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Ausgabe:

1904 Nr. 9

Spalte:

251-253

Autor/Hrsg.:

Kahle, Paul

Titel/Untertitel:

Der masoretische Text des Alten Testaments nach der Überlieferung der babylonischen Juden 1904

Rezensent:

Beer, Georg

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2S1 Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 9. 252

von der Freude an der eigenen Pofition getragenen Abwertung
Delitzfchs fein Gefallen haben können. Wohltuend
berühren die Auslaffungen über die Wertfehätzung
der Bibel im deutfehen Volk, fpeziell über die Bedeutung
der Bibelüberfetzung Luthers für die Gefchichte des deutfehen
Geiftes.

Leonberg. P. Volz.

Kahle, Paul, Der masoretische Text des Alten Testaments nach
der Überlieferung der babylonischen Juden. Leipzig 1902,
J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. (IV, 108 S. gr. 8.)

M. 3.50

Kahle gehört zu den wenigen jüngeren Theologen,
die fich über öden und dornigen Boden den Weg zur
Mitarbeit am A. T. bahnen. Nachdem fich K. durch feine
Auffätze in der ZATW 21, 273 fr. (Beiträge z. Gefch. der
hebr. Punktation) und in der ZDMG 55, 167fr. (Zur Gefch.
der hebr. Accente) als Fachmann auf dem Gebiet der
hebr. Elementarlehre vorteilhaft eingeführt hat, befchreibt
er in oben angezeigter Studie als Ergebnis einer Augen
und Lunge fchädigenden Arbeit, wovon S. 1—50 auch
als erfte Hälfte einer der Hallenfer Theolog. Fakultät vorgelegten
Licentiaten-Differtation erfchienen ift, nach einigen
einleitenden Worten (S. 1—7) das Fragmente der Hagio- i
graphen mit fupralinearer Punktation enthaltende Berliner j
Mf. or. qu. 680 (S. 7—13) und gibt auf Grund desfelben j
die orientalifche Mafora (S. 13—23) und die oriental.
Punktation des Hebräifchen (S. 24—50), woran fich Bemerkungen
zur Formenlehre des Hebr. nach oriental. Überlieferung
(S. 51—79) und Varianten zwifchen dem baby-
lonifchen und tiberienfifchen Texte (S. 79—83) reihen,
foweit fie nicht fchon in der Formenlehre berückfichtigt j
find. Den Befchluß macht die Mitteilung der Masora
magna zu den Proverbien und der Text von Pf. 90—103,
Hohel. und Klagel. i, beides auch nach dem Kerl. Mf.

Um die Ausfagen und Ergebniffe K.s voll würdigen
zu können, müßte ich natürlich das Berl. Mf. felbft ein-
gefehen haben. Da jedoch die ganze Arbeit durchweg
einen zuverläffigen Eindruck macht, meinte ich mich aus
Bequemlichkeit einer philologifchen Unterlaffungsfünde
fchuldig machen zu dürfen, zumal ja auch, wie fchon ge-
fagt, die ganze Arbeit der Hallenfer Theol. Fakultät zur
Prüfung vorgelegen hat, und erledige mich daher der Aufgabe
einer Anzeige durch ein kurzes Referat und durch
Hervorhebung einiger für den Lefer diefer Zeitung wichtiger
Punkte.

Die 1879 auf Empfehlung Stracks für die Berl. Kgl.
Bibliothek erworbene Hf. ift von Schapira aus Südarabien
nach Europa gebracht worden, unterfcheidet fich aber
von Handfchriften ähnlicher Herkunft in der Punktation
darin, daß der üblichen jemenifchen erft eine andere ur-
fprünglichere hat weichen müffen, die aber zum Glück
durch gewiffe Merkmale dem gefchulten Blick K.s noch
erkennbar gewefen id. Die Mitteilung der primären Punktation
ift der Hauptzweck der K.fchen Arbeit. Das Berl.
Mf. hat die Vokalzeichen — = Kämes, - = Pathach,
— = Sere, — == Chireq, — = Cholem und — = Kibbus.
Es fehlen alfo Segol, Kames chatuf und die Chateflaute.
Für Segol werden die Vokalzeichen Chireq, Sere und
Pathach verwendet. Wie fich das Mf. zu den Chateflauten

ftellt, zeigen Punktationen wie i'38 (= 138), und fiB»8
(= fi'»»8) d. h. es werden ohne Bedenken fogenannte
kurze Vokale in offene Silben gefetzt. Dagefch hat
fich häufig am Wortende erhalten z. B. r8 (= itt fi8).
K. will es auch in Fällen, wo im Mf. ab fteht (S. 37), ge-
fprochen finden. Aus der Punktation l'a "1B8 Pf. 96, 12
fchließt er, daß mitunter •» für gefchriebenes HB 8 ge-
fprochen wurde. Schwa wird, wie auch in dem tiber.
Syftem, zuweilen gefetzt, um zu hindern, daß 8 quiesciere,
z. B. -i'tfn = 183 u. ä. Das Mf. hat von Akzenten nur

