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Ausgabe:

1903 Nr. 26

Spalte:

717

Autor/Hrsg.:

Neubauer, Richard

Titel/Untertitel:

Martin Luther, ausgewählt, bearbeitet und erläutert. Erster Theil. Dritte vielfach verbesserte und vermehrte Auflage 1903

Rezensent:

Köhler, Walther

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 26.

718

günftig. Johann Friedrich beftieg nach ihm den fächfifchen
Kurftuhl in jeder Beziehung gut vorbereitet. ,Er befafs
Verftändnis und Intereffe für die geiftigen Beftrebungen
feiner Zeit; er hatte in der Hauptfrage, die die Gemüther
bewegte, der religiöfen, eine beftimmte Anficht und
Stellung genommen, ohne doch auf feine Selbftändigkeit
gegenüber den Meinungen der Theologen zu verzichten,
er hatte fich auf dem Gebiete der Politik eine vielfeitige
Erfahrung, eindringende Kenntnifs aller Hauptfragen und
eine umfangreiche Perfonenkenntnifs erworben.'

Hoffentlich ift der Verfaffer im Stande, dem erften
Theil feiner Arbeit bald den zweiten folgen zu laffen.

Weimar. H. Virck.

Neubauer, Prof. Dr. Richard, Martin Luther ausgewählt,
bearbeitet und erläutert. Erfler Theil. Dritte vielfach
verbefferte und vermehrte Auflage. Mit einem
Holzfchnitt nach Lukas Cranach. (Denkmäler der
älteren deutfchen Literatur, herausgegeben von G.
Bötticher und K. Kinzel. III. 2.) Halle a. S. 1903, Buchhandlung
des Waifenhaufes. (XIV, 272 S. 8.) M. 240

Neubauer's Auswahl aus Luther's Schriften bedarf
keiner Empfehlung mehr, die rafche Aufeinanderfolge
der Autlagen (1890, 96, 1903) beweift zur Genüge, dafs
fie ihren Platz ausfüllt; doch fei, da das Buch in diefer
Zeitfchrift noch nicht angezeigt wurde, nachdrücklich auf
dasfelbe hingewiefen. Speciell für den literaturgefchicht-
lichen Unterricht an höheren Lehranftalten beftimmt,
kann es überhaupt zur Einführung in Luther dienen und
wird, um der fprachlichen Anmerkungen willen, auch
vom Lutherforfcher nicht ohne Nutzen gelefen werden.
Beginnend mit Luther's Leben bis zum Ablafshandel nach
Mathefius, bietet es aus feiner Schrift ,Wider Hans Worft'
1541 Luther's Aeufserungen über den Ablafshandel, die
95 Thefen (deutfch, aber warum nach der Jenaer Ausg.
von 1560?), die 3 reformatorifchen Hauptfchriften von 1520
(in Auswahl; die Schrift de captivitate wird ein wenig
fehr ftiefmütterlich behandelt), die Vorrede zu de votis
monasticis, den berühmten Brief an den Kurfürften bei
der Rückkehr von der Wartburg, Auswahl aus den
Wittenberger Predigten gegen die Bilderftürmer, Stücke
aus ,Von weltlicher Obrigkeit' etc., die Erzählung von
Heinrich s v. Zütphen Märtyrertod, die Vorrede auf den
Pfalter und von Urfachen des Dolmetfchens 1541, den
Sendbrief vom Dolmetfchen 1530, einen Auszug aus der
Vorrede auf das Alte Teftament über das Dolmetfchen
unrj — fehr inftructiv — Proben aus Luther's erfter und
fpäterer Bibelüberfetzung, verglichen (die Texte find zur
bequemen Ueberficht in Columnen nebeneinandergeftellt)
mit der vorlutherifchen Ueberfetzung (Augsburg 1518
bez. Nürnberg 1483, Augsburg 1507), der Vulgata, der
Halberffädter niederdeutfchen Ueberfetzung von 1522 und
der Emfer'fchen, Dietenberger'fchen undEck'fchen Ueberfetzung
oder beffer Abfchreiberei von Luther. Diefer
Theil, obwohl .Anhang', ift wohl das Wertvollfte an N.'s
Buche.

Die Texte find zumeift nach den Originalausgaben,
nur wenig modernifirt, nach Stichproben zu urtheilen
zuverläffig; für vorliegende dritte Auflage ift der Text
der Weimarer Ausgabe berückfichtigt worden. S. 230
Anm. 6 findet fich die Notiz: .Luther hatte fchon 1510
in Rom bei dem gelehrten Juden Elias Levita Unterricht
im Hebräifchen genommen'. Ueber das Jahr der Romreife
läfst fich ja ftreiten, aber woher flammt die Notiz,
die in diefer Form nicht richtig fein kann?

Giefsen. Köhler.

