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Ausgabe:

1903 Nr. 4

Spalte:

122-123

Autor/Hrsg.:

Knoke, Karl

Titel/Untertitel:

Grundriss der Pädagogik und ihrer Geschichte seit dem Zeitalter des Humanismus 1903

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 4.

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mit ficherem Blick überall die Anknüpfungspunkte für
ein weiter und höher führendes Wirken erkennt. Diefen
Paffus zu lefen, ift für den ein wahres Vergnügen, der
felbft einigermaafsen die Welt kennt, und nicht ganz in
theologifchen Vorurtheilen befangen ift; an vielen Punkten
wird er fich zu dem Urtheil genöthigt fehen: ja, fo ift
es in der That! Hier waltet ein durchaus befonnener
und gerechter ,Wirklichkeitsfinn', und den brauchen wir
in der Darfteilung und Bearbeitung der Menfchenfeelen,
,damit man auch das Evangelium uns als einen Beftand-
theil der Wirklichkeit abnimmt und es nicht auch als
ein folches Luftgebilde nimmt, wie unfere Auffaffung des
Menfchen' (90).

Natürlich ift nun die Aufgabe des dritten Theils, die
im Evangelium liegenden Motive und Quietive mit diefer
thatfächlichen Befchaffenheit des und der Menfchen zu-
fammenzubringen, keine leichte. Wenn hier jedes that-
fächliche Vorhandenfein eines Syftems in der neuteft. Gedankenwelt
geleugnet und damit die Forderung abfoluter
Schriftgemäfsheit der Predigt abgethan (S. 117), ja auch die
Möglichkeit, unfer Ideal, das univerfale wie das perfön-
liche, dem N.-T. einfach als folches zu entnehmen, geleugnet
, vielmehr dabei mitverwerthet wird, ,was an grofsen
Gedanken, geleitet vom h. Geift des Evangeliums, uns
die neuere Gefchichte der ethifchen (und religiöfen) Ent-
wickelung gefchenkt hat' (S. 131), fo entfpricht dies nur
einem Thatbeltande, den Referent fchon in feiner Prorec-
toratsrede (1896, S. 19 Anm. 36, vgl. Holtzmann, n.-t. Theologie
, Vorw. p. IX f.) conftatirt, und worauf er die hervorragende
Bedeutung derpraktifchen Theologie in unfern
Tagen gegründet hat. Daraus refultirt aber eine grofse
Freiheit diefer letzteren von der gefchichtlich-neutefta-
mentlichen Forfchung. N. vindicirt dem praktifchen Theologen
das Recht, das Reich Gottes in einem anderen
Sinn aufzufallen und zu verwerthen, als ihn die neu-
teftamentliche Forfchung eruirthat (S. 117 f.). Gut ift, dafs
er dabei — vielleicht nicht energifch genug — betont
(S. 118), dafs folches Thun doch ,in der Kontinuität der neu-
tcftamenthchen Gedanken' ftattfinden müffe, fonft wäre
ja nicht einzufehen, warum wir doch immer wieder an
das N. T. anknüpfen. Sicher aber ift, dafs wir anftatt
unfere Anfchauungen in das N. T. hineinzutragen aus dem,
was es uns darbietet, Brauchbares zu machen haben für
unfere Zeit. Ift aber jenes kein einheitliches Syftem von
Motiven und Quietiven, fo gilt es eben, felbftftändig und
bewufst feinen Standort in dem Neuen und Centralen zu
nehmen, das es uns vor Augen ftellt. Diefes findet der
Verf. gewifs richtig in der Perfon Jefu, die, als eine übernatürliche
Kraft, uns zur Stärkung und zum Troft gefchenkt
, Kinder der Sünde und des Todes umwandeln
kann in neue Menfchen nach Chrifti Bild; das ift für N.
das Reich Gottes, mit Chriftus gekommen und von ihm
aus vorwärtsfchreitend, was auch die Hiftoriker dazu
fagen mögen. Damit ift unter jenen drei im I. Theil
unterfchiedenen Gruppen die letzte zur beherrfchenden
erhoben; die eschatalogifchen und die rationalen Motive
müffen (ich ihr ein- und unterordnen. Das Refultat ift
(S. 124), dafs in Chriftus fich eine hülfreiche geiftige Macht
von Gott her in die Menfchheit herabgefenkt hat; ob fie
der Menfch aufnimmt oder nicht, davon hängt fein irdi-
fches Gedeihen, fein innerer Friede und fein ewiges End-
gefchick ab. Man wird nicht verkennen können, wie auf
diefem Umweg fchliefslich doch Schleiermacher Recht
behält: zu predigen ift unfer, der heutigen Chriften-
gemeinde frommes Bewufstfein, aus ihm find Motive und
Quietive letzlich zu fchöpfen, wenn freilich auch immer
,in der Kontinuität der neuteft. Gedanken'.

