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Ausgabe:

1903 Nr. 26

Spalte:

722-723

Autor/Hrsg.:

Paeuer, Karl

Titel/Untertitel:

Der Kampf um Wohlfahrt 1903

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 26.

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Anfchauungen gegeben, welche die Stellung des Einzellebens
im Gefammtleben verkennen. Der Grundfehler fei
der, dafs man, wie die Jungkantianer' in confequenter
Verfolgung des Grundgedankens der ,Kritik der reinen
Vernunft' annehmen, Ding und Urfache nicht mehr als
felbftändige Wirklichkeiten gelten laffen will, während
die ,Altkantianer' von ihrem Standpunkt der Bejahung
des Dinganfichbegriffs aus zur Anerkennung der nicht
blofs empirifchen, fondern fubftanziellen Wirklichkeit des
Dinges und der Urfächlichkeit desfelben fortfchreiten
müfsten. Auch für den Pofitivismus, der in feiner Be-
fchränkung auf die Erkenntnifs der Erfcheinungen es
dahingestellt fein lauen will, ob fich in ihnen ein Wefen der
Dinge an fich äufsert oder nicht, bleibt zuletzt nichts übrig
als lubjectlofe Erfcheinungen, die einer anderen, ebenfalls
fubjectlofen Erfcheinung erfcheinen. Diefen Confequenzen
einer Aufhebung alles individuellen Lebens gegenüber hat
Nietzfche das Verdienft, in kraftvollem Lebensgefühl das
Recht des Einzellebens geltend gemacht zu haben.

Wie ift nun aber das Verhältnifs des Einzellebens
zum Gefammtleben näher zu denken? Leben ift nichts
anderes als die fpecififche Bethätigung innerer Eigenart.
Diefe Bethätigung kann aber, wie die Betrachtung der
Organismen zeigt, ftets nur fo erfolgen, dafs die Einzelleben
innerhalb des Gefammtlebens und in Wechfel-
wirkung mit diefem leben, aber in diefen Wechfel-
wirkungen nicht aufgehen, fondern eine relative Selb-
ftändigkeit bewahren. Die Auffaffung Lotze's ift daher
nicht zureichend, welcher alles Gefchehen als ein blofses
Jnbeziehungftehen' auslegt. Denn das würde darauf
hinauslaufen, dafs nur das Gefammtleben eine Selbftän-
digkeit befäfse, während die Einzelleben überhaupt keine
wahren Lebenseinheiten darftellten. Das individuelle
Leben fordert aber einen inneren Einheitspunkt, ein
inneres Wirken bez. Ergehen und Erleiden des einzelnen
Lebewefens als folchen und nicht nur im Ganzen. Was
diefe kritifche Stellungnahme zu Lotze (S. 40 f.; 91) betrifft
, fo fteht der Verf. ihm wohl näher, als er felbft
Wort haben will. Für Lotze ift zwar alles Endliche
Action des Unendlichen, aber die ,realen Wefen' find
doch wirkungs- und leidensfähige Mittelpunkte aus- und
eingehender Wirkungen, und ihre Realität, d. h. ihre
relative Selbständigkeit befteht gerade darin, dafs fie als
geiftige Elemente ,für fich' find.

Im weiteren Verlaufe feiner Beweisführung gelangt
der Verf. von der Thatfache aus, dafs ich unmittelbar
nur meine eigene Seele kenne und andere relativ
felbftändige Seelen oder Einzelleben höchstens mittelbar
erkennen kann, zur genaueren Prüfung der Frage,
ob wirklich Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Urfächlichkeit
nur Formen des fubjectiven Anfchauens und Denkens
find. Sollte dies nämlich für alle diefe Punkte
feftftehen, fo würde es um das individuelle Leben gefchehen
fein. Das Refultat ift, dafs zwar der Raum
von Kant mit Recht als blosse Anfchauung bestimmt
wird, dafs aber die Urfächlichkeit und mit ihr die von
ihr nicht abtrennbare Zeitlichkeit und die fie erft ermöglichende
Dinglichkeit nicht blofse Formen unferer Auffaffung
, fondern Formen des Seienden find. Dabei tritt
folgender Beweisgang als der beherrfchende hervor.
Nehmen wir einmal an, dafs die fpecififche Art unferes
Denkens erft die Form urfächlichen Gefchehens erzeuge,
in welche wir dann alle Ereignifse bringen, fo würde fich
das urfächliche Gefchehen jedenfalls auf das Vorgeftellte
bez. Gedachte befchränken muffen, fonft aber nicht
vorkommen. Läfst fich nun aber nachweifen, dafs Letzteres
dennoch der Fall ift, dann kann die Urfächlichkeit nicht
erft durch die Eigenart des Denkens entstehen, fondern
mufs den Ereignifsen als folchen, abgefehen von der
Subjectivität des Denkens, zukommen (S. 56 ff.). Dies
ift aber beim Gefühl der Fall, das ein Erlebnifs, alfo ein
urfächliches Gefchehen darftellt, das als eigenartiges feinen
Urfächlichkeitscharakter nicht von dem Denken entlehnen

