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Ausgabe:

1903 Nr. 17

Spalte:

483-484

Autor/Hrsg.:

Uphues, Goswin

Titel/Untertitel:

Religiöse Vorträge 1903

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Seite 1

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4«3

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 17.

484

gegen H. gerichtet hatte, fondern auch mit Prof. J. Mausbach
in Münfter, der in feiner Schrift .Die katholifche
Moral, ihre Methoden, Grundfätze und Aufgaben', Köln
1901, 21902 (vgl. meine Anzeige in Jahrg. 1902 Nr. 17)
die römifche Moral fpeciell H. gegenüber vertheidigt hat.
Dadurch ift nun der urfprüngliche Umfang der Schrift H/s
um mehr als das Dreifache erweitert. Die Aeufserungen
feiner Gegner, welche die katholifche Geltendmachung
fremder Autoritäten für das fittliche Urtheil des Einzelnen
in Schutz nehmen, geben H. erneute Gelegenheit dazu,
die fehlerhaften, unwahrhaftigen, das felbftändige fittliche
Leben ertödtenden Principien und Confequenzen der ka-
tholifchen Auffaffung aufzuweiten. Er erläutert und begründet
ihnen gegenüber fcharf und klar das evangeli-
fche Princip, dafs Religion und Sittlichkeit durchaus
Sache felbftändiger Ueberzeugung, eigenen inneren Erlebens
und Erarbeitens fein müffen, und dafs in diefem
Sinne die religiöfen und fittlichen Gedanken vom Menfchen
felbft innerlich ,erzeugt' werden müffen. Er verkennt
nicht, dafs dem für die katholifche Auffaffung mafs-
gebenden Motive der Pietät der Ueberlieferung gegenüber
eine befchränkte Berechtigung zukommt. Aber
fchrankenlofe Herrfchaft der Pietät müffe im Böfen
endigen, weil fie zur Unterdrückung der Wahrhaftigkeit
und fittlichen Selbftändigkeit führe. H. fchliefst mit
dem Satze: ,Wir müffen uns von dem römifchen Chriften-
thum fo fcheiden, dafs wir uns die Aufgabe ftellen, für
uns felbft das richtige Verhältnifs der Pietät zu der in
Sittlichkeit und Religion fich entfaltenden Wahrhaftigkeit
zu erkämpfen'.

Auch denen, welche die Schrift H.'s in ihrer früheren
Geftalt fchon kennen, ift die Leetüre diefer erheblich
erweiterten neuen Ausgabe zu empfehlen.

Jena. H. H. Wendt.

Uphues, Prof. Goswin, Religiöse Vorträge. Berlin 1903,
C. A. Schwetfchke & Sohn. (103 S. gr. 8.) M. i.8o;

geb. M. 2.40

Die hier zufammengeftellten fechs Vorträge behandeln
folgende Themata: 1. Glück und Sittlichkeit; 2. Begründung
der vom Chriftenthum geforderten Erneuerung:
3. Was ift Religion? 4. Was ift Wahrheit? 5. Religiöfe
Ethik; 6. Das Chriftenthum als Umwerthung der Werthe.
Der Grundton, der durch alle Vorträge hindurchklingt,
ift der, dafs das Wefen des Chriitenthums in der rück-
haltlofen Hingabe des ganzen inneren Menfchen an Gott
zum Dienfte Gottes befteht und dafs fich für den Menfchen,
der im Glauben an Chriftum diefe Hingabe vollzieht, grofse
Probleme befriedigend löfen, die den denkenden Menfchen
fonft bedrücken. Es löft fich die PTage nach dem Verhält-
nifse des Glückes zur Sittlichkeit: der Chrift findet beides
durch Gott, und zwar zuerft wahres Glück, nämlich inneren
Frieden, und dann auf Grund diefes Friedens auch die
fittliche Kraft, die felbftfüchtigen Triebe zu unterdrücken.
Es löft fich die Frage nach dem Verhältnifs des Lebens
zur Sittlichkeit, ob die Sittlichkeit höher fteht als das Leben
oder ob fie vielmehr um des Lebens willen da ift: der
Chrift erkennt als das eigentliche Leben nicht das irdifche
Leben im gewöhnlichen Sinne, fondern das neue Leben
aus Gott, welches felbft in wahrer Sittlichkeit befteht.
In Gott liegt auch die Löfung für die Frage nach der
Wahrheit. Die Wahrheit hat einen überzeitlichen Charakter
. Da aber jede Wahrheit eine erkannte fein
mufs, fo fetzt die Wahrheit ein überzeitliches göttliches
Bewufstfein voraus, das alle Wahrheit umfafst. Die
Menfchen in ihrem zeitlich befchränkten Bewufstfein
kommen zur Erkenntnifs der überzeitlichen Wahrheit
durch Theilnahme an dem göttlichen Bewufstfein. Das
Einleuchten einer Wahrheitserkenntnifs, das die Urfache
des Einfehens ihrer Richtigkeit ift, müffen wir als eine
Erleuchtung von Seiten Gottes betrachten. Der Kampf

gegen erkannte Wahrheit ift die Wurzel aller Unfittlich-
keit. Diefe Unfittlichkeit ift ein Vergehen gegen Gott.

Es ift fehr dankenswerth, dafs diefe Vorträge, von
denen fünf vor der ,chriftlichen Studenten-Vereinigung',
einer vor der Berliner Paftorenconferenz gehalten wurden,
durch den Druck weiteren Kreifen zugänglich gemacht find.
Ein felbftändiger Denker legt in ihnen ein auf perfönlicher
Erfahrung beruhendes warmes Zeugnifs für den Werth des
Chriftenthums ab. Er zeigt dabei ein feines Verftändnifs
für das, was das Wichtige im Chriftenthum ift, fpeciell
für die ethifche Art des chriftlichen Gottesbegriffes und
für die ethifche Zweckbeziehung des chriftlichen Gnaden-
ftandes. Dafs er alles rhetorifche Pathos verfchmäht und
als Philofoph auch nicht in dem conventioneilen dogmati-
fchen Gedankenfachwerk der Theologen denkt, macht die
Vorträge nur um fo eindrucksvoller. Möchten fie von
Vielen gelefen und beherzigt werden!

Jena. H. H. Wendt.

Granjon, Frangois, Erlebnisse eines Gewissens. Autorifierte
Ueberfetzung von A. Koetteritz. München 1902, J. F.
Lehmann. (VII, 187 S. gr. 8.) M. 2.4O; geb. M. 3.60

Die ,Erlebnifse eines Gewiffens' von Frangois Granjon,
unter welchem Pfeudonym fich der Name des Abbe
Charles Fleury nur fcheinbar verbirgt, enthalten in
fchlichter Sprache und einfacher ungekünftelter Dar-
ftellung eine furchtbare Anklage gegen die katholifche
Kirche und die Methode, mit der fie ihre Herrfchaft
über die Gewiffen zu erhalten und zu erweitern fucht.
Sie fchildern uns ohne Leidenfchaft und Bitterkeit, wie

1 der junge Abbe-feinem Elternhaus und feinen Freunden,
feinem berechtigten natürlichen Empfinden und feinem
gefunden fittlichen Urtheil fyftematifch entfremdet und
immer mehr in den Bann ausfchliefslich clerikalen

j Denkens und Strebens gezogen wurde, und erwecken
dadurch unwillkürlich unfere innige Sympathie mit ihm

I und die wachfende Empörung über die katholifche
Kirche, die fo das Befte an ihren Beften verdirbt. Diefe

! Sympathie aber fteigert fich immer mehr zu aufrichtiger

i Bewunderung, je tiefer wir in die Seelenkämpfe diefes

j jungen Priefters hineinfehauen, die fich zwifchen dem

j Glauben an die Heilsmittlerfchaft der katholifchen Kirche
und den Verftandeszweifeln, der Treue gegen die einmal

I übernommenen Gelübde und der natürlichen Neigung
feines Herzens abfpielen und die fchliefslich mit dem

I völligen Bruch mit den alten Banden und dem Ueber-
tritt zur evangelifchen Kirche fchliefsen. Manchem wird
es freilich unbegreiflich fein, dafs der junge Expriefter
und zärtliche Gatte den Mahnungen feines früheren
Beichtvaters noch immer fo viel Gehör fchenkt, dafs er
feine Gattin wiewohl mit blutendem Herzen zweimal ver-
läfst und ins Klofter geht, um fein Seelenheil nicht zu
verfäumen und über den rechten Weg dazu ins Klare
zu kommen. Aber wer den machtvollen Einflufs,
den die katholifche Kirche von früh an auf die werdenden
Cleriker ausübt, in Betracht zieht, wird auch hierin
nur den heiligen Efrnft des jungen Abbe ehren können.

! Ein kurzes Schlufswort der Ueberfetzerin theilt aus dem
Chretien francais die weiteren Schickfale diefes jetzt in
Rey-Saint-Martin als reformirter Geiftlicher fegensreich
wirkenden einftigen Abbe mit. Da die Ueberfetzung
in allen Theilen fehr wohl gelungen ift und auch die
Ausftattung und der Druck kaum etwas zu wünfehen
übrig laffen, fo fteht zu erwarten, dafs es dem fpannen-
den Buche auch in Deutfchland nicht an dankbaren Le-
fern fehlen wird.

Bafel. A.Bruckner.