Und nun heifst .wirken' die Uebertragung diefer
chriftlichen Motive und Quietive ,an die grofsen und
kleinen Leute' (S. 133)- Vortrefflich wird hierbei die Bedeutung
der Perfönlichkeit des Predigers gewürdigt, für
die freilich manchmal die biblifchen Perfönlichkeiten
felbft eintreten müffen. ,Die Bereicherung des Innen- |

lebens anderer durch angemeffene Darfteilung des eigenen'
(S. 139) ift fchliefslich die Aufgabe. Der Ausfchöpfung des
Textes würde ich dabei doch eine gröfsere Bedeutung
als N. zumeffen. Dagegen bin ich wieder ganz einver-
ftanden mit der Würdigung des Antheils, den die Kunft,
die recht verftandene, an folcher Thatigkeit haben foll:
bei beiden handelt es fich um Vermittelung von Gemüths-
werthen und inneren Lebensgehalten (S. 140). Dabei kommt
dann auch die Beredfamkeit zu ihrem Rechte, wenn (S. 141)
gefordert wird, dafs die Rede fich genau einzurichten
hat nach der jeweils vorliegenden Situation ,der Leute';
da gilt es, das eine Mal von jenem höchften Standpunkt
hernieder, das andere Mal dazu aufzufteigen, anzuknüpfen
an das Vorhandene, alfo praktifch zu fein und doch auf
der Höhe des Glaubens zu bleiben, fo in den Motiven,
wie in den Quietiven. Bei nicht-einheitlicher Zuhörer-
fchaft räth N. gewifs mit Recht, Motive und Troft mög-
lichft hoch zu greifen in der Hoffnung, dafs den Zurückgebliebenen
wenigftens die Ahnung des Rechten aufgehe.
Wie dann fchliefslich der Inhalt der Motive und Quietive
im Einzelnen zu verwerthen wäre, zeigt N. einerfeits
kritifch durch Vorführung von einer Reihe von Predigern
(die Auswahl erfcheint etwas fubjectiv): Schrenk, Idel,
Gerok, Dörries, Bitzius, Hilty (der Rechtsgelehrte unter
den Predigern!) und Naumann, von denen die beiden
letzten fein Predigerideal am Meiden dardellen, anderer-
feits in eigenen pofitiven Ausführungen, die von reicher
und ernfter feelforgerlicher Erfahrung Zeugnifs ablegen.

Ich konnte den reichen (und zugleich in vortrefflich-
lebendiger Sprache ausgedruckten) Inhalt des N.'fchen
Buches nicht wohl in gröfserer Kürze vorführen, wenn
ich feiner Bedeutung gerecht werden wollte; denn diefe
fcheint mir grofs zu fein, nicht blofs für die Homiletik,
der hier geradezu eine neue Bahn gewiefen wird, fondern
auch für die gefammte Theologie, die, wie der Verf. auch
gelegentlich andeutet, fich angefichts eines folchen Ver-
fuchs wieder darauf wird befinnen müffen, dafs und in
welcher Weife fie in allen ihren Disciplinen Beiträge zu
liefern hat und liefern kann zu dem höchften praktifchen
Thun eines Boten des Evangeliums an unfere Zeit. Die
praktifche Theologie aber insbefondere wird von diefem
Werke, worin die Drews'fche Volkskirchenkunde erft-
mals in gröfserem Rahmen Verwendung gefunden hat,
nur heilfamfte Anregung und Förderung davontragen.
Hier bahnt fich in ihr ein Neues an, das fchöne Fruchte
für die Zukunft verfpricht.

Heidelberg. Baffermann.

Knoke, Konfift.-Rat, Prof. D. K. Grundriss der Pädagogik und
ihrer Geschichte seit dem Zeitalter des Humanismus. Vom

evangelifchen Standpunkte dargeflellt. Zweite ver-
befferte und erweiterte Auflage. Berlin 1902, Reuther
& Reichard. (VIII, 240 S. gr. 8.) M. 4.50; geb. M. 5.50

Nach acht Jahren ift auf die erfte Auflage diefes Grund-
rifses der Pädagogik die vorliegende zweite gefolgt; ein
erfreuliches Zeichen, dafs das Werk gebührende Beachtung
gefunden hat. Zur Einführung in das vielumftrittene Gebiet
der Pädagogik ift das Buch wohl geeignet, und der
evangelifche Standpunkt, den der Herr Verfaffer geltend
macht, wird manchem Lefer eine heilfame Wegleitung
fein. Nach einer Einleitung (S. 1—20), die Begriff und
Möglichkeit der Erziehung, fowie die Pädagogik als Wiffen-
fchaft von der Erziehung behandelt, giebt der erfte Theil
(S. 21—132) einen Abrifs der Gefchichte der Pädagogik,
während der zweite Theil (S. 133—234) das Syftem der
Pädagogik darfteilt als Lehre vom Unterricht (S. 136—178)
und als Lehre von der Erziehung (S. 178—234); ein ausführliches
Regifter befchliefst das Werk.

Der Herr Verfaffer legt mit vollem Recht auf die Darfteilung
des .Syftems der Pädagogik' das Hauptgewicht,
weil er hierin feine reichen Erfahrungen und die durch Er-