kann. Dem Einwand, dafs dennoch erft der Denkende
als folcher auf das Gefühl den Charakter des urfächlichen
Gefchehens übertrage, fucht der Verf. mit dem Hinweis
darauf zu begegnen, dafs man Gefühle überhaupt nur
fühlend reproduciren könne (S. 67), beachtet aber dabei zu
wenig die Thatfache, dafs wir ftets auch fonft Erlebnifse,
die nicht felbft Denken find, denkend in Beziehung
bringen, und dafs er dies felbft mit den Gefühlen thut.

Das Gefühlserlebnifs ift ihm alfo der unwiderlegliche
Beweis des wirklichen Seins von Subftanzialität und
Caufalität zunächst für die Innenwelt, dann aber, als
Gefühl eines von den Objecten der Wahrnehmung herrührenden
Zwanges, auch für die Aufsenwelt und damit
für deren Existenz. Näher wird der Gefammturfache
in ihrem Verhältnifs zu den Einzelurfachen fowohl Immanenz
alsTransfcendenz zugefchrieben, die letztere nach
zwei Seiten hin, fowohl in Beziehung auf die Wirkungs-
gemeinfchaft der Einzelurfachen untereinander, als auf
das urfächliche Verhältnifs, in welchem die Gefammturfache
zu jeder Einzelurfache als folcher und ihren Wirkungen
fteht (S. 100). Der individualiftifche Univerfalis-
mus des Verf.'s vollendet fich dann in der Annahme
von drei Hauptfunctionen für alles Einzelleben: Trieb,
Gefühl und Vorstellung, und in einer Entwicklung des
Einzellebens und Gefammtlebens von der niedrigsten
Stufe der Uratome oder Dynamiden bis zum Menfchen,
einer Entwicklung, welche der perfönliche Weltgeift immer
höheren Zielen zuleitet.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Paeuer, K. K. Oberlandesger.-Rath Dr. Karl, Der Kampf um
Wohlfahrt. Zweite Ausgabe von desfelben Verfaffers
Pfeudonym L. Carnio „Die Menfchenfeele" — ergänzt
mit einer fachlichen Vorrede und Kritikenerwiderung.
Leipzig 1901. Graz, Selbftverlag. (154S.gr. 8.) M. 3.—
Das Buch ift zuerft unter dem Titel: ,Die Menfchenfeele
' und unter dem Pfeudonym L. Carnio (Verlag C.
Konegen, Wien, 1889) als ein ,Beitrag zur Analyfe und
Erziehung des Menfchen' erfchienen. Da der Verf. von
einer Conftruction der Seele als eines ,für fich bestehenden
Agens' aus eine Theorie menfchlicher Wohlfahrt entwerfen
wollte, und das Jahrzehnt, zu deffen Abfchlufs feine
Schrift erfchien, ,noch ganz im Banne das Materialismus
stand', fo glaubte er feine grundlegende Idee über das
Menfchenwefen' dem Materialismus gegenüber fchon im
Titel andeuten zu müffen. Nachdem nun aber ,die Seelennegationen
in der Literatur und Tagespreffe zufehends
verftummt' find, hat er in der Neuausgabe feines Werkes,
in welcher der Verf., k. k. Oberlandesgerichtsrath, auch
die Pfeudonymität verlaffen hat, ftatt der grundlegenden
Idee den Endzweck desfelben, die ,focialpolitifche Pointe'
feiner Abhandlung: die ,logifche Begründung der Wohlfahrtstendenz
unter den Menfchen' (S. 12) im Titel zum
Ausdruck gebracht.

An die Stelle des ,Kampfes um's Dafein' mufs der
,Kampf um die Wohlfahrt' treten, für welchen die Befriedigung
der materiellen Intereffen nur die niederste
Stufe bildet, der aber feinem wahren Wefen nach ein
friedlicher Wettstreit ift um die höchften Lebensgüter, um
die Befriedigung der moralifchen und äfthetifchen Triebe
und des Drangs nach Wahrheit. Die Erkenntnifs des Individuums
in feiner Doppelnatur, das einheitliche vernünftige
Zufammenfaffen feiner idealen fowie materiellen Kräfte,
Strebungen und Perceptionen ift ,der archimedifche Punkt,
von welchem aus unfer in den Details der wiffenfchaftlichen
Analyfe rückftändig gewordenes Zeitgefchlecht zu einer
neuen Gedankenrichtung emporgehoben werden foll'(S. 17).

Zur näheren Begründung dient zunächst der Verfuch
einer Widerlegung des Materialismus. Schon der Un-
ermefslichkeit des Weltalls gegenüber reicht der Materienbegriff
nicht aus. Noch weniger ift es möglich, der Gehirn-