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Ausgabe:

1904 Nr. 6

Spalte:

187-188

Autor/Hrsg.:

Sickenberger, Otto

Titel/Untertitel:

Kritische Gedanken über die innerkirchliche Lage 1904

Rezensent:

Bruckner, Albert

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Seite 1

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i87

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 6.

188

durfte man erwarten, daß dem unbeteiligten Lefer ein
anfchauliches und durchfichtiges Bild der verfchiedenen
Syfteme gegeben würde. Leider ift diefer Erfolg nicht
oder nur in geringem Maße erreicht. Dazu trägt die
Darfteilung zu fehr den Charakter des Atomiftifchen und
Aphoriftifchen. Speziell leidet fie darunter, daß fte fortwährend
von Einwänden und Widerlegungsverfuchen
unterbrochen wird, ein Verfahren, das fich mit der Aufgabe
des Hiftorikers, jede Weltanfchauung, fo weit als
möglich, in ihrem relativen Rechte erfcheinen zu laffen,
nur fchlecht verträgt. Und wenn gleich ein rühmliches
Streben nach Objektivität in der Entflechtung überaus
zahlreicher wörtlicher Zitate erkannt werden möchte, fo
verfehlen diefe doch, weil aus dem Zufammenhang ge-
riffen, vielfach ihren Zweck. Welcher Lefer, der nicht
bereits anderweitig orientiert wäre, könnte wohl der
Schilderung Baumanns eine richtige Vorftellung von der
Gedankenwelt E. von Hartmanns oder Paulfens oder
Euckens oder vieler anderer entnehmen!

So liegt der Schwerpunkt des Werkes nicht in der
Darftellung, fondern in der Kritik. Aber felbft diefe
gibt zu Bedenken Anlaß. Sie haftet ihrerfeits zu fehr
am einzelnen. Man darf eben nicht vergeffen: ein philo-
fophifches oder metaphyfifches Syftem ift immer ein
Kunftwerk und muß daher als Ganzes gewürdigt werden,
ebenfo wie die Argumente, auf die es fich ftützt, in ihrer
Wechfelbeziehung und in ihrem mannigfach abgeftuften
und abgetönten Wert beurteilt fein wollen. Dazu kommt,
daß einzelne Einwände, wie beifpielsweife der Hinweis
auf die Abhängigkeit des Geiftigen vom Körperlichen, mit
eintöniger Regelmäßigkeit ftets wiederkehren, fogar da,
wo fie den vorliegenden erkenntnistheoretifchen Voraus-
fetzungen gegenüber keinen rechten Sinn mehr haben.
Den Theologen wird endlich die gelegentlich durch-
fchimmernde Polemik gegen das Chriftentum deshalb fo
unangenehm berühren, weil fie das letztere gern mit einer
höchft maffiven Form desfelben einfach identifiziert, um
es dann defto leichter abzutun.

Am beften ift dem Autor wohl die in antithetifcher
Form gehaltene Andeutung und Verteidigung feiner
eigenen Weltanfchauung gelungen. Bekanntlich handelt
es fich um einen Theismus oder Deismus, der wefentlich
auf die Betrachtung der anorganifchen Natur gegründet
ift, und um eine mit dem Gedanken der Wiedergeburt
operierende Unfterblichkeitslehre. Auch die außerordentliche
Nüchternheit des Denkens und die anfpruchslofe
und fchmucklofe Klarheit der Diktion ift anzuerkennen.
Würde der Titel nicht unnütz große Erwartungen wachrufen
und würde er fich begnügen, etwas wie ,Lefefrüchte'
und beigegebene Gloffen anzukündigen, fo könnte dadurch
immer noch ein gewiffes Intereffe herausgefordert
werden, ohne daß es nachträglich durch eine
Enttäufchung abgefchwächt würde.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Sickenberger, Lycealprof. Dr. Otto, Kritische Gedanken
über die innerkirchliche Lage. Vorgelegt dem katho-
lifchen Klerus und den gebildeten Katholiken Bayerns.
II. Extremer Antiproteftantismus im katholifchen Leben
und Denken. Augsburg 1904, Th. Lampart. (V, 175 S.
gr. 8.) M. 1.50

