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Ausgabe:

1903 Nr. 22

Spalte:

603-605

Autor/Hrsg.:

Kattenbusch, Ferdinand

Titel/Untertitel:

Von Schleiermacher zu Ritschl 1903

Rezensent:

Eck, Samuel

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 22.

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er vernichtet einfach alles, was er vorfindet, und was Er-
zeugnifs der Jahrhunderte ift, um feine phantaftifchen
Einrichtungen auf den Trümmern zu bauen'.

Detmer macht darauf aufmerkfam, wie in der Cari-
catur der von Joh. von Leiden aufgerichteten Theokratie
die kindliche Freude am Prunk nicht fehlt, den man mit
Recht ,fchneidermäfsig' genannt habe (S. 64). Aber es
dürfte in diefem Zug mehr der Zufammenhang mit dem
Mittelalter fich offenbaren, als die kurze Schneiderperiode
feines Lebens. Das Papftthum war das Reich Gottes in
fichtbarer Geftalt. Durch ganz Europa waren damals Bilder
vom prächtigen Aufzug des Papftes und der armen Geftalt
Chrifti verbreitet. Eine goldene Krone trug der Statthalter
Chrifti, der König des Reiches Gottes auf Erden,
das Kreuz ward ihm zum Abzeichen feiner Macht. Vor
ihm und feinen Vertretern draufsen in der Welt, vor
feinen Legaten, vor feinen Bifchöfen mufste das Volk
knieen; wer ihm nahte, mufste fich zur Erde werfen und
feinen Pantoffel küffen. Die Schneider und die Gold-
fchmiede hatten im Dienft der Hierarchie reiche Arbeit.
Glänzende Aufzüge vor dem Volk waren nichts Ungewöhnliches
. Die Vertilgung der Ungläubigen und Ketzer
vom Boden des fichtbaren Reiches Gottes mit Feuer und
Schwert war im Krieg mit dem Islam, den Albigenfern
und Hufiten und in der Inquifition das klar ausgefprochene
Ziel des Papftkönigs. Der Schneiderkönig von Münfter
fleht mit feinem prunkvollen Gebahren und feinem locker
fitzenden Schwert nicht fo ganz ifolirt, wie es nach
Detmer's Darfteilung Rheinen möchte. Er fleht auf mittelalterlichem
Boden ebenfo, wie der Täuferkönig Auguftin
Bader mit feinem koftbaren Königsmantel, wie Münzer
und Hut mit ihren aufreizenden Mordpredigten wider
die, fo der Wahrheit zuwider feien. Es ift nur eine
andere Ausprägung der mittelalterlichen Theokratie, welche
in Münfter eine befonders rohe und widerliche Geftalt
angenommen hat.

Die Schrift Detmer's lieft fich angenehm, fein Urtheil
ift billig. Nur wenn er das entfetzliche Strafgericht über
die unglückliche Stadt die gerechte Sühne für unzählige
Verbrechen nennt (S. 4), wäre wenigftens ein Wort der
Mifisbilligung über die fchamlofe Behandlung der Leiche
von Jan Mathys, die mehr als cannibalifch war, und das
lange Wüthen gegen die Leichname Johann's von Leiden
und feiner Genoffen, das erft vor wenigen Jahren zum
Stillftand in der Pfaffenftadt kam, zu erwarten gewefen.
Denn das geht über die gerechte Sühne weit hinaus und
übertrifft felbft den König von Dahomey an barbarifcher
Graufamkeit.

Wir haben als Fortfetzung der Bilder aus den reli-
giöfen und focialen Unruhen in Münfter während des
16. Jahrhunderts von demfelben Verfaffer zu erwarten:
1. die focialen und communiftifchen Bewegungen in Münfter
1524—1535. 2. Ueber die Auffaffung der Ehe und die
Durchführung der Vielweiberei in Münfter während der
Täuferherrfchaft.

Nabern. G. Boffert.

Kattenbusch, Geh. Kirchenrat Prof. D. Ferdinand, Von
Schleiermacher zu Ritschi. Zur Orientierung über die
Dogmatik des neunzehnten Jahrhunderts. Dritte vielfach
veränderte Auflage. Mit einem Nachtrag über
die neuefte Entwicklung. Giefsen 1903, J. Ricker.
(VIII, 80 S. gr. 8.) M. 1.75

Nach genau zehn Jahren erfcheint Kattenbufch's
Giefsener Vortrag in dritter Auflage. Ich darf die Be-
kanntfchaft mit feinem Inhalt hier vorausfetzen, um etwas
eingehender auf die Abweichungen von der erften Auflage
einzugehen. Sie find von nicht geringer Bedeutung, vielleicht
fogar von fo grofser, dafs fie aus fich zu noch
weitergehenden nöthigen könnten. Die theologifche Lage
hat fich verändert. Ritfchl's Schule ift nicht mehr der

