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Ausgabe:

1904 Nr. 8

Spalte:

233-235

Autor/Hrsg.:

Kniebe, R.

Titel/Untertitel:

Der Schriftenstreit über die Reformation des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg seit 1613 1904

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 8.

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Clemen mit Stellen aus Briefen der Reformatoren, Peter
Mofellans und Anderer. Es ift flaunenswert, welche
Menge Handfchriften der griechifchen Väter er zufammen-
gebracht hatte. Aus diefer Bibliothek hatten die Wittenberger
den Kommentar des Theophylact und Werke von
Bafilius, Chryfoftomus und Gregor von Nazianz und
Mofellanus die Predigt des Chryfoftomus de avaritia
vitanda geliehen.

In den Analekten und Miszellen gibt Cl. zuerft ein
Itinerar einer Pilgerfahrt von Nürnberg nach Rom. Er
ift geneigt anzunehmen, daß Luther auf der Hin- oder
Rückreife oder beide Mal diefe Straße gezogen fei.
Allein dagegen fpricht, daß Luther das eine Mal Padua,
das andere Mal Mailand und auch wohl die Schweiz auf
einer Strecke berührt haben muß. Dagegen fteht der
Annahme nichts im Wege, daß er beide Mal den in der
Handfchrift angezeigten Weg Bologna—Rom gezogen und
einmal den Weg Innsbruck—Verona, wie den Augsburg—
Nürnberg gemacht hat. Weitere Nachforfchung verdient
Leonh. Dolrohoß, jur. utr. Lic. von dem ein Diftichon
auf Luther mitgeteilt ift, und der Wiener Profeffor Med.
Joh. Pilhaymer, der in feinem Haus Paulus und zu feiner
Rechten Luther, zur Linken Erasmus malen ließ. Wohl
mit Recht nimmt Cl. auf Grund einer Zwickauer Handfchrift
an, daß die Äußerungen von Karl V., von Erasmus,
dem Grafen von Naffau, Philipp von Ravenftein und der
Statthalterin Margarete über Luther, die dem iudicium de
doctoi-e Mart. Luthero von Oecolampad beigegeben find,
durch Heinrich von Zütphen und Melchior Mirifch aus
den Niederlanden nach Wittenberg gelangten. Der Brief
Pirkheimers vom 6. Jan. 1521 an Hein. Stromer ift ein
Beweis davon, was man im antirömifchen Lager Rom
zutraute. Der Rat eines Kurtifans an die in Verlegenheit
befindlichen Kardinäle, Paulus, die Hauptftütze
Luthers, aus der Zahl der Apoftel zu ftreichen, ift wohl
Erfindung. Was man im römifchen Lager einander zutrug
, verraten die Spottverfe des Joachim von der Heyden
auf Ökolampadius, der für Unzucht, ja Inceft, Schläge
davongetragen haben foll. Man ficht, auf welchem
Boden (ich die damaligen Gegner der Reformatoren bei
ihren Nachreden gerne bewegten. Es ift das fexuelle
Gebiet. Semper idem! Statt Occosiotus S. 97 Z. 22
Enders 6, 339 Anm. 20 1. Oecoscotus, der Hausverdunkler,
was ein Wortfpiel mit Oecoiampadius fein foll. Statt Lacture
S. 98 Z. 4, was kein lateinifches Wort ift und keinen Sinn
gibt, 1. Tacture, was freilich auch felbftändig gebildet
ift ftatt tactus, aber paßt, und ftatt Lastautus Anm. 1
Z. 5 Lastaurus. Wie fade der Witz diefes Joachim
Myricianus ift, zeigt das in der Anm. mitgeteilte Diftichon
auf Luther. Beachtenswert find die Erwägungen Melanch-
thons und Casp. Crucigers über das Interim pro et contra.
Man möchte nur wünfchen, daß die klare Erkenntnis
Melanchthon mehr Kraft zum Widerftand in der Frage
des fächfifchen Interims verliehen hätte. Es find dies nur
einige Proben aus dem reichen Inhalt der Analekten und
Miszellen. Ref. freut fich, daß Clemen im Vorwort eine
Fortfetzung feiner Arbeit im Archiv für Reformations-
gefchichte in Ausficht ftellt.

Nabern. G. Boffert.

Kniebe, Dr. R., Der Schriftenstreit über die Reformation
des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg seit
1613. (Hallefche Abhandlungen zur neueren Gefchichte,
herausgegeben von G. Droyfen. Heft 41.) Halle 1902,
M. Niemeyer. (161 S. gr. 8.) M. 4 —