Eine der bedeutfamften literarifchen Erfcheinungen
des gegenwärtigen Reformkatholizismus bildet unftreitig
das zweite Heft der ,kntifchen Gedanken', das der königliche
Lycealprofeffor Dr. Otto Sickenberger jüngft unter
dem Titel .Extremer Antiproteftantismus im katholifchen
Leben und Denken' veröffentlicht hat. Enthält es doch
im Grunde nichts weniger als ein ausgeführtes Reformprogramm
, um das fich alle diejenigen fammeln können,
denen es um eine religiöfe und fitthche Erneuerung des
römifchen Katholizismus zu tun ift.

Der durch feine gründlichen Studien über Titus von
Boftra vorteilhaft bekannte, junge Gelehrte unterzieht hier
in den 3 Abfchnitten: ,Die Vermittlung des Heilswerkes
Chrifti an die Menfchen, Das Wirken der Menfchen zum
ewigen Heile, Der Kultus,' das gefamte Syftem der römifchen
Kirche, wie es fich in der gegenwärtigen Praxis
darfteilt, einer fcharfen, ja bisweilen geradezu vernichtenden
Kritik und weift an einer Fülle von Beifpielen nach,
daß die Selbftüberfchätzung der Hierarchie fowie die Ver-
äußerlichung und Mechanifierung des katholifchen Chriften-
tums feit der Reformationszeit bedeutend zugenommen
habe. Den Grund zu diefer bedenklichen Entwicklung und
dem immer ftärkeren Abweichen von der wahren, katholifchen
, goldenen Mitte fieht er, wie bereits der Titel andeutet
, in dem fcharfen Gegenfatz zu Luther und dem
Proteftantismus, derdiebereits beftehende hyperkatholifche
Praxis mächtig gefördert und alle ihr entgegenftehenden
Momente als des Hinüberneigens zum Proteftantismus
verdächtig von vornherein diskreditiert habe. Das Ideal
des Verfaffers bildet die katholifche Kirche der erften 10
Jahrhunderte; aber wenn es demgemäß auch weit zurückliegt
, fo zweifelt er doch offenbar nicht daran, daß es bei
allfeitigem gutem Willen wieder zu erlangen wäre. Und
wenn er feine Schrift dem katholifchen Klerus und den
gebildeten Katholiken Bayerns widmet, fo gefchieht dies
doch ficher kaum bloß aus Lokalpatriotismus, fondern
auch mit in der Hoffnung, daß diefe feine ,kritifchen Gedanken
' am eheften verliehen und beherzigen werden.

So gewiß diefe Schrift aber von einer großen Liebe
und einem heiligen Eifer für die katholifche Kirche Zeugnis
ablegt, fo fleht doch kaum zu erwarten, daß fie im ultramontanen
Lager einen andern, als einen rein negativen und
abwehrenden Erfolg haben wird. Und da man auf jener
Seite beffer mit der Wucht der Autorität, als mit den
Gründen des Verftandes und dem Appell an das Gewiffen
zu kämpfen verlieht, fo wird der Verfaffer auch kaum
erwarten dürfen, auf all feine ernften und eindringenden
Fragen Antwort zu erhalten. Nichts defto weniger aber
dürfte das mutige Zeugnis von dem großen Gewiffensernft,
aus dem der Proteftantismus hervorgegangen ift, und den
erheblichgefteigerten Mißftänden in der katholifchen Kirche
der Jetztzeit doch nicht ganz ungehört verhallen, wenn
es auch eine weitere hyperkatholifche Entwicklung nicht
wird hindern können.

Wohlen (Kanton Aargau). Lic. A. Bruckner.

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