I Feind, gegen den Alles angeht. Kattenbufch hat dem-
I gemäfs fall Alles geftrichen, was in erregterem Wort
j daran erinnern konnte. Wichtiger ift, dafs der gefchicht-
liche Ausgangspunkt diefer Darftellung eine Correctur
erfahren hat. K. hat es aufgegeben, Schleiermacher's Welt-
anfchauung als pantheiftifch zu bezeichnen. Otto Ritfehl
und Emil Fuchs haben ihn davon überzeugt, dafs das
nicht angeht. Weggefallen oder leife geändert find daher
alle Sätze, die daran anknüpften. Irre ich nicht, fo ift
nur einmal, S. 51, bei der Befprechung Rothe's ein über-
flüffiges Wort flehen geblieben, das nur von dort her zu
verftehen ift. Aber nur der formal pantheiftifche Hintergrund
ift aufgegeben, die inhaltliche Zeichnung ift diefelbe
geblieben. Die äfthetifche Freude am Univerfum bez.
feiner Spiegelung im Mikrokosmus, dem Menfchen, bietet
nach der rhetorifchen Darftellung der Reden den eigentlichen
Kern von Schleiermacher's Anfchauung. Ift das
wirklich Alles? Ich begrüfse es mit grofser Freude, dafs
auch Goethe von Pantheismus und Monismus befreit ift.
Und ich verkenne gar nicht, dafs für die Zeit aus Goethe's
Leben, um die es fich für diefe Einwirkungen auf Schleiermacher
handelt, äfthetifche Anfchauung durchaus in den
Vordergrund zu rücken ift. Allein bei beiden Männern
ift diefe von vorn herein fo entfehieden als perfon-bildend
gedacht, — man vgl. die ,Selbftdar(tellung' der Monologen
mit dem gleichen Schlagwort im erften Theil von
Wilhelm Meifter —, dafs die Aefthetik im Begriff ift, in
Ethik überzugehen. Nur von diefer Zufpitzung aus ift
ebenfo der fpätere Goethe wie Schleiermacher's Charakter
und insbefondere feine Betonung der teleologifchen Art
der chriftlichen Frömmigkeit zu verftehen. Das heifst
aber dann doch wohl, dafs wir im umlernenden Ver-
ftändnifs Schleiermacher's noch weiter gehen müffen, als
Kattenbufch bis jetzt zugeben möchte. Sehr auffallend
mufs es dann erfcheinen, dafs zwar mit der erften Auflage
die Nachwirkungen Schleiermacher's als noch nicht er-
fchöpft bezeichnet werden, K. aber im Zufatz den ,direct
mit feinem Namen in Verbindung zu bringenden Ring
von dogmatifchen Evolutionen als gefchloffen' anfehen
will. Dafür fpricht doch weder die entfehiedenere Be-
fchäftigung mit Schleiermacher, von der die letzten Jahre
Zeugnifs geben (Fuchs, Otto, Stephan, Schiele u. A.), noch
dieThatfache, dafsder dogmatifche Vertreter der Jüngeren',
Tröltfch, fich mit Vorliebe auf ihn beruft, wie Katt. felbft
hervorhebt.

Diefen Jüngeren' nun ift der neue Anhang von K.'s
Schrift gewidmet. Ein Anhang. Der Ring war gefchloffen.
Und Katt. hat nirgends in feinen Ausführungen darauf
vorbereitet, dafs er eine Erweiterung erfahren müffe. So
fehlt die gefchichtliche Anknüpfung. Zwar in Harnack's,
Wellhaufen's u. A. Arbeit, d. h. in der hiftorifchen For-
fchung liegt fie vor. Aber die dogmatifche Arbeit Ritfchl's
findet hier keine Fortfetzung. Katt. ftellt die Neuromantik,
zu der fich die religionshiflorifche Richtung auswachfen
wird, aufser Zufammenhang mit, um nicht zu fagen im
Gegenfatz zu, dem bedeutendften Theologen der jüngften
Vergangenheit dar. So wenigftens meine ich ihn verftehen
zu müffen. Aber ihm folgen kann ich nicht. Ich bin
naiv genug, mir die Freude an der theologifchen Gegenwart
durch bewufstes Auffuchen und Knüpfen der Fäden
zu erhalten, die fie mit der jüngften Vergangenheit verbindet
. Es giebt deren genug. Und Katt. nennt fie.
1. Ritfehl hat uns ,in der Dogmengefchichte von Hegel
befreit'. D. h. er hat, mag er felbft noch fo viel conftruirt
haben, uns principiell und methodifch von aller Gefchichts-
conftruetion befreit und uns damit dem Zwang wirklicher
Gefchichtsforfchung unterftellt. In dem Augenblick aber,
wo das ernftlich gefchieht, fallen nothwendig alle Grenzen.
Wie fchon die Gefchichte des Dogmas in Ritfchl's Werken
nirgends mehr das in fich felbft fich bewegende Rad war,
fondern allen Einflüffen der grofsen Gefchichte überall
offen ftand, fo wird dasfelbe nun principiell — mag es
mit der Ausführung ftehen, wie es will — mit Chriften-