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Ausgabe:

1903 Nr. 4

Spalte:

119-122

Autor/Hrsg.:

Niebergall, Friedrich

Titel/Untertitel:

Wie predigen wir dem modernen Menschen? 1. Teil: Eine Untersuchung über Motive und Quietive 1903

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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H9

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 4.

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der verfchiedenften Gefichtspunkte zu einer erften Einführung
in die Probleme der Religiönsphilofophie fich
eignen und fo feinen befonderen Zweck erfüllen möchte.

Strafsburg i. E. E. W. Mayer.

Niebergall, Pfr. Lic. F., Wie predigen wir dem modernen
Menschen? Eine Unterfuchung über Motive und Quie-
tive. Tübingen 1902, J. C. B. Mohr. (IV, 181 S. g. 8.)

M. 3.-

Es begegnet nicht fehr oft, dafs man ein Werk homi-
letifchen Charakters mit ungemifchter Freude anzeigen
kann; denn in der Regel ift auch in den tüchtigeren das
Brauchbare, ja Vortreffliche mit theoretifchen und fyfte-
matifchen Vorausfetzungen vermifcht, die man ablehnen
zu mühen glaubt und die einem auch den Genufs
und die Verwerthung jener brauchbaren Beftandtheile
zum Minderten fehr erfchweren. So fteht es z. B. mit
Steinmeyer's nachgelaffener Homiletik (vgl. meine Anzeige
in der Theol. Rundfchau 1902, 478 ff.). Von Nieber-
gall's Buch dagegen bin ich überzeugt, dafs es nicht allein
Leute meiner theologifchen Richtung und homiletifchen
Obfervanz grofsen Genufs verfchaffen und reiche Förderung
und Anregung bieten wird, fondern allen denen,
für welche die wirkfame Geftaltung unterer evangelifch-
chriftlichen Predigt ein Gegenftand hohen Intereffes und
ernfter Sorge ift.

Der Verf. verzichtet auf eine homiletifche Theorie,
er proclamirt auch keinen theologifchen Standpunkt; ihm
kommt es lediglich darauf an, das Evangelium von
Chriftus auf eine wirkfame Weife an heutige Menfchen
heran oder beffer in fie hineinzubringen. Man kann wohl
vom Standpunkte einer homiletifchen Theorie aus zweifeln,
ob der Predigtzweck nicht zu enge definirt ift mit dem
Satze (S. 1): es handelt fich darum, den Menfchen Motive
darzubieten, die ihre (eigenen) Beweggründe überbieten,
und Troftgründe, die ihre Trauer befeitigen, allein man
wird nicht widerfprechen können, wenn, die Richtigkeit
diefes Predigtzweckes einmal zugegeben, die Forderung
erhoben wird (S. 141): ,Die Predigt foll aus der Kennt-
nifs zweier Dinge herauswachfen, des Evangeliums und
der Leute, denen es gilt'. Damit ift die Anlage des N.'fchen
Buches gegeben: es wird zuerft ,das Evangelium', d. h.
das Neue Teftament in feinen verfchiedenen Beftand-
theilen daraufhin unterfucht, welche Motive und Quietive
es enthält, und es wird dann der Menfch, fowohl im Allgemeinen
d. h. pfychologifch, als auch in feinem heutigen
thatfächlichen Zuftand d. h. volkskundlich, fo betrachtet,
dafs deutlich wird, wie Motive und Quietive und welche
auf ihn Eindruck zu machen vermögen. Ein dritter Theil
,die Verkündigung an unfere Zeit' combinirt dann beides
und fucht, fyftematifch und praktifch, dadurch die Richtwege
für eine heutige wirkfame Predigt zu finden.

So klar und einleuchtend nun diefe Eintheilung ift,
fo reich an fruchtbarem Inhalt find die einzelnen Theile.
Was den erften betrifft, fo mufs es als ein aufserordent-
lich glücklicher Gedanke bezeichnet werden, in den neu-
teftamentlichen Schriften einmal dasjenige hervorzukehren
und zufammenzuftellen, was an praktifch-wirkfamem Gehalt
wirklich in ihnen fteckt. Das ift eine Art von prak-
tifcher ,neute(tamentlicher Theologie', welche neue Gefichtspunkte
eröffnet und doch nur wie eine Anwendung
des alten Schleichmacher'fchen Satzes erfcheint, dafs die
praktifche Theologie die Krone aller Theologie fei. Das
Verfahren ift dabei ebenfo hiftorifch, wie das der ,neu-
teftamentlichen Theologie' auch, nur dafs. was bei diefer
im Vordergrund fteht, das theoretifch-intellectuelle Moment
, hier zu Gunften des praktifchen zurücktritt. Wer
mit N. der, m. E. richtigen, Ueberzeugung ift, dafs die
neuteft. Schriften von Haufe aus praktifcher Natur find,
wird den hier gethanen Schritt als einen auch der neuteft.
Wiffenfchaft förderlichen begrüfsen; auch die ,neuteft.

