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Ausgabe:

1903 Nr. 19

Spalte:

518-521

Autor/Hrsg.:

Widmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Echtheit der Mahnrede Justins d. M., an die Heiden.(Forschungen zur christlichen Literatur- und Dogmengeschichte. Dritter Band. Erstes Heft.) 1903

Rezensent:

Gaul, Willy

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 19.

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veranfchaulichen. Für die Methode des Verfaffers ift
charakteriftifch, dafs er das Wort 603: xb stvEvy.ii eütiv
to rcooJtotovv, 1) öapg ovx ojfptlEl ovölv als Motto feiner
Abhandlung vorausfchickt. Für gewiffe Partien der pau-
linifchen Theologie mag es eine gute Ueberfchrift fein;
bei Johannes ift es nur eine ganz vereinzelte Aeufserung,
die nur aus genauer Erwägung des Contextes verbanden
werden kann und nur gerade hier allenfalls motivirt er-
fcheint. Der Begriff des Geiftes als metaphyfifches Princip
der Weltanfchauung des Johannes ift ein Nachklang
helleniftifch-alexandrinifcher und paulinifcher Lehre und
aufserordentlich verfchieden von der allgemein urchrift-
lichen Vorftellung des Geiftes als wirkender Gotteskraft.
Der Fehler unferes Verfaffers ift, dafs er diefe beiden
Dinge nicht fcharf genug auseinander gehalten hat, fondern
, mit dem Worte ,Geift' fpielend, fie vermengt. Wenu
Johannes ganz deutlich fagt, dafs ,der Geift noch nicht
vorhanden war, weil der Herr noch nicht verherrlicht
war' (739), fo läfst er keinen Zweifel darüber, dafs er die
pneumatifchen Erfcheinungen in der Gemeinde als etwas
Befonderes und Einziges betrachtet, das vorher überhaupt
nicht zu beobachten war, nicht einmal im Leben des Herrn.
Wenn unfer Verf. daher von einer action spirituelle avant
le ministire de Jesus fpricht, fo hebt er felber mit Recht
hervor, dafs diefe Einwirkung Gottes auf die Seelen
.directcnicntct sans aucun intermediaire' ftattfindend gedacht
werde. Das ,Ziehen des Vaters zum Sohne' (644), die
Determination zum Heil, die Erzeugung des Glaubens
vollzieht fich, ohne dafs dabei der Geift als vermittelndes
Organ genannt würde. Diefe Idee eines directen und
unmittelbaren Verkehrs Gottes mit den Seelen ift gerade
die charakteriftifche, von Paulus verfchiedene, johanneifche
Auffaffung: ein Frömmigkeitstypus, in welchem die Vor-
ftellungen perfönlicher Liebe und Hingabe ganz überwiegen
. Hier überall ,den Geift' zu interpoliren, ift ganz
unftatthaft. Wenn in den bekannten Stellen der Abfchieds-
reden das Kommen Chrifti zu den Gläubigen und das
Einwohnen Gottes in ihnen in unmittelbarer Nähe der
Weisfagung des Parakleten fleht, fo ift zu beachten, dafs
diefe beiden Gedankenreihen neben einander flehen, und
dafs der Evangelift nicht verfucht oder nicht vermocht
hat, fie in der Weife, wie unfer Verf. es darfteilt, in einander
zu arbeiten. So ftark die Allegorie vom Weinftock
und den Reben an die paulinifche Chriftusmyftik erinnert
und fo zweifellos fie von ihr abhängig ift, fo ift die Be-
fonderheit des Johannes eben darin zu fehen, dafs er auf
das verbindende Element des Geiftes verzichten konnte.
Und das mufste der Verfaffer viel energifcher hervorheben.
Ferner war es nöthig, viel fchärfer zu betonen, dafs die
Wirkungen des Parakleten, in dem Mafse, als er aufhört,
das allgemeine religiöfe Infpirationsorgan zu fein, auf das
Gebiet der Offenbarung und der Lehre eingefchränkt er-
fcheinen. Die wirkliche Sachlage wird dem Verfaffer
felber ganz deutlich bei der Chriftologie des Johannes. So
wie der vierte Evangelift Jefum denkt, als Incarnation des
himmlifchen Logos, hätte er eigentlich nicht die geringfte
Veranlaffung, von einer befonderen pneumatifchen Aus-
ftattung Jefu zu reden. Wenn er es an zwei Stellen
dennoch thut, bei der Johannestaufe und 334, fo ift dies,
wie Holtzmann mit Recht fagt, nur ,eine fynoptifche
Reminiscenz, eine Conceffion an die volksmäfsige Vorftellung
, ein traditionelles Moment von nur beiläufiger Bedeutung
'. Zur johanneifchen Chriftologie pafst es nicht
mehr. Es ift ganz richtig formulirt, wenn der Verf. fagt:
Jious pouvons dire, que le Christ est inspire par VEsprit,
a condition de bien speeifier qiiil ne s'agit pas d'une action
diaine plus ou tnoins limitee et temporaire s'exercant sur
sa conscience, mais de la pleine et entiere possession de
toute la puissance divine'. Aber das Wefentliche ift eben,
dafs diefe göttliche Macht nie ausdrücklich vom Geifte
Gottes abgeleitet oder mit ihr gleichgefetzt würde. Jefus
hat fie als göttliches Wefen felbftverftändlich (eine An-
fchauung, die auch dem Evangeliften Markus nicht fremd

ift). Andererfeits wird fein Verhältnifs zu Gott gerade
wie das der Gläubigen befchrieben: er lebt in Gott und
Gott in ihm. Um fo bemerkenswerther ift, dafs auch
Johannes die ekftatifchen Züge im Bilde Jefu nicht aus-
zulöfchen vermocht hat. —

