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Ausgabe:

1903 Nr. 26

Spalte:

720-722

Autor/Hrsg.:

Schwartzkoppf, Paul

Titel/Untertitel:

Das Leben als Einzelleben und Gesamtleben 1903

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 26.

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Lehre, den Schulunterricht, die Reform der Univerfitäten,
den Cultus, die Ehegerichtsbarkeit, die ehemalig bifchöf-
liche Jurisdiction, Pfarrdotirung, Säcularifirung der Klöfter
und Stifter, Ordnung der Armenpflege u. a. — fchade,
dafs v. B. hier nicht mehr an Beifpielen erläutert hat,
zumal die Verhältnifse in den einzelnen Ländern doch
recht verfchieden liegen. Von dem ius reformandi unter-
fcheidet nun v. B. den Grundfatz: cuius regio eins religio
fo fehr thatfächlich feine Praxis regelmäfsig mit dem
ius reformandi verbunden war. Beide find verfchieden,
fofern jener Grundfatz die Intoleranz involvirt, diefes
aber nicht. Vf. fucht (S. 34) jenen Grundfatz wefentlich
als Polizeimafsregel zu verliehen, wohl zu einfeitig, da der
mittelalterliche Einheitsgedanke der Kirche jedenfalls
mitfpielt. Denn von da aus ift es zu erklären, wenn feitens
der Lutheraner nicht fowohl das cuius regio etc. als vielmehr
das mittelalterliche Ketzerrecht gegen die Ketzer
mobil gemacht wurde (zu S. 36).

Der Speyrer Reichstag von 1529 wie der Augsburger
von 1530 hoben rechtlich das ius reformandi in diefer
Form auf, ohne freilich praktifch mehr Bedeutung zu
haben als der Gegenreformation gefetzliche Gründe zu
geben. Darin aber geht v. B. ficher zu weit, wenn er zugleich
mit dem Augsburger Reichstage die Lutherifchen
als .felbftändige Religionsgefellfchaft' auftreten läfst und
fagt: ,es ftanden fleh nicht mehr die reformirten und die
nichtreformirten Glieder der fichtbaren katholifchen Kirche
gegenüber, fondern in Zukunft die Augsburger Confeffions-
verwandten und die Römifch-Katholifchen als zwei völlig
gefonderte Gemeinfchaften auf dem Grunde der unficht-
baren chriftlichen Kirche; wer nach 1530 die lutherifche
Lehre einführte, reformirte nicht die alte Kirche im Gebiet
feiner Herrfchaft, fondern trat zu der neuen Lehre über'.
Diefe Auffaffung ift weder theologifch, wie die Confessio
Augustana zeigt, noch juriftifch, wie der Religionsfriede
von 1555 zeigt, richtig. Fürftenau, den v. B. bekämpft,
hat ganz richtig gefehen, wenn er jenen Umfchwung erft
von 1555 datirt — und auch da lag in der Faffung:
Suspenfion der bifchöflichen Jurisdiction noch der alte
Einheitsbegriff zu Grunde! (vgl. v. B. S. 47).2 v. B. legt
im Augsburger Religionsfrieden allen Nachdruck auf § 17,
der alle anderen Confeffionen aufser Katholiken und
Lutheraner ausfchlofs. ,Das ius reformandi hat feine
Freiheit und Schrankenlofigkeit' eingebüfst. Die hat es
aber doch nie befeffen! Was v. B. fagen will, ift das
von Rieker (die rechtliche Stellung etc. S. 119 ff.) Erläuterte
, dafs das ius reformandi im obigen Sinne fleh jetzt
wandelt in ein rein formales Recht, nur die Confeffion
zu beftimmen, ohne an derfelben etwas ändern zu dürfen
(vgl. v. B. S. 44, Worte, die erft durch den Vergleich
mit Rieker klar werden). Wie aber von hier aus v. B. das
reservatum ecclesiasticum rechtfertigen will (S. 45), ift mir
nicht verftändlich geworden.

Bei der Erläuterung der praktifchen Bedeutung des
ius reformandi im Weftfäl. Frieden entfeheidet fleh v. B.
für die Auffaffung desfelben als mit der Landeshoheit
verbundenen felbftftändigen Rechtes, nicht eines Aus-
flufses der Landeshoheit, und betont — m. E. mit Recht—,
dafs in Art. VII § 1 nicht gefagt fei, dafs die Beftimmun-
gen über das Verhältnifs zwifchen Augsburgifchen und
Katholiken auch für die Reformirten gelten follen, vielmehr
nur eine authentifche Interpretation des Ausdrucks
Augustanae confessioni addicti gegeben fei, (nämlich fowohl
Luthcrani wie reformatio es bleibt alfo nach wie
vor die Zweiheit: Augsburgifche und Katholiken). Die
Verfchiedenheit von ius reformandi und Cuius regio etc.
aber (vgl. oben) zeigt fleh darin, dafs während jenes nur
noch das exercitium religionis umfafst, diefes keine
wefentliche Einfchränkung erhält, fofern kein Reichsftand

1) Es darf hier wohl notirt werden, dafs vermuthlich Albr. v. Mainz
diefen Grundfatz zuerft ausfprach. Vgl. Kolde: Der Katholicismus und
das 20. Jahrh. S. 25.