fifiaBü d. i. distinetivi. Befonders dankenswert ift der
Abfchnitt zur Formenlehre — doch wären hier auch para-
digmatifche Tabellen erwünfeht gewefen. Unter den Perfekten
kommen in babylon. Punktation zuweilen a Perfekte
ftatt e Perfekten der Tiberienfer vor z. B. Ba'i für
©ax Zu den Imperativformen (S. 52) bb'8 Prov. 23, 7 (tib.
bb8) konnte auf tib. 1B8 Ex. 16, 23, für bab. qbfii Eccl. io, is
(tib. S] ST) auf den tib. Eigenamen nb/T Gen. 22, 22, für
bab. 3fi81 Prov. 3, 12 (tib. an«1;) auf tib. iafi8t? (fprich
133fi8Bi cf. Müller-Kautzfch, The book of Proverbs 1901,
34) und für bab. fihiO Hi. 37, 22 (tib. fir8") auf tib. tltWP
Mi. 4, s verwiefen fein. Zu der 1. Perf. Imperf. Kai mit«
im Bab. konnte an das i bei der felben Perfon im Im-
perf. Nifal bei den Tiberienfern erinnert fein: bt)j58 neben
bü£8 und ftets fibt3j?8. Die meiften tib. b»B-Formen ent-
fprechen bab. b»B-Formen. Zu bab. "13T (tib. "DT) konnte
tib. -DT (ft. conftr. Ex. 17, u. Deut. 25,10) und der Eigenname
-DT (Paufa) 1 Chr. 8, si, zu bab. ü3D (tib. TOD») die
tib. Paufalform B31B und zu bab. finb (tib. -ifiO) die tib.
Paufalform nno verglichen fein. Für naa etc. finden fich
im Berl. Mf. die von Barth poftulierten biajJ-Formen
z. B. nbh Hi. 37, 2. TS ,Zeit' (tib. h», T» ufw.) konnte
neben tib. Tin» — ,nun' gefleht fein. Statt der tiber.
MiEalformen hat die bab. Punktation meift, häufig auch
durch LXX und Hieronymus betätigte Maf alformen z. B.

"lala — tib. la-ra, aber doch auch finita trotz des durch
Hieronymus bezeugten finita (S. 70). Hi. 30, 3 findet fich
die von Friedr. Delitz fch neben TB/28 oder ÜfitaX geforderte
bpb-Form TütaR ftatt des tib. »tax (S. 70). Zu
Bab. pifiB8 ohne Dagefch im B (ftatt tib. lfifijB8 Hohl. 3,4)
wäre das junghebräifche Tt"HB8 zu vergleichen gewefen
(S. 71). Von dem berüchtigten Dagefch in QifuB kommt
im Berl. Mf. keine Spur vor (S. 76). Von Varianten ift
(S. 60) u. a. beachtenswert 1338IB Hi. 3, is (Paufa) d. i. Pu'lal
ftatt des tib. 13380 (Pi'lel). Prov. 2,22 lieft das Mf. wie
LXX iro'i ftatt des tib. IfiB". Über die Liebhaberei K.s,
manche Gelehrte — es Rheinen nur jüdifche diefes Vorzugs
gewürdigt zu werden cf. Mofes Pinner, Seligman
Baer, Abraham Elijjahu Harkavy — mit einfachem oder
doppeltem vollen Vornamen auszuzeichnen, kann ich ein
Lächeln nicht unterdrücken. K. würde fich ficher ein
Verdienft erwerben, wenn er uns demnächft die ganze
Handfchrift in kritifcher Ausgabe vorlegte. Bereits vor
den fchon genannten Textpublikationen S. 89fr. hat K. ein
anderes Stück der Hf. = Dan.4,21—7,7 in Stracks Gramm,
d. bibl. Aram.3 S. 33*—41* mitgeteilt.

Wer gewohnt ift, auf den Höhen der biblifchen Kritik
zu wandeln, wird die in K.s gelehrter Studie vorliegende
Ameifen- und Maulwurfsarbeit leicht mit Achfelzucken
betrachten. Aber auch hier gilt, daß man von Bergriefen
oft einen imponierenderen Eindruck vom flachen Boden
aus hat, als wenn man per Schnellfahrtsgelegenheit auf
den Gipfel gelangt, von da aus Rundfchau hält. Ich bin
überzeugt, daß K. gewiffe Schwierigkeiten des alttefta-
mentlichen Textes höher einfehätzen wird, als mancher
berufsmäßige altteftamentlichc Bibelforfcher. Der Reiz,
während desBefchreitens noch nicht ausgefahrener Geleife
einiges gutes Neues beobachtet zu haben, möge K. für
das entfehädigen, was andere, Jahr aus Jahr ein, von in-
tereffanterem Bekannten auf den gewöhnlichen Landftraßen
fehen. Sind wir auch noch weit entfernt, von einem
maforethifchen Text des A.T. nach der Uberlieferung
der babylon. Juden reden zu können — der Titel der
K.fchen Schrift ift in diefer Hinficht leicht irreführend,
wir müffen noch weit mehr Handfchriften der Art kennen
—, fo wird doch die Zeit allmählich kommen, wo wir,
eben auch mit auf Grund der babylonifchen Überlieferung,
für die Lefung des a.t.lichen Textes und für den Betrieb
der hebr. Grammatik über das Wiffen der landläufigen