Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1903 Nr. 22

Spalte:

602-603

Autor/Hrsg.:

Detmer, Heinrich

Titel/Untertitel:

Bilder aus den religiösen und sozialen Unruhen in Münster während des 16. Jahrhunderts. I. Johann von Leiden 1903

Rezensent:

Bossert, Gustav

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

6oi

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 22.

602

Streitfchriften, wiffenfchaftliche Gutachten, endlich noch
die officiellen päpftlichen Erlaffe in Betracht. Die Montes
Pietatis find Wohlthätigkeitsinftitute, Leihanflalten, die
hilfsbedürftigen Perfonen gegen Pfand das Nöthige vor-
ftrecken, um fie vor Ausbeutung durch Wucherer zu
fchützen. Juden und Lombarden find die Vorläufer der
Müntes Pietatis, die vor Begründung derfelben das Pfand-
leihgefchäft in ihren Händen monopolifirten. Während
diefe aber Wucherzinfen forderten, die regelmäfsig 43 1j3
oft aber auch 60—80 °/0 betrugen, find die Montes Pietatis
ein Wohlthätigkeitsinftitut, indem fie aus chriftlicher
Nächftenliebe den bedrängten Mitmenfchen Credit gewähren
wollen. Den erften Vorfchlag zu der Gründung
eines folchen Inftituts machte um 1326 Durand de St-
Pourgain, Bifchof von Mende. 1361 wurde derfelbe Gedanke
von dem Erzbifchof von London, Michel de Noth-
burg aufgegriffen und zu verwirklichen verfucht. Erfl im
Jahre 1462 gelang es in Perugia, den erften lebensfähigen
Möns Pietatis zu begründen. Die Begründer der Anhalt
waren Franciskaner, die den Intentionen ihres Stifters folgend
durch den Verkehr mit dem Volke das Bedürfnifs
für ein folches Inftitut erkannt hatten. Das Project ift aus
der Mitte des volksthümlichften Ordens hervorgegangen,
und die grofsen Volksprediger des Franciskanerordens im
15. Jahrhundert, Johann von Capiftrano, Bernardin von
Siena, Jacob von der Mark und andere find die geiftigen
Väter der Idee des Möns pietatis. Holzapfel fchildert
dann die verfchiedenen Organifationsformen der Montes
pietatis. Um eins hervorzuheben, die Zinfen, die die
Montes Pietatis nahmen, fchwankten von 4 bis 12 °/0, alfo
auch im fchhmmften Falle noch eine bedeutende Erleichterung
gegen die früheren Wucherzinfen. Im Folgenden
giebt H. eine Ueberficht über die Verbreitung der Montes
Pietatis über ganz Italien. Befonders dem Franciskaner
Bernhardin von Feltre (geboren 1439, geftorben 1494)
kommt hierbei das gröfste Verdienft zu. Er hat mindeftens
30 Montes Pietatis gegründet oder reorganifirt, trotzdem er
fchwere Kämpfe von allem mit den Juden zu beliehen hatte.
Bis 1515 blieben die Montes Pietatis auf Italien befchränkt.
Die einzige Ausnahme, von der wir wiffen, ift die Begründung
eines folchen in Nürnberg, wo der Stadtrath
von Kaifer Max I. ,wegen böfer gefährlicher und behenter
wucher licherHändelderJuden'dieErlaubnifs am2i.Juli 1498
erhielt. In einem letzten Abfchnitt werden die Streitigkeiten
über das Recht des Zinsnehmens behandelt, die
fich an die Montes pietatis knüpften, und eine Würdigung
des Inftituts gegeben. Die Verdienfte der Montes Pietatis
waren, dafs das Zinsverbot in der Praxis feine Härten
verlor, der Zinsfufs erheblich herabging, wobei allerdings
auch die Entdeckung der Edelmetalle in Peru und Mexiko
mitwirkte, vor allem aber durch Creditgewährung unter
günftigen Bedingungen viele Noth gelindert wurde. In
höchfter Blüthe fleht das Inftitut noch heute, wenn auch
vielfach nach modernen Bedürfnifsen modificirt, in feinem
Wiegenlande Italien. Im Jahre 1896 zählte man dort 556
Monti di Pietä, die am Ende des Jahres über 78 Millionen
Lire ausftehen und 72 Millionen Lire Reinvermögen hatten
und noch heute für die ärmeren Claffen, die fonft fchutzlos
dem Wucherer preisgegeben find, von unfehätzbarem
Werthe find. Das fleifsige Buch, in dem ein aufserordent-
lich grofses Material verarbeitet ift, das bisher gröfsten-
theils noch nicht ausgenutzt war, ftellt die tiefgreifende
Bedeutung der Stiftung des heiligen Franz nach einer bisher
vielfach überfehenen Seite ins Licht. Sie ift nicht
nur für die Frömmigkeit und Kirche, für die Kunft und
Cultur der Renaiffance von epochemachendem Einflufs,
auch auf dem Gebiete des wirthfehaftlichen Lebens ift
fie neufchöpferifch mit dem nachhaltigften Erfolge thätig
gewefen. Dafs noch manche Lücken auszufüllen bleiben,
ilt bei der Inangriffnahme eines noch fo wenig bearbeiteten
Gebietes natürlich. Auch erfcheint mir ein wichtiger Ge-
fichtspunkt zum Verftändnifs des Inftituts nicht genügend
hervorgehoben. Es ift vor allem den Stadtmagifiraten zu

verdanken, dafs fich das Inftitut durchfetzte. Jedenfalls
verdient Holzapfel für feine gründliche und anregende
Arbeit den Dank aller Mitforfcher.

