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Ausgabe:

1903 Nr. 23

Spalte:

629-631

Autor/Hrsg.:

Geffcken, Johannes

Titel/Untertitel:

Komposition und Entstehungszeit der Oracula Sibyllina.(Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur. Neue Folge. Achter Band, Heft I.) 1903

Rezensent:

Schürer, Emil

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629

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 23

630

Geffcken, Johannes, Komposition und Entstehungszeit der
Oracula Sibyllina. (Texte und Unterfuchungen zur
Gefchichte der altchriftlichen Litteratur. Herausgegeben
von O. von Gebhardt und A. Harnack.
Neue Folge. Achter Band, Heft I.) Leipzig 1902,
J. C. Hinrichs'fche Buchh. (IV, 78 S. gr. 8.) M.2.50

Die Befchäftigung mit dem Text der fibyllinifchen
Orakel hat Gefifcken veranlafst, auch über ihre Ent-
ftehungsverhältnifse Unterfuchungen anzuflehen. Seine
Refultate weichen namentlich darin von den bisher im
Durchfchnitt geltenden ab, dafs er in viel weiterem Umfang
, als es bisher gefchehen ift, die Aufnahme heidnifcher
Sibyllen-Orakel durch die Verfaffer unferer jüdifchen und
chriftlichen Bücher annimmt, und dafs er diefe heidnifchen
Stücke auch noch mit mehr oder weniger Wahrfchein-
lichkeit glaubt nachweifen zu können. In der Hauptfache
find feine Refultate folgende.

Buch III erkennt auch er als das ältefte Stück
unferer Sammlung an. Während aber die Meiften diefes
Stück im Wefentlichen einem Verfaffer um die Mitte
des 2. Jahrh. vor Chr. zufchreiben, nimmt G. gerade für
diefes eine befonders mannigfaltige Zufammenfetzung
an. Die Grundlage bilde eine ,babylonifche Sibylle'
heidnifchen Urfprungs, welche die babylonifche Thurmbau
-Legende mit der griechifchen Sage vom Kampf der
Titanen und Kroniden combinirt habe (III, 97—154).
Diefe babylonifche Sibylle, nicht unfere jüdifche, habe
Alexander Polyhiftor benützt (den Nachweis hierfür hat
Geffcken bereits in den Nachrichten von der Göttinger
Gef. der Wiffenfch. phil.-hift. Claffe, 1900, S. 88—102,
verfucht). Unter Aufnahme diefer Vorlage dichtete ein
Jude ,bald nach den Feldzügen des Antiochus gegen
Aegypten und Ifrael, d. h. alfo etwa um die Mitte des
2. Jahrh. vor Chr.' die Stücke 162—178. 190. 194. 195.
211—336. 520—572. 608—615. 732—74°- 762—766 (S.
7,13). Eine andere Gruppe bilden die Orakel der ery-
thräifchen Sibylle mit ihren jüdifchen Erweiterungen.
Diefer Gruppe gehören an: 179—189. 337—380. 388—488.
492—519. 573-607- 616—637. 643—724. 741—761.
7§7—795 (S. 13). Hier find umfangreiche heidnifche
Orakel aus verfchiedenen Zeiten (S. 9: 168—84 vor Chr.)
von jüdifcher Hand in der Zeit des mithradatifchen
Krieges bearbeitet und ftark ergänzt. In diefe Zeit
führt nach Gefifcken auch das von den Bruderkriegen
der Seleuciden handelnde Stück 388—400, welches nach
Hilgenfeld's Deutung etwa auf das Jahr 140 vor Chr.
führen würde. Geffcken fieht darin vielmehr, unter mehrfacher
Emendirung des Textes, einen Hinweis auf die
Kämpfe der letzten Seleuciden feit Antiochus VIII und
IX (S. 9—11). Vers 46—62 fetzt auch G. in die Zeit
des zweiten Triumvirates. Vers 63—92 hält er für
chrifllich und deutet den Anfang auf Simon Magus (fo
zuerft Jülicher, Theol. Litztg. 1896, 379; jetzt auch
Preufchen, Zeitfchr. für die Neuteftam. Wiffenfch. II,
I74ff-)-

Weniger als bei Buch III weicht G. bei den übrigen'
Büchern von den herkömmlichen Meinungen ab, nur dafs
er auch bei manchen von diefen Einarbeitung älterer
heidnifcher Orakel annimmt. So gleich bei Buch IV, in
Betreff deffen er fonft der jetzt herrfchenden Anficht
folgt (von einem Juden um 80 n. Chr. verfafstj. — Ueber
Buch V hat fich G. bereits in den Nachrichten von der
Göttinger Gef. der Wiffenfch. phil.-hift. CL 1899,
S. 447—455 geäufsert. Er nimmt gerade bei diefem, das
Anderen einen weniger einheitlichen Eindruck machte
als B. III, im Wefentlichen einen Verfaffer an, einen
Juden, der bald nach der Zerftörung Jerufalems fchrieb.
Auch hier find aber heidnifche Orakel verwerthet.
Chrifllich ift Vers 256—259 und einiges Andere. Später
vorgefetzt ift Vers I—51 von einem Juden in der Zeit
Marc Aurel's. — Buch VI ift ,ein häretifcher Hymnus'

