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Ausgabe:

1903 Nr. 19

Spalte:

531-532

Autor/Hrsg.:

Schoen, Henricus

Titel/Untertitel:

Quid boni periculosive habeat Goethianus liber qui affinitates electivae inscribitur 1903

Rezensent:

Eck, Samuel

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 19.

532

in Gottes Herrlichkeit, und wir werden Jefu Königsmacht
fehen, und Gott wird fein alles in allen'. Um das Himmel-
fahrtsfeft diefes Jahres ift des gläubigen Chriften Hoffnung
in dem von fchwerem Leiden ihn erlöfenden Tode
erfüllt worden.

In den Göttinger Univerfitätskreifen waren die Predigten
von Hermann Schultz fehr werthgefchätzt.
Die feinfühlige Art des hochgebildeten und geiftvollen
evangelifchen Theologen, der bei klarer Entfchiedenheit
und tiefem Ernfte vornehme Ton feiner Predigt war das
Anziehende und Feffelnde. Im Vorwort fpricht der Ver-
faffer es aus, dafs Predigten im akademifchen Gottes-
dienfte nicht zu miffioniren oder zu bekehren haben,
auch nicht auf Erregung des Gefühls der Menge berechnet
find. Sie follen denkende Chriften ftärken und
erbauen. Dies Programm, das auf die vorliegenden 21
Predigten durchaus pafst, fchliefst nicht aus, dafs das
Gemüth vorzugsweife in Anfpruch genommen wird. Wir
irren wohl nicht, dafs das felbftempfundene religiöfe
Bedürfnifs den Verfaffer von allem Theologifiren, auch
von Bevorzugung dialektifcher Gedankenentwicklung fern
hielt; es ift die religiöfe Betrachtung, die den Predigten
ihr Gepräge giebt, und eine vielfeitige, tief eingehende
Meditation giebt ihr den reichen Gehalt. Als
befonders hervorragend feien die Ofterpredigt (1 Kor. 15
13-20) und die am Semefteranfang: ,Unfere Arbeit im
Sinne Chrifti' (1 Kor. 12 4—7) genannt.

Der Text wird durchweg daraufhin angefehen, was
er dem eigenen religiöfen Bedürfnifs und dem der Gemeinde
bietet; Erörterungen über fchwierige Text-
verhältnifse, die irgendwie den unmittelbar erbaulichen
Werth der Predigt beeinträchtigen könnten, werden ftill
übergangen, fo bei dem efchatalogifchen Text Lc. 21
25—36, bei der Hochzeit zu Cana, bei der Himmelfahrt.
Das Thema diefer letztgenannten Predigt: In Chrifti
Himmelfahrt werden Himmel und Erde eins: das foll
uns von der Erde hinwenden zum Himmel, vom Himmel
zurückweifen zu der Erde, ift fehr fchön und tief evan-
gelifch durchgeführt. Ob freilich dazu der Text Act. 1
6—11 die paffende Grundlage bot, ob nicht beffer in einer
textlofen Predigt über das Thema gehandelt wäre, ift
eine andere Frage.

Im Vorwort wird ein zweites Heft, das die zweite
Hälfte des Kirchenjahres umfafst, in Ausficht geftellt.
Den zahlreichen Freunden, Schülern und Verehrern des
Heimgegangenen würde mit der Veröffentlichung ein
lebhafter Wunfeh erfüllt werden.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Schoen, Henricus, Quid boni periculosive habeat Goethianus
über qui affinitates electivae inscribitur. Facultati litte-
rarum in Universitate Parisiensi thesim proponebat
Sch. Lutetiae Parisiorum MD.CCCCI, Fischbacher.
(144 p. Lex. 8.) M. 5.—

Nach der moralifchen Wirkung von Goethes Wahl-
verwandtfehaften forfcht der Verf. Eine vielfach erörterte
Frage rollt er damit von Neuem auf. In einem
erften Theil ftellt er die Urtheile von 55 mehr oder
weniger bekannten Perfönlichkeiten zufammen, die feit
dem Erfcheinen des Romans Lob und Tadel nach diefer
Richtung in buntem Gewirr auf denfelben gehäuft haben.
In einem zweiten Theil dann fucht er, nach einer kurzen
Befprechung eigner Auslagen Goethes, das Für und
Wider mit peinlicher Genauigkeit und Gerechtigkeit abzuwägen
. Er findet 1. die Grundgedanken der Dichtung
durchaus lobenswerth: der einmal begangene moralifche
Fehltritt zieht mit .Naturnotwendigkeit' feine Folgen nach
fich. Aber diefe Notwendigkeit ftellt kein blindes Fatum
dar: im Entfagen bietet fich Rettung aus jenem Caufal-
zufammenhang. Erft in zweiter Linie kommt dabei die
Frage nach der Unlösbarkeit der Ehe in Betracht: der

