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Ausgabe:

1903 Nr. 2

Spalte:

56-57

Autor/Hrsg.:

Reischle, Max

Titel/Untertitel:

Christliche Glaubenslehre in Lehrsätzen, für eine akademische Vorlesung entwickelt 1903

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 2.

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Verfaffer hat geglaubt, aus Gerechtigkeitsgründen fich für
unverkürzte Wiedergabe der zahlreichen pornographifchen
Stellen aus ultramontanen Moralilten entfcheiden zu follen.
Seine reiche Materialienfammlung foll ein vollständiges und
zuverläffiges Nachfchlagewerk bieten.

Vorangefehickt ift dem Ganzen ein kurzer Aufrifs der
Sittlichkeit des Chriflenthums, meift neuteflamentliche
Bibelftellen ettfifcher Natur nach der Ueberfetzung Weiz-
fäckers; diefe Voranflellung foll dem Lefer den richtigen
Mafsftab zur Beurtheilung der ultramontanen Moral geben.
Die Hoensbroech'fche Beurtheilung diefer Moral findet
fich am Schluffe des Buches (S. 575—599); fie fällt vernichtend
aus. Hatte der Verfaffer leinen eiften Band auf
Grund der von ihm mitgetheilten Gefchichts-Thatfachen
mit dem Urtheil gefchloffen: ,Es ift eine unbeftreitbare
Wahrheit: die Päpfte haben jahrhundertelang an der Spitze
eines Mord- und Blutfyftems geftanden, das mehr Menfchen-
leben gefchlachtet, mehr kulturelle und foziale Verwuft-
ungen angerichtet hat als irgend ein Krieg, als irgend eine
Seuche, ,.im Namen Gottes" und „im Namen Chrifti" — fo
lautet jetztfein EndurtheilüberdieultramontaneMoral:, Unter
Gutheifsung und Förderung der Päpfte, „der von Gott be-
ftellten, mit Irrthumslofigkeit ausgerüfteten Hüter der chrilt-
lichen Sittlichkeit", hat fich innerhalb der katholifchen Kirche
ein Moralfyftem entwickelt, deffen Inhalt in grofsen und
wichtigen Theilen in fchneidendem Gegenfatzezum Chriften-
thum und zur natürlich menfchlichen Sittlichkeit fleht'.
Beide Urtheile feien ,die unaustilgbare Grabfchrift für die
„Göttlichkeit" des Papftthums'. ,Wer in der Gefchichte
lefen und durch fie lernen will, für den ift das „göttliche"
Paphtthum eine ungeheure Unwahrheit' (S. 599).

Ich möchte mir zuerft über die Methode des Ver-
faffi-rs ein Bedenken erlauben: Die zahlreichen Citate, die
der Verfaffer in nackter Objectivität wirken laffen will,
find blofs nach moraltheologifchen Loci gruppirt; Schrift-
fteller des elften bis zu folchen des neunzehnten Jahrhunderts
und der Gegenwart werden abfichtlich ohne jeden
hiftorifchen Zufammenhang in bunter Reihenfolge citirt,
weil ,es für den Ultramontanismus überhaupt keine Ver-
fchiedenheit der Zeit, kein Mittelalter und keine Neuzeit'
gebe (Vorwort S. VIII). Aber für eine gefunde Kritik
der gegnerifchen Morallehren wird doch die Zeit, in
welcher fie aufgeftellt wurden, nicht zu ignoriren fein; der
hiftorifche Sinn wird eine ,Zufammenwürfelung' der-
artigerCitatenicht für die wünfchenswertheMethode halten.

Was fodann den Inhalt betrifft, fo ift der Titel ,die
Moral des Ultramontanismus' dahin zu verftehen, dafs der
VerfafferMorallehren ultramontan er Theologen vom elften
bis zum zwanzigfien Jahrhunderte vorführen will; wie
diefe Moral fich in der Praxis geftaltet, was ,Moral des
Ultramontanismus' im katholifchen Volke thatfählich ift,
wird nicht in Erwägung gezogen. Zu einer vollftändigen
Darftellung ,der Moral des UltramontanismuP würde aber
doch diefe Seite auch gehören, und dann hätte eine
Schilderung der Lichtfeiten das Ultramontanismus, die
vielfeitigen Verzweigungen der «Charitas', nicht fehlen
dürfen. (Darüber, dafs die Hauptträger der katholifchen
Charitas alle ultramontan find, befleht wohl kein Zweifel.)
Eine auf S. 583 uns begegnende dahin gehende Bemerkung
genügt nicnt. Der Verfaffer verfährt eben einfeitig
polemifch. — Ferner fcheint es mir nicht richtig, für alles,
was die Moraltheologen vom 11. bis zum 20. Jahrhunderte
gefchrieben haben, das Papftthum verantwortlich zu
machen; indirect verantwortlich ift das heutige Papftthurn
allerdings für das Thun und Treiben feiner Gläubigen;
aber als directe läfst fich eine folche Verantwortlichkeit
nicht im einzelnen behaupten. Es ift empfehlenswerth,
dafs fich die Polemik vor jedem Zuviel der Beweisführung
hütet; fie wirkt dann um fo ficherer.