Die Lehre des 1. Johannesbriefes wird gefondert behandelt
und zwar als eine fpätere Entwicklungsftufe im
Vergleich mit dem Evangelium. Wie man literarkritifch
über das Verhältnifs beider Schriften denken möge —
fachlich müfste ich dem Verf. hier faft in jedem einzelnen
Punkt widerfprechen. Denn gerade in der Lehre vom
Geift — wie in manchen anderen Beziehungen — fleht der
Brief dem älteren Urchriftenthum bedeutend näher als
das Evangelium. —

Marburg. Johannes Weifs.

Widmann, Dr. Wilhelm, Die Echtheit der Mahnrede Justins

d. M., an die Heiden. (Forfchungen zur chriftlichen
Litteratur- und Dogmengefchichte. Herausgegeben
von A. Ehrhard und J. P. Kirfch. Dritter Band.
Erltes Heft.) Mainz 1902, F. Kirchheim. (164 S. gr. 8.)

M. 6.—

Diefe bifchöflich fanetionirte Vertheidigungsfchrift
der Echtheit des meift als pfeudojuftinifch angefehenen
Xoyoq jeaQaivETixbg jtobq 'EXXi]vaq entpuppt fich zugleich
als Fehdefchrift gegen die proteftantifche l'lrforfchung
der altchriftlichen Litteratur fchon in dem den Stand
der Frage behandelnden Einleitungscapitel, wie in einer
fortgefetzten, häufig unpaffenden Polemik, bef. gegen
Schürer (s. S. 128); gerade auch jene Schrift ,des Heiligen
' kennzeichne diefe Hyperkritik, die, nur Negation
ohne alle Pofition, die verfchiedenartigften Hypothefen
an die Stelle einer 1 E2taufendj ährigen Tradition gefetzt
habe. Allein W. kennt die Unficherheit diefer feiner
Grundlage nicht, unterfucht fie auch nur ganz oberflächlich
, offenbar unter Benützung von Harnack, Völter u. a.;
nach ihm hat Stephanus Gobarus [im 6. u.! 7. Jahrh.]
die coh. Juftin zugefchrieben, die Bezeugung durch
Photius dagegen fei unficher!, ein Beweis dafür, dafs W.
jene Belegftellen nicht controlirt hat (vgl. Photius, bibl.
232). — In der Darftellung der nachreformator. Litteratur
vermiffe ich Jülicher (Gött. G. A. 1893, I 82—85) und
von Gutfchmid (Jahrb. f. clafl. Philol. 81, 1860, S. 703 fr.);

| neben Fefsler und Alzog hätte Krüger doch wohl auch
einen Platz verdient. Komifch wirkt W.'s Berufung
gegen Harnack auf Semifch, unfern gründlichften Juftin-
forfcher, von deffen Widerruf (Real-Enc. VII1 S. 185 f.)
er nichts ahnt.

Da ihm die Echtheit feftfteht, fo vergleicht er die
coh. mit Juftin's beiden Apologien und dem Dialog
1) nach ihrem Inhalt, 2) nach ihrer Form (Dispofition
und Stil) S. 9—47 bz. 48—126, um in einem III. Cap.
S. 127—164 die wichtigften Hypothefen (Schürer, Völter
Draefeke-Asmus) zu bekämpfen. — Mit offenbar philo-
logifch gefchulter Genauigkeit vergleicht er den Sprachfehatz
der coh. mit dem der echten Juftinen, wie dies
zuvor nie gefchehen ift. Doch ift m. E. der Begriff
d-Eoalßeia für Juftin und die coh. nicht cfteichwertW
da letztere ihn mit d-nrjöxeta = Cult [nur "apol. I 62 als
partic. &nr]0x£V0VTCtq belegt], jener dagegen mit quXoöocpla
verbindet. Merkwürdig, dafs W. trotz der auch von ihm,
neben dem felbftverftändlich auch vorhandenen gemein-
famen Gut, feftgeftellten zahlreichen Differenzen doch
gerade unter diefem Gefichtspunkt die coh. als jufti-
mfeh erkennt. Seine Unterfuchung auf ,Demofthenis-
men' ift eine fachlich vielleicht nicht nothwendige Wider-

1 legung des [isyaXofpwvoq Draefeke. — Die Parallelen
zwifchen apol. I und coh. hinfichtlich der Dispofition
und Beweisführung find meift gefucht und oft banal
[cf. S. 69 Mitte: das hors d'oeuvre; S. 75 unten: die
aphoriftifche Form das fehwerftwiegended) Moment für