Heidelberg. Grützmacher.

Detmer, Oberbiblioth. Dr. Heinrich, Bilder aus den religiösen
und sozialen Unruhen in Münster während des 16. Jahrhunderts
. I. Johann von Leiden. Seine Perfönlichkeit
und feine Stellung im münfterfchen Reiche. Münfter
1903, Coppenrath. (71 S. gr. 8.) M. 1.25

Es ift keine Frage, der Schneiderkönig von Münfter
ift eine der räthfelhafteften Gehalten in der Gefchichte.
Detmer hat Recht, diefer Mann beweift eine Klugheit und
Befonnenheit, eine Thatkraft und Gewandtheit, einen un-
erfchrockenen Muth, der vollftändig begreiflich macht,
dafs ihm nach dem Tod des düfteren Fanatikers Jan
Mathys die Herrfchaft über die erregten Geifter in Münfter
zufallen mufste. Man wird Detmer auch darin Recht
geben müffen, dafs die täuferifche Religiofität bei Johann
von Leiden nicht allzu tief fafs; die täuferifchen Ideen find
ihm bald Mittel zum Zweck der Befriedigung ,feiner den
zeitlichen Freuden zugekehrten, ehrgeizigen und finnhehen
Natur' geworden. Ebenfo wird man ihm zugeben muffen,
dafs die Einführung der Polygamie in Münfter ihre erfte
Urfache in der finnlichen Neigung zu Divara, der jugendlich
anmuthigen Wittwe des Jan Mathys hatte, die ihn zu
dem Gedanken trieb, an den Fundamenten der chriftlichen
Ehe zu rütteln. Aber fo gewifs Detmer mit Recht die
Annahme abweift, der ftarke Ueberfchufs der weiblichen
Bevölkerung über die männliche, fowie die grofse Anzahl
unverheirateter Männer bei dem ftrengen Verbot aufser-
ehelichen Gefchlechtsverkehrs habe zur Einführung der
Vielweiberei geführt, fo wenig genügt feine Annahme zur
Erklärung der Thatfache, dafs Rothmann und die anderen
Prädicanten nach verhältnifsmäfsig kurzer Zeit ihren
Widerfpruch aufgaben und nun fogar die Vielweiberei
aus dem alten Teftament rechtfertigten, und auch die
befferen Elemente der Bevölkerung fich überzeugen
liefsen. Man wird doch im Auge behalten müffen, dafs
jede geiftige Bewegung das Mafs ihres Werthes und ihrer
wahren Grofse in dem Grad der fittlichen Würdigung des
Gefchlechtsverhältnifses findet. Sie bildet die praktifche
Probe für den Gehalt an wahrhaft fittlich-religiöfem Geift.
Das Hetärenwefen der Griechen, die Haremswirthfchaft im
Islam, die Verachtung der Ehe in der mittelalterlichen
Frömmigkeit, der Mätreffencult am Hof der Bourbonen,
die freie Liebe der Revolution, die Weibergemeinfchaft
der fränkifchen Täufer und die Vielweiberei in Münfter
find unter diefem Gcfichtspunkt zu würdigen. Sie find
der Ausdruck eines und desfelben Mangels nur in ver-
fchiedener Geftalt und verfchiedenem Grad. Ganz mit
Recht fagt Detmer, es fei auch nicht mit dem kleinften
Schimmer von Recht ein Beweis dafür zu erbringen, dafs
die Duldung oder gar die Forderung der Polygamie jemals
in den Tendenzen des Täuferthums an fich gelegen, dafs
fie den religiöfen oder fonftigen Anfchauungen der Tauf-
gefinnten überhaupt entfprochen habe. Aber das ift
nicht zu leugnen, dafs im Täuferthum verfchiedenartige
Strömungen fich geltend machten, und neben jenen
ftillen, ernften, todesmuthigen Geiftern auch unruhige,
ftürmifche, unredliche einen faft unbegreiflich grofsen Einflufs
gewannen, deren Programm radicalfter Art war, wie
z. B. Wilh. Reublin, Michael Mayer von Alterlangen und
feine Brüder. Es ift ferner fehr zu beachten, was Egelhaaf,
Deutfche Gefchichte im fechzehnten Jahrhundert 2, 268,
über die Vorgänge in Münfter fagt: ,Es offenbart fich
eine erftaunliche Verwandtfchaft diefer chriftlichen Radi-
calen mit den atheiftifchen des revolutionären Frankreich,
woraus man erkennt, dafs der Radicalismus überall die-
felben Grundtriebe enthält und die religiöfe, beziehungs-
weife antireligiöfe Färbung nur unwefentliche Zuthat ift;