Bonin, Kammerger.-Ref. Dr. Burkhard, Die praktische Bedeutung
des ius reformandi. Eine rechtsgefchichtliche
Studie. (Kirchenrechtliche Abhandlungen, herausgegeben
von H. Stutz. I.Heft.) Stuttgart 1902, F.Enke.
(VIII, VI, 134 S. gr. 8.) M. 4.-

Mit vorliegender Abhandlung wird ein neues litera-
rifches Unternehmen eröffnet: Prof. Ulrich Stutz, den
Theologen bekannt durch fein Werk über die germani-
fchen Eigenkirchen, fchafft in den ,Kirchenrechtlichen
Abhandlungen' ein Organ für die kirchenrechtliche Einzelarbeit
und ladet im Einführungsworte zu friedlicher
und aufbauender Arbeit ein unter Ausfchlufs der Behandlung
aller und jeder actuellen Kirchenpolitik (S. VII).
Nicht nur an die Juriften und Hiftoriker, nein, auch an
die Theologen richtet fich fein Appell (S. V) — möchte
er auf theologifcher Seite nicht ungehört verhallen! Es
ift doch befchämend, wie feiten zu Dr.- oder Lic.-Differ-
tationen kirchenrechtliche Themata genommen werden,
obwohl man gewifs nicht weit zu fuchen braucht, um
ihrer zu finden, und mit ihrer Bearbeitung der Kirchen-
und Dogmengefchichte, keineswegs nur dem Kirchenrecht
, viel förderlichen Dienft leiften könnte. Um
vom Mittelalter ganz zu fchweigen, wo das Problem:
Staat und Kirche noch lange nicht ausgefchöpft ift,
trotzdem es am meiften behandelt wird, — eine Darfteilung
der Bedeutung des Naturrechtsbegriffs, die endlich einmal
nicht erft bei Hugo Grotius einfetzte, fondern
in der griechifchen Popularphilofophie und dann durchs
M. A. hindurchführte zur Reformation, ift dringend
nothwendig, oder eine Erörterung des Ketzerrechtes,
der Hexenproceffe in der Reformationszeit u. a. — alles
das liegt am Wege, hoffen wir bald auch einem Theologen
in der neuen Arbeitsftätte zu begegnen! —

von Bonin hat fich die Aufgabe geftellt, aufzuzeigen,
wie fich das ius reformandi ausbildete und bis zur Gegenwart
entwickelte. Seine Geburtsftunde kam mit Luther's
Auftreten, die aus der alten advocatia ecclesiac herrührenden
Aeufserungen des Schutz- und Schirmrechtes des
Kaifers und der Landesherren im M. A. fafst v. B. nur
als Vorläufer des ius reformandi, ohne natürlich ihre
Bedeutung, die in katholifchen Ländern, wie Bayern z. B.
durch die ganze Reformationszeit fich fortfetzte, zu verkennen
. Ueber diefe Auffaffung läfst fich ftreiten —
Köftlin und Rieker denken anders, und mir fcheint v. B.
den Begriff ius reformandi zu eng zu faffen, vom Ge-
fichtspunkt der fpäteren praktifchen Bedeutung aus (=
das Recht zur Religionsänderung) — zweifellos ift, dafs
mit Luther's Auftreten eine .andere Grundlage' (§ 2 bei
v. B.) gefchaffen wurde. Richtig wird hervorgehoben,
dafs es fich für Lth. und die ihm anhängenden Fürften
nicht um eine Neufchöpfung, fondern wirklich nur um
eine reformatio der alten Kirche handelte, daher denn
das ius reformandi als .Recht zur Reform' unter dem
von Lth. gegebenen Impulfe auch in nicht lutherifchen
Ländern (z. B. Bayern und Herzogthum Sachfen) als
.Ausflufs der alten Advokatierechte' — damit dürfte NB.
doch v. B. die oben erwähnte Unterfcheidung erheblich
nivelliren — ausgeübt wird. Doch gab Lth., zum erften
Male in der Schrift an den chriftlichen Adel, andrerfeits
dem Begriff (den er übrigens felbft nicht braucht; wann
er zum erften Male auftaucht, ift nach v. B. un~ewifs)
einen ganz beftimmten Inhalt, fpeciell die Neugeftaltung
der Lehre einbeziehend.1 Der Speyrer Reichstag5von 1526
machte die praktifch fich daraus ergebenden Verhältnifse
zum ius scriptum — wobei v. B. jedoch hätte erwähnen
follen, dafs das nicht urfprüngliche Intention des Reichstags
war, fondern eine gefchickte Ausnutzung feitens der
proteftantifchen Fürften, vornehmlich Philipps v. Heffen.
Praktifch umfafste das ius reformandi darnach die Art
und Weife der Evangeliumsverkündigung, alfo auch die

1) Nicht richtig ift der Satz v. B.'s: ,Nur Ketzern und Gottesläftern
verfagt Luther die Glaubensfreiheit und meint damit Sectirer und Athe-
iflen, nicht aber verfagt er fie z. B. den Römifchen. (S. 10.) Das ift
modern gedacht; Luther kennt nur ein Entweder — Oder: Anhänger oder
Feinde des Evangeliums. Später hat er allerdings, indem er das .Evangelium
' in die Glaubensartikel prefste, die Römifchen einbezogen.