Roman bietet nichts, was die entfehiedenen Ausfagen
j Goethes in diefer Hinficht entkräften könnte. Schoen
I hat 2. eine Reihe von Einzelheiten zu tadeln: die Leiden-
fchaft ift zu anziehend gezeichnet, die Sympathie des
Lefers wird zu entfehieden für die ihr Unterliegenden
I wachgerufen; von Eduards Charakter abgefehen, ift
1 Ottiliens Selbftmord ebenfo wie ihre Erhebung zur
! Heiligen zu bemängeln, u. a. m. Aber er weift 3., namentlich
durch Heranziehung franzöfifcher Ueberfetzungs-
proben, überzeugend nach, dafs Goethe in Stil und Sprache
I auch den bedenklichften Stoffen gegenüber eine hohe
Keufchheit bewahrt. Kurz, es ift Manches zu loben,
Manches zu tadeln. Weder unbedingt anerkennen noch
1 bedingslos verurtheilen, ift das Endergebnifs, zu dem der
Verf. gelangt.

Aber mir fcheint, dafs wir am Ende diefer peinlichen
Prüfung erft vor dem wirklichen Problem ftehen,
das diefe Dichtung Goethes ftellt. Es wird nicht zu
leugnen fein, dafs die Gefchichte der Aufnahme des
Romans fich in unferm Empfinden, fchwankend zwifchen
Zuftimmung und Ablehnung, immer von Neuem wiederholt
, dafs man den Eindruck nicht los wird: zwei Seelen
wohnen, ach, in meiner Bruft. Der Verf. conftatirt diefe
Thatfache. Aber er bietet nichts zu ihrer Erklärung.
Er hat im erften Theil u. A. die Verfuche befprochen, den
Roman aus perfönlicher Erlebnifsen Goethes zu ver-
ftehen. Doch hat er diefen Weg nicht weiter verfolgt,
nicht bis zu der Einficht, dafs perfönliche Erlebnifse, wie
keimkräftig immer, in Goethes Seele doch nur dann zur
Dichtung ausreifen, wenn fie von allgemeinften Fragen
der Weltanfchauung befruchtet werden oder umgekehrt
diefe befruchten. Es genügt aber freilich nicht, diefe
Fragen der Weltanfchauung fich zeitlos zu vergegenwärtigen
, um ihre Einwirkung auf das Werden Goethe-
fcher Dichtung zu verftehen. Eben Goethe denkt diefe
Fragen nicht blofs, fondern er erlebt fie. Die Schillerjahre
waren vorüber. Man müfste blind fein, um ihre
energifche Nachwirkung in den Wahlverwandtschaften zu
verkennen. ,Sind wir nicht auch mit dem Gewiffen ver-
heirathet?' Aber Anderes drängte fich verwirrend ein.
Nicht um naturwiffenfehaftliche Probleme handelt es fich
dabei, wie die bekannten chemifchen Vergleiche nahezulegen
Rheinen. Goethe hat die Grenzen der Anwendbarkeit
folcher Vergleiche genau genug gezogen. Das gefell-
fchaftliche und politifche Leben felbft bot Anfchauungen,
die fich den Forderungen der sittlichen Weltordnung zu
entziehen oder ihnen nicht zu beugen fchienen. Erft fpät
hat Goethe gelernt, auch die Zeiten der Napoleonifchen
Herrfchaft unter Gefichtspunkten des guten Willens zu
verftehen und zu beurtheilen. Der dämonifche Genius
Hellte die Errungenfchaften der Schillerjahre in Frage.
Und bot nicht das Leben überall Thatfachen und
Ereignifse genug, in denen diefe widerfpenftige, be-
glückend-zerftörende, dämonifche Wirklichkeit fich Allem
zum Trotz zu behaupten wagte? Das Document der
zwiefpältigen Stimmung der Jahre 1805—1813 find die
Wahlverwandtfchaften.

Darmftadt. S. Eck.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape in Berlin.
jDcutfche f£itcratur.

Zorell, F., Zur Frage üb. .Babel u. Bibel'. (Frankfurter zeitgemäfse
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