Auch der vorliegende Band zeigt die eminente Be-
lefenheit des Verfafftrs in der ultramontanen, befonders
in der jefuitifchen Literatur; da aufserdem ein detaillirtes
Sach- und Perfonenverzeichnifs beigegeben ift, fo wird es

als Nachfchlagewerk fehr wichtige Dienfte leiften; man
kann aufserordentlich viel aus ihm lernen, und dem grofsen
Publicum wird es die Augen öffnen.

Auf S. 212—215 kommt der Verfaffer auf den Satz
,der Zweck heiligt das Mittel' zu fprechen; er findet ihn
,klar und deutlich' in verfchiedenen Aussprüchen jefui-
tifcher Morahften ,enthalten'. Der Jefuit Reichmann
hat mich wegen derfelben Sache in Brieger's Zeitfchr. f.
Kgefch. XXIII (1902) angegriffen; ich habe, da ich mit
anderen, unauffchiebbaren Arbeiten zu thun hatte und
bald darauf auch noch an einer fchweren Blinddarmentzündung
erkrankte, dem Jefuiten noch nicht antworten
können, conftatire aber vorläufig, dafs Graf Hoensbroech,
der vorzügliche Kenner des Jefuitismus, ebenfo urtheilt
wie ich (ich hatte die Formel geprägt: Der Satz ift in
Schriften von Jefuiten zwar nicht wörtlich, aber transparent
enthalten). D. Zöckler, der ebenfalls von Reichmann
angegriffen war, hat bereits prompt geantwortet; feine
Schrift ,die Abfichtslenkung etc.' (1902) ift eine treffliche
Abfertigung des Jefuiten.

Göttingen. Paul Tfchackert.

Reischle, Prof. D. Max, Christliche Glaubenslehre in Lehrsätzen
, für eine akademische Vorlesung entwickelt. 2. Auflage
der 1899 als Manufcript gedruckten Leitfätze. Halle
a. S. 1902, M. Niemeyer. (VIII, 158 S. gr. 8.) M. 2.—

Im Jahre 1899 liefs der Verf., um des läftigen Dic-
tirens in der Vorlefung über chriftliche Glaubenslehre
überhoben zu fein, die Paragraphen des Dictates, die fchon
einer mehrmaligen Umarbeitung unterzogen waren, als
Manufcript drucken. Obgleich urfprünglich nicht für die
Ocffentlichkeit beftimmt, fand die Brofchüre eine allgemeine
, weit über Halle hinausgehende Verbreitung und
erfreute fich einer fehr günftigen Aufnahme. Diefe
neue, nunmehr der Oefientlichkeit völlig übergebene
Auflage, ift deshalb eine fehr dankenswerthe Gabe. Obgleich
das Büchlein in der Gefammtanlage dasfelbe geblieben
ift, hat es eine fehr gründliche Revifion erfahren.
Die Seiten find um zwanzig vermehrt worden, die
Paragraphen von 119 auf 127 geftiegen. Aus einem für
den Lefer, der fich bewufst ift, wie viel es in der dog-
matifchen Arbeit auf die Klarheit und Prägnanz des
Ausdrucks ankommt, höchft fruchtbaren Vergleich der
beiden Auflagen ergiebt fich, dafs kaum über zehn
Paragraphen völlig unverändert geblieben find. Einige
neue find eingefügt worden (fo z. B. § 14 ,Das Wefent-
liche und Bleibende im Chriftenthum' vgl. 1. A. § 4 und
§ 13. 3; § 18, erweiterte und klarer formulirte Ueberfchrift;
§ 262 vergleiche mit §24*; § 302 mit § 281; § 56 ,Das
Verhältnifs des chriftlichen Schöpfungsglaubens zu dem
wiffenfchaftlichen Weltbilde der Gegenwart' vgl. mit 521;
vor allem die erläuternden Umarbeitungen der chrifto-
logifchen §§ 88—91, vgl. mit §81. 83. 84; obenan §94—96,
vgl. mit § 87—88'). Meift glücklich find die Verfchiebungen,
namentlich die Zerlegung eines § verfchiedenen Inhaltes
in zwei fachlicher und lichtvoller gruppirte (§ 221 in
§ 23. 242; § 341 in § 36. 372; § 751 in § 80. 812). Vor
allem vrrräth lieh die nachbeffernde Hand in den zahlreichen
Zufätzen, die zur Erläuterung oder zur Begründung
des Gebotenen meiftens vortrefflich geeignet find. Nur
feiten dürften die Fälle fein, in denen die urfprüngliche
Faffung vielleicht den Vorzug verdiente (als folche
möchte ich bezeichnen § 115. 3, wo die Antithefe in
der reformatorifchen Frageftellung der Rechtfertigung
weggefallen ift; unglücklich, weil verneinend, fcheint
mir die Aufnahme des Begriffes von meritum, § 91.
2. 8; § 94. 4; cf. § 71 3 a., den m. E. möglicherweife
irreführenden Ausdruck ,Recht auf Gotteskindfchaft'). —
Es ift dem Verf. aufs Befte gelungen, die .Grundlegung
der chriftlichen Glaubenslehre' (§ 3—41) fo zu
geftalten, dafs die wefentlichften Probleme der Apolo-