In den letzten Jahren ift mancherlei zur Gefchichte
des Konfeffionswechfels Johann Sigismunds gefchrieben
worden. In Eduard Clausnitzers Differtation ,Die mär-
kifchen Stände unter J. Sigismund' Halle 1895 behandelt
der 3. Abfchnitt diefen Punkt; M. Töppens Arbeit über die
preußifchen Landtage während der Regentfchaft J. Sigismunds
, Königsberg 1897, befchäftigt fich gleichfalls viel
mit den Folgen jenes Konfeffionswechfels. O. Seeger
fchrieb ein Programm ,Zur Confessio Sigismund? Berlin
1899, und Franz Dittrich Hellte in der Zeitfchr. f. Gefch.
u. Altertumskunde Ermlands XIII (1901) 72 ff. die kirch
liehen Schwierigkeiten dar, die J. Sigismund in Preußen
erwuchfen. Dazu kommt jetzt Kniebes Schrift. Sie be-
fchränkt fich darauf, die Streitfchriften zu charakterilieren,
die der Übertritt des Kurfürften zum Calvinismus hervorrief
, und fchließt fich damit den Studien über die durch
beftimmte Ereigniffe hervorgerufene Publiziftik an, wie
fie in der Droyfenfchen Sammlung als Spezialität gepflegt
werden (vgl. Heft 25, 27, 29 und 40 diefer Sammlung).
Während der Verf. auf S. 110—161 ein chronologifches
Verzeichnis der durch den Konfeffionswechfel veran-
laßten Streitfchriften — dazu diefe mit ihren vollen, oft
fehr weitfehweifigen Titeln — zufammenftellt, wobei 1613
6, aber 1614 47, 161561, 1616 44, die nachfolgenden Jahre
dann in ftetiger Abnahme immer weniger Nummern
liefern, gibt er im Hauptteil feiner Schrift eine Gruppierung
diefer Schriften nach den einzelnen Anläffen und Phafen
des konfeffionellen Streites und führt fomit die Gefchichte
jener Tage im Spiegelbild jener Streitliteratur vor. Die
Charakteriftik der einzelnen Schriften fällt dabei meift
fehr kurz aus — im ganzen mit vollem Rechte, denn es
ift fo, wie er S. 109 fagt: ,ihr Inhalt ift fehr ärmlich, ihr
dogmatifcher und dogmengefchichtlicher Wert höchft
gering; neue Gedanken oder auch nur neue Ausgeftaltung
alter fucht man vergeblich'. Es ift konfeffioneller
Hader in bereits feft ausgefahrenen Geleifen mit der beliebten
Konfequenzmacherei und Unterfchiebung von Irrlehren
, durch die der Gegner fich nie getroffen, immer
nur fich gereizt und verleumdet fühlt. Gleichwohl wünfehte
ich, der Verf. hätte wenigftens fo charakteriftifche wie
L. Hutters Calvinista aulico- politicus und auf der Gegenfeite
die ,Neue Zeitung von Berlin' doch etwas eingehender
und mit mehr konkreten Zügen vorgeführt. Mit Recht
widmet er einen befondern Abfchnitt dem Gen.-Super-
intendenten Chriftoph Pelargus (Storch) in Frankfurt,
der im entfeheidenden Moment die lutherifche Geiftlich-
keit des Landes im Stich ließ und in gewundenen Erklärungen
fich der Führerfchaft, die Geiftlichkeit und
Stände von ihm erwarteten, entzog. Sein Verhalten fieht
wie eine charakterlofe Liebedienerei gegen den Kurfürften
aus; es fragt fich aber doch, ob nicht fchon vor 1613
eine Wandlung feiner Anfchauungen fich vollzogen hatte.
Ich weife auf eine von Kniebe nicht herangezogene
Schrift hin, die fchon 1612 erfchien: Chr. Pelargi De
articulis hodie controversis Confessio ortliodoxa. Hier
find befonders aus feiner 1605 erfchienenen Epitome
universae Theologiae sive explicatio quatuor librorum
Damasceni einzelne Ausfagen über freien Willen, Prädefti-
nation, Perfon Chrifti und Abendmahl fo gefchickt zu-
fammengeflellt, daß fie ganz den Eindruck eines von ihm
längft vertretenen reformierten Bekenntniffes machen.
Daran fchließt fich ein Abdruck der von dem Lutheraner
Aegidius Hunnius (j-1603) aufgefetzten Argumente gegen
den Exorzismus, die man reformierterfeits freudig begrüßte
und ausbeutete, lutherifcherfeits als untergefchoben
abzuftreiten fuchte (vgl. Real-Encykl.3 V 698. VIII 458)-
Wäre das ,Francofurth auf dem Titel diefer Schrift beweiskräftig
, fo hätte Pelargus alfo fchon ein Jahr vor
feinem Landesherrn feinen Standpunkt gewechfelt; aber
ich bekenne, daß ich das Francofurtiapud Jonam Rhodium
— gab es überhaupt dort einen folchen Drucker? —
für fingiert halte (möglichenfalls auch das Jahr 1612) und
darin eine Preffion fehe, die calvinifcherfeits auf den
fchwachen und durch die Verhältniffe geängfteten Pelargus
ausgeübt wurde. — Die Sympathie Kniebes ifl entfehieden
auf Seiten der Reformierten. Sie find ihm nicht nur die
in ihrer Polemik Anftändigeren, fondern auch die Weit-
fichtigeren,Friedfertigeren, den gemeinfamenevangelifchen
Glaubensgrund und ebenfo den gemeinfamen Feind in