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Ausgabe: | 1903 Nr. 17 |
Spalte: | 482-483 |
Autor/Hrsg.: | Herrmann, Wilhelm |
Titel/Untertitel: | Römische und evangelische Sittlichkeit. 3., verm. Aufl 1903 |
Rezensent: | Wendt, Hans Hinrich |
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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 17
482
die Feftftellung der begrifflichen Seite des Glaubens im
Sinne Kant's, ohne doch zu verkennen, dafs diefe Aufgabe
genügend nur behandelt werden kann, wenn zugleich auch
auf den Glaubensinhalt Rückficht genommen wird. Doch
will er nur Kant's Lehre felbft treu und objectiv wiedergeben
und von einer ,allgemeinen Kritik fpecicll über
den Werth der Kantifchen Glaubenstheorie für Wiffen-
fchaft und Leben' abfehen. Aber auch die immanente
Kritik Kant's aus deffen eignen Gedanken heraus, zu der
fleh der Verf. im Zufammenhange feiner Darlegungen
für befugt anfleht, hält fleh in befcheidenen Grenzen.
Die Objectivität der Darftellung hat bei diefer von dem
Verf. feinem Stoffe gegenüber geübten Referve nur gewinnen
können.
Der Fortfehritt der Erörterung ift, abgefehen von
der Ausbeutung des Kant'fchen Nachlaffes, bei dem fleh
dies von felbft verbot, durchaus durch den chronolo-
gifchen Gefichtspunkt beftimmt, und die in Betracht
kommenden Schriften werden jede für fleh betrachtet.
Die von dem Verf. (S. 11) hervorgehobenen Gründe für
diefes Verfahren find in der That durchfchlagend. Dafs
dabei andererfeits zahlreiche Wiederholungen unvermeidlich
gewefen find, ift ja richtig. Immerhin heben
fleh fo von den fleh gleichbleibenden Hauptgedanken
Kant's die mehrfach wechfelnden und fleh modificirenden
Begriffsbeftimmungen im Einzelnen um fo deutlicher ab.
Die bei aller Knappheit der Darftellung doch am
ausführlichften gerathene Befprechung der Kritik der
reinen Vernunft als der erften unter den kritifchen
Schriften läfst zugleich die allgemeinen philofophifchen
Grundgedanken Kant's als den gegebenen Hintergrund
auch für feine fpeciellen Anflehten über den Glauben
wirkfam hervortreten. So ergiebt fleh der Glaube im
Sinne Kant's als ein Begriff, der im Zufammenhange feiner
gefammten Weltanfchauung durchaus innerlich begründet
und nothwendig ericheint. Mufste aber Kant, wie er
felbft einmal fagt, das Wiffen aufheben, um zum Glauben
Platz zu bekommen, fo handelte es fleh bei diefem doch
für ihn nicht, wie für alle feine Vorgänger und noch für
Leibniz, um ein aufserphilofophifches religöfes Syftem,
fondern um einen Glauben, den der Menfch frei aus fleh
felbft hervorbringt. Hierüber fagt Vaihinger in feinem
Geleitwort: ,Das Neue und bis dahin