j Theologie' kann von N.'s Ausführungen Manches lernen.
Vor allem Eines: für N. fällt das Intereffe, jedem neuteft.
Schriftfteller ein gefchloffenes ,Syftem'zuzufchreiben, ganz
fort; Widerfprüche bei einem und demfelben Autor ge-
niren ihn nicht, er erkennt, dafs ,den biblifchen Schrift-
ftellern über der Einheitlichkeit des Zweckes das Gefühl
1 für die Einheitlichkeit der Theorien abgeht' (S.48). Damit
kommen wir ficherlich weiter, als auf dem alten Wege
und es erfüllt fich, was Steinmeyer irgendwo, freilich in
anderem Sinne, gefagt hat: Die praktifche Exegefe erft
führt in den Kern des Verftändnifses ein. Ich mufs es
mir verfagen, hier auch nur zu skizziren, wie vortrefflich
der fynoptifche Jefus, der Apoftel Paulus und die johanne-
ifchen Schriften unter dem angegebenen Gefichtspunkte
hier behandelt werden. Nur das will ich hervorheben,
dafs dabei die Refultate der kritifchen Arbeit freiefte und
muthigfte und eben damit zugleich auch praktifchfte Verwendung
finden. Denn richtig Hellt N. (S.4) als leitendes
Princip auf, dafs die objectiv-wiffenfchaftliche Behandlung
der Dinge fchliefslich die allerpraktifchfte ift und es keine
beffere Praxis giebt, als die Dinge rein um ihretwillen
gründlich kennen und beherrfchen zu lernen. Ich darf
hier wohl mit Freuden Nachklänge jenes Programms
finden, mit dem ich vor langen Jahren, 1879, den erften
Jahrgang der Zeitfchrift für prakt. Theologie eröffnet
habe. Dafs aber fchliefslich auch das fyftematifche Intereffe
bei diefem Verfahren nicht zu kurz kommt, zeigt
die Zufammenftellung der auf folchem Wege gefundenen
Refultate: es ergeben fich 3 Gruppen von Motiven bezw.
Quietiven: 1. der Hinweis auf zeitliche Vortheile, 2. auf
transcendente Folgen, 3. der Appell an vorhandene re-
ligiöfe Befitzthümer und Kräfte, die es zu pflegen und zu
nützen gilt, wobei diefe drei Gruppen durch eine ,Vertical-
linie', die Bedeutung der Perfon Chrifti felbft, verbunden
find. An folcher Syflematik hat fich zu prüfen, wer
,fchriftgemäfs' predigen will.

Im zweiten Theil zeigt fich N. zunächft, wie zu erwarten
, als pfychologifcher Realift; er bemüht fich den
[ ,Mechanismus der Seele' zu durchfchauen, den Menfchen
J zu befchreiben, wie er wirklich ift, nicht wie ihn fich die
Theologen einbilden, denen es nicht darauf ankommt,
,das Wort Gottes in's Blaue hinein auszuwerfen'. Auch
hier können wir nicht auf das Detail des Inhalts eingehen,
fondern nur unfer volles Einverftändnifs mit dem Satze
ausfprechen, dafs die Gefühle, da fich in ihnen die Be-
dürfnifse ausfprechen und die Güter reflectiren, ,das
Primäre, den unterften Grund im Menfchen bilden' (S. 67),
fo dafs ,die Beftimmbarkeit durch Werthe und Güter' —
natürlich auch höherer und höchfter Art, — ,die befte
Grundform alles menfchlichen Lebens und Handelns' ift
(S. 69); hier liegen die Triebfedern aller Activität; in der
! Erfchliefsung und Darbietung höherer und höchfter Güter
ift daher der Kern alles hinaufführenden Wirkens auf
Menfchen zu erblicken, das eben deshalb, trotz diefer
j realiftifchen Pfychologie, nicht peffimiftifch zu verzagen
j braucht, weil es eine Scala der Gefühle giebt, auf der fie
! fich heben und wandeln laffen, und Gefetze der Ideen-
' affociation und des ,Motivwandels', vermöge deren, bei
I richtiger Handhabung von ,Sache, Begriff und Wort',
j eine wirkliche ,Beeinflufsung' fehr wohl möglich ift.

Jedoch hängt diefe nicht blofs von der Kenntnifs
des Menfchen, fondern befonders der Menfchen ab;
j daher werden nun in zweiter Linie ,die Leute' gefchildert,
und zwar in 3 Kategorien: 1. die Durchfchnittsleute,
2. die Kirchlichen, 3. die Gebildeten unter den Unkirchlichen
, alle unter dem beherrfchenden Gefichtspunkte,
I welche Motive nnd Quietive in ihnen thatfächlich wirk-
fam find oder in ihnen wirkfam werden können. Diefen
Abfchnitt flehe ich nicht an für ganz ausgezeichnet zu
erklären. Hier zeigt fich umfaffende, fcharfe und tief-
fchauende Beobachtung, ein gefunder Realismus, der die
j Dinge nimmt, wie fie find, und doch verbunden mit einem
! hohen Idealismus, der in diefer Befchaffenheit der Dinge