aus dem 2. Jahrh. nach Chr. — Buch VII, nach dem
Zeugnifs der Handfchriften nur ein Auszug aus einer
längeren Dichtung, judenchriftlich mit gnoftifchem Ein-
fchlag, Mitte des 2. Jahrh. n. Chr. — Buch VIII, noch
vor 180 n. Chr. entftanden, chrifllich, mit Einarbeitung
älterer, auch heidnifcher Stücke. — Buch I—II, that-
fächlich und nach den Handfchriften nur ein Buch, be-
urtheilt G. ähnlich wie Dechent, d. h. er nimmt eine
umfangreiche jüdifche Grundlage an, welche von einem
Chriften ergänzt worden fei. Der Jude fchrieb im erften
Drittel des 3. Jahrh. n. Chr., der Chrift nicht viel fpäter.
— Die Bücher XI—XIV unterfcheiden fich dadurch von
den übrigen, dafs fie nicht religiöfen, fondern politifchen
Inhaltes find. Hieraus, nicht aus ihrem fpäteren Urfprung,
glaubt G. auch das Schweigen der Kirchenväter über
fie erklären zu follen. Ueber B. XII hat G. bereits in
den Nachrichten von der Göttinger Gef. der Wiffenfch.,
phil.-hift. Cl. 1901, S. 183—195 gehandelt (,Römifche
Kaifer im Volksmunde der Provinz'). Es flammt ,von
einem regierungstreuen, ganz und gar nicht mehr orthodoxen
, fondern recht reichsbürgerlichen, in der Zeit nach
Alexander Severus dichtenden Juden', und ift von einem
Chriften leicht überarbeitet. — Der Verf. von B. XIII
ift ,ein orientalifcher Chrift, ein politifcher Anhänger
Odänaths', der nur die Ereignifse der eigenen Zeit, etwa
241—265 n. Chr. aus frifcher lebendiger Anfchauung der
Gegenwart heraus behandelt. — Buch XI und XIV
flehen an Werth unter allem Uebrigen, das Meifte ift
,nichts als Gefafel'. Die Verfaffer haben keine Kenntnifs
der Gefchichte. Es ift daher ein vergebliches Bemühen,
ihre Phantafien auf beftimmte gefchichtliche Situationen
zu beziehen.

Zum Schlufs handelt Geffcken noch über die Fragmente
, d. h. hauptfächlich über das von Theophilus Ad
Autol. mitgetheilte, aber in keiner unferer Handfchriften
fich findende Proömium. G. hält dasfelbe nicht für ein
wirkliches Fragment, d. h. nicht für ein Bruchftück einer
gröfseren Sibyllendichtung, fondern für die Arbeit eines
,Fälfchers', und zwar des Verfaffers eines Florilegiums,
das theils aus echten, theils aus felbftverfertigten angeblichen
Verfen griechifcher Dichter beftand und auch
von Clemens Alexandrinus im 5. Buche feiner Stro-
mata benützt wurde. — Den profaifchen Prolog, welcher
nur in einer Claffe unferer Handfchriften der Sammlung
vorangefchickt ift, fetzt G. fpäter als die von Burefch
aus einer Tübinger Handfchrift herausgegebene ,Theo-
fophie' (Burefch, Klaros, 1889, S. 87—126), da diefe vom
Verf. des Prologes benützt fei.

Das meifte Intereffe wird fich an die Ausführungen
über das 3. Buch heften. Ich bewundere den Muth, der
eine fo complicirte Cjuellenfcheidung in fo detaillirter
Weife durchzuführen wagt, und geftehe, dafs mir faft
nirgends ein wirklicher Beweis dafür erbracht zu fein
fcheint. Das Gleiche mufs ich von den Verfuchen, auch
aus andern Büchern heidnifche Vorlagen auszufchälen
fagen. Es wäre vom allergröfsten Werthe, wenn uns von
der heidnifch-griechifchen Sibyllendichtung, von der wir
bisher faft nichts zu befitzen glaubten, plötzlich fo umfangreiche
Refte gefchenkt würden. Aber es ift ein
höchft unficheres Gefchenk. Die berechtigte, auch fchon
bisher durchfehnittlich gehegte und ausgefprochene Ver-
muthung, dafs heidnifche Stücke von den jüdifchen und
chriftlichen Verfaffern nicht nur als Vorbilder benützt
und nachgeahmt, fondern auch theilweife aufgenommen
worden feien, hat fich hier zu Hypothefen ausgewachfen,
welche die Grenzen des Wiffens-Möglichen weit über-
fteigen. Meines Erachtens müffen wir uns damit begnügen
, an einzelnen Beifpielen die Berechtigung jener
Vermuthung aufzuzeigen, im Uebrigen uns aber der ars
ncsciendi befleifsigen.

Auch der verfuchte Nachweis einer babylonifchen,
heidnifchen Sibyllendichtung über den Thurmbau, welche
in Buch III eingearbeitet fei, fcheint mir äufserft proble-