2) Vgl. Rieker S. 123.

in der freien Uebung feines Territorialrechtes gehindert
werden follte — praktifch ein Widerfpruch, der aber z. B.
die Rigorofität Oefterreichs den Auswanderern gegenüber
decken konnte. Wie das Reformationsrecht, befonders
durch das Normaljahr, befchränkt wurde, wird von v. B.
genau gezeigt, ebenfo wie die übrigen Einzelbeftimmungen
{exercitium publicum, privatum etc.) genau erörtert werden.

In der Neuzeit nun bis zur Gegenwart tritt als
Charakterifticum das Hinftreben zur Trennung von Staat
und Kirche auf. Das preufsifche Landrecht ift hier für
die Praxis — die theoretifche Entwickelung läfst v. B. bei
Seite — mafsgebend geworden; das ius reformandi exercitium
religionis wandelt fleh in das ius reformandi pri-
vilegia d. h. das exercitium publicum als ftaatliehe Religionsübung
wird zu einer befonders privilegirten
herabgedrückt. Die Entwickelung geht vom preufsifchen
Landrecht durch die Rheinbundsacte, die Frankfurter
Nationalverfammlung von 1848 — die das ius reformandi
ganz befeitigen wollte — zur Gefetzgebung des Nord-
deutfehen Bundes und von da zur Vereinsgefetzgebung.
Ein Schlufscapitel erörtert die gegenwärtige Lage in den
Einzelftaaten.

In den z. Th. fehr verwickelten Rechtsfragen des ius
reformandi wird v. B.'s Buch ein im Allgemeinen ficherer
Führer fein und dankbar benutzt werden.

Giefsen. Köhler.

Schwartzkopff, Prof. Dr. Paul, Das Leben als Einzelleben
und Gesamtleben. Fingerzeige für eine gefunde Weiterbildung
von Kants Weltanfchauung. Allen Verehrern
Kants gewidmet. Halle 1903, C. E. Müller. (IV,
130 S. gr. 8.) M. 2 —

Das Thema diefer Schrift bildete von jeher eines
der Hauptprobleme der Philofophie, insbefondere der
Religionsphilofophie und der Ethik. Die Entwicklung
der Neuzeit hat aber diefem Thema eine befonders
pointirte Form gegeben, indem je eine Seite des darin
ausgefprochenen Gegenfatzes im Individualismus der
Philofophie Nietzfche's und im Socialismus der Gegenwart
feine extreme Ausprägung fand. Der Verf. be-
fchäftigt fleh allerdings vorwiegend mit dem metaphyfi-
fchen oder religionsphilofophifchen Begriffspaar: Individuum
und Univerfum, Einzelleben und Gefammtleben.
Hätte er die ethifch-fociologifche Seite des Problems,
das Wechfelverhältnifs zwifchen Individuum und Gemein-
fchaft eingehender berückfichtigt, fo hätte feine wohldurchdachte
Arbeit auch wohl mehr Fühlung mit der
concreten Wirklichkeit gewonnen. Auch den Gegenfatz
gegen Nietzfche's Individualismus bildet nicht in erfter
Linie der Pantheismus, fondern der Socialismus. Der
Verf. glaubt jedoch mit Recht in der Regel das Einzelleben
nicht dem Gemeinfchaftsleben, fondern fogleich
dem Gefammtleben entgegengefetzt zu haben (S. 129),
da nach feiner Auffaffung auch im Gemeinfchaftsleben
das Gefammtleben das Gemeinfchaftwirkende ift. Denn das-
felbe bilde fowohl für die Ein zelleben als für deren
kleinere oder gröfsere Gemeinfchaften allein die zufam-
menfchliefsende Einheit.

Bei diefer abftracteren Behandlung der Frage ift es
nun die Abficht des Verf.'s, die Einfeitigkeit einer Lebens-
anfehauung zu widerlegen, die entweder nur ein Allleben
kennt und in diefem jedes Individuelle auflöft, oder nur
Einzelleben, deren innere Zufammengehörigkeit fie verleugnet
. Er fleht darin Entleerungen der wirklichen
Lebensfülle und daher Entftellungen der Lebenswahrheit
und vertritt dem gegenüber eine Weltanfchauung, die
dem Allleben in feiner Wahrheit, nämlich dem Leben
der Individuen, wie des Univerfums gerecht werden foll,
und die er als individualiftifchen Univerfalismus
bezeichnet. Zur Begründung desfelben wird zunächft
eine kurze Kritik der auf Kant genützten modernen