urteil erlauben darf, glaube ich doch fagen zu
dürfen, daß A. fich hier zu fehr durch Margoliouth hat
imponieren laffen. Sehr nützlich ift die reichhaltige
I Bibliographie über den hebr. Sirach S. 273—275.

Zu den im allgemeinen fehr forgfältigen Literatur-
Angaben laffen fich doch einzelne Ergänzungen geben.
S. 44 und 46 fehlt bei der Lit. über die Handfchriften
und Ausgaben der LXX gerade das Werk, das jetzt die
befte Information hierüber gibt: Swete, An introduction
to the Old Testament in greek, 1900, p. 122—170 (Handfchriften
) und 171—194 (Ausgaben). — Neben manchem
Minderwertigen, das notiert wird, hätten die Artikel der
englifchen Encydopaedia Biblica nicht unerwähnt bleiben
dürfen, z. B. bei III Efra, Judith, Tobit, Efther. — Zu
S. 50 und 115 (lateinifche Texte des II. Makkabäer-
buches): Mercati, Frammenti Urbinati d'udantica
versione latina del libro IT de'Maccabei {Revue biblique
1902, p. 184—211). — S. 86 über II Makkabäer auch:
Will rieh, Judaica 1900 S. 131—170. — S. 243 über die
Text-Überlieferung des Gebetes des Manafle: Neftle,
Septuaginta-Studien III (Progr. von Maulbronn 1899)
und IV (ebendaf. 1903). Auch für Baruch und Brief
Jeremiae kommt letzteres Programm in Betracht.

Durch fatale Druckfehler auf S. 45 u. 46 ift Tifchen-
dorfs große Ausgabe des Sinaiticus in das J. 1826 verfetzt
(ft. 1862) und Lagardes Ausgabe des Luciantextes
in das Jahr 1833 (ft. 1883).

Göttingen. E. Schürer.

Wellhausen, J., Das Evangelium Marci, überfetzt und erklärt
. Berlin 1903, G. Reimer. (146 S. gr. 8.) M. 4.—

Der eigenartigfte Marcuskommentar, den wir befitzen
, als einziger wohl für niemanden ausreichend, aber
für den Laien beffer als jeder andere geeignet, ihm von
dem gefchichtlichen Wert des älteften Evangeliums einen
lebendigen Eindruck zu verfchaffen und ihm volles Vertrauen
zu der Unparteilichkeit der heutigen Wiffenfchaft,
auch wo ihr Gegenftand die ,heiligften' Schriften find,
einzuflößen, für den Eingeweihten — und an folche Lefer
hat Wellhaufen wohl vor allem gedacht, da er vielerlei
Kenntniffe vorausfetzt — der in feiner Formlofigkeit
reizvollfte und in feiner Wortkargheit lehrreichfte Dol-
metfeher. W. überfetzt zunächft den Text des Marcus,
den er in 90 Paragraphen zerlegt, einige von diefen
wieder in mehrere Stücke, fo § 68 Einleitung, § 68 I, II, III,
§ 68 Anhang; dies als Hilfsmittel, um den Grundplan
des Marcus aufzudecken (nämlich I Jefus in Kapernaum
1,16—6, 13, IIA Jefus auf unfteter Wanderung 6, u—8,ae,
IIB Jefus auf dem Wege nach Jerufalem 8,27—10, 52,
III die Paffion 11,1—16,8) und dabei Redaktionsftücke,
Verknüpfungsarbeit, fpätere Einfchübe kenntlich zu
machen. Jeder Paragraph hat aber als zweite Hälfte
Anmerkungen, bald ganz kurze, text- und quellenkritifche,
bald Rechtfertigung der Überfetzung oder Deutung von
mißverftändlichen Worten und Sätzen, bald zufammen-
hängende Reflexionen über den Wert einer Stelle für die
Biographie Jefu oder für die Entftehung der älteften
Wucherungen in der evangelifchen Tradition. In der
Überfetzung wie im Kommentar eine köftliche Frifche,