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Ausgabe:

1903 Nr. 23

Spalte:

619-621

Autor/Hrsg.:

Oettli, Samuel

Titel/Untertitel:

Das Gesetz Hammurabis und die Thora Israels 1903

Rezensent:

Volz, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 23.

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möchte ich noch Moffatt hervorheben, den Verfaffer des
auch in der Theol. Litztg. 1901, 291 angezeigten Werkes
The historical New Testament, 1901. Seine Artikel erfreuen
durch die Umficht und Befonnenheit der hier geübten
Kritik. Befonders ausführlich ift derjenige über die
Bergpredigt [Sermon on the Mount col. 4375—4391), vgl.
ferner Stephen, Temptation of Jesus (wo Moffatt fich an
Baldenfperger anfchliefst, während Cheyne in feinen ergänzenden
Bemerkungen entlegene mythologifche Parallelen
herbeizieht), Timothy, Titus (Perfonen und Briefe).
Einen weiter ,vorgefchrittenen' kritifchen Standpunkt vertritt
Nathanael Schmidt in feinen Artikeln Son of God
und Son of Man (letzterer col. 4705—4740 im Wefent-
lichen an Lietzmann und Wellhaufen fich anfchliefsend).
Sonft feien aus dem Bereich des Neuen Teftamentes noch
erwähnt: Quirinius[Ga.r6n&r,gtgexKa.mia.y), Rome, Church
(van Manen), Sadducees (Cowley), Scribes and Pharisees
(Prince), Synagogue (Peritz), Synedrium (Canney).

Göttingen. E. Schür er.

Winckler, Dr. Hugo, Die Gesetze Hammurabis, Königs von
Babylon um 2250 v. Chr. Das ältefte Gefetzbuch der
Welt. Zweite verbefferte und vermehrte Auflage.
Mit einer Abbildung des Steindenkmals. (Der alte
Orient. 4. Jahrgang. Heft 4.) Leipzig 1903, J. C.
Hinrichs'fche Buchhandlung. (44 S. gr. 8.) M. —.60

Cohn, Prof. Dr. Georg, Die Gesetze Hammurabis. Rektoratsrede
, gehalten am Stiftungsfeffe der Hochfchule
Zürich, den 29. April 1903. Zürich 1903, Art. Inftitut
Orell Füfsli. (44 S. gr. 8.) M. 1.50

Oettli, Prof. D. Samuel, Das Gesetz Hammurabis und die

Thora Israels. Eine religions- und rechtsgefchichtliche
Parallele. Leipzig 1903, A. Deichert'fche Verlags-
buchh., Nachf. (88 S. gr. 8.) M. 1.60

Jeremias, Pfr. Dr. Johannes, Moses und Hammurabi. Mit

einer Abbildung. Leipzig 1903, J. C. Hinrichs'fche
Buchhandlung. (47 S. gr. 8.) M. —.70

Winckler hat fich in dankenswerther Weife bemüht
, den neuentdeckten Codex Hammurabi durch
Ueberfetzung dem deutfehen Publicum zugänglich zu
machen. Die Ausgabe ift mit der Abbildung gefchmückt,
die die Infchrift krönt. In einer Einleitung erzählt W.
die Gefchichte der Ausgrabungen in Sufa, deren Refultat
ihm ein neuer Beweis für die Reinheit und Expanfivkraft
gerade der hochalten babylonifchen Cultur ift. Auch die
einführenden und abfchliefsenden Worte Hammurabi's
find wiedergegeben; die Ueberfetzung des Gefetzes, die
den Codex in 282 Paragraphen theilt, pafst fich der
heutigen Ausdrucksweife an; zahlreiche Anmerkungen
dienen zur Exegefe, und am Schlufs ift ein kurzes Sach-
regifter beigefügt. Das Heftchen ift eine werthvolle Bereicherung
der wichtigen Sammlung des ,alten Orients'.

Von den oben genannten Veröffentlichungen über
den Codex H. ift eine von einem Juriften, zwei von
Theologen. Der Züricher Rechtsgelehrte, Dr. Cohn,
behandelt in feiner Rectoratsrede in der Hauptfache nur
einen Ausfchnitt aus dem alten Gefetzbuch, nämlich das
Eherecht, um an diefem Beifpiel den Vergleich zwifchen
dem altbabylonifchen und dem älteften germanifchen
Recht zu ziehen. Er findet, dafs das babylonifche Recht
fchon verhältnifsmäfsig reich entwickelt war, dafs es
fchon merkwürdig complicirte Fälle berückfichtigte, und
dafs auch folche Ordnungen wie Frauenkauf, Blutrache,
bereits die Culturftufe gegenüber dem wilden Zuftand
bedeuten. Die Aehnlichkeit, die in vielen Punkten
zwifchen dem babylonifchen und altgermanifchem Recht
befteht, führt er auf die gemeinfamen Ideen zurück, die j
in allen Völkern gleicherweife und ohne gegenfeitige Ab- j

hängigkeit auftauchen, er warnt vor der Ueberfchätzung
des babylonifchen Einfluffes und ruft zum Schlufs die
vergleichende Rechtswiffenfchaft ans Werk. Da wir
I Theologen wiffen, dafs die vergleichende Rechtswiffenfchaft
hinfichtlich des Alterthums auf der vergleichenden
Religionswiffenfchaft ruht, fo fühlen wir durch diefen
Appell von juriftifcher Seite felbft neuen Antrieb.

Oettli und Jeremias vergleichen das Gefetz Hamm.'s
und die Tora Israels oder, wie Jeremias im Ton der
Brofchüre fagt: Mofes und Hammurabi. Oettli nimmt
an, dafs die babylonifche Sammlung aus kleineren Sammlungen
von Rechtsfprüchen zufammengewachfen fei. Er
behandelt die fachlich zufammengehörigen Materien ohne
Rückficht auf die Paragraphenfolge und mit jedesmaliger
Vergleichung der israelitifchen Gefetze; er giebt in klarer
und fafslicher Sprache eine im Grofsen und im Kleinen
vorzüglich geordnete Ueberficht über die einzelnen
Rechtsfragen und fucht zu zeigen, wie das babylonifche
Gefetz zwar für den juriftifchen Beobachter eine höhere
Culturftufe darftellt, aber in religiöfer Hinficht von der
Tora weit übertroffen wird. Zum Schlufs berührt Verf.
die Frage der Abhängigkeit. Bei der Verwandtfchaft
zwifchen israelitifchen und babylonifchen Rechtsbeftim-
mungen kann die Abhängigkeit der erfteren unmöglich
geleugnet werden, wie man fich nun auch diefelbe näher
denken mag. Ganz offen verwirft Verf. das alte Infpira-
tionsdogma und die Ifolirung Israels und fieht Israel
mitten in dem Strom einer machtvollen und reichen
Cultur; ebenfo energifch aber betont er den einzigartigen
Geift, der in Israel das von aufsen Ueberkommene aufgenommen
, durchdrungen oder umgeftaltet hat. Trotz
all diefem ehrlichen und nach gefchichtlicher Gerechtigkeit
ftrebenden Bemühen hat man indefs im Lauf der
Leetüre hier und da den Hörenden Eindruck, dafs der
Vorzug Israels um allen Preis gewahrt werden folle.

Die Abhandlung von Jeremias ift ftraff angelegt,
fachlich durchgeführt und verräth eine tüchtige juriftifche
Bildung. In kurzen grofsen Strichen zeichnet der Verf.
zunächft das Culturbild Babyloniens, das dem Lefer aus
diefer Gefetzesfammlung entgegentritt, und giebt dann
den Stoff der Gefetzgebung unter den Ueberfchriften:
Ehe und Erbe,Vermögensrechtliches, Strafrecht, Gerichtsund
Procefsordnung. Weiter ftellt er die auffallende
Verwandtfchaft zwifchen dem Codex H. und dem Bundesbuch
durch 24 Parallelen graphifch dar; er vergleicht den
Geift der israelitifchen und den der babylonifchen Gefetzgebung
und tritt fehr lebhaft für den fittlichen und religiöfer
) Vorrang der erfteren ein. Das Verbot des böfen
Gelüftes in Israel und der Mangel des Schuldgefühls im
babylonifchen Gefetz fprechen genug; der babylonifche
Gefetzgeber führe zwar fein Gefetz auf die Gottheit zurück
, aber im Grund fpreche er felbft das Gefetz, in
Israel offenbare Gott thatfächlich feinen Willen. Bezüglich
der Frage der Entftehung glaubt J., dafs fowohl das Gefetz
des Hammurabi als das des Mofe auf eine gemein-
fame, in Arabien lebende Ueberlieferung zurückgehe;
auch meint er, dafs durch den Hammurabifund die ge-
fchichtliche Greifbarkeit des Mofe erhöht worden fei. —
So fehr wir uns über die nüchterne und ftrengwiffen-
fchaftliche Art des erften Theils der Brofchüre freuten,
fo wenig können wir in den pathetifchen Ton des zweiten
Theils einftimmen. Mir ift es nicht möglich, wie Jeremias
von einer ,Göttlichkeit der Tora' ganz im allgemeinen
zu fprechen. Die Tora ift nicht etwas Einheitliches,
noch viel weniger als der codex H. Dafs Gott Israel
in ganz befonderer Weife erzogen, geführt und in feinen
Willen eingeleitet hat, und dafs der Geift Gottes auch
in den Höhepunkten der israelitifchen Gefetzgebung
feinen Sieg feiert, foll nicht geleugnet werden; aber im
übrigen ift gerade die Tora doch auch ein Zeugnifs dafür
, mit wieviel Menfchlichkeit das Göttliche zu ringen
hatte, und wie das Göttliche oft in unmittelbarfter Nach-
barfchaft mit dem maffiv Menfchlichen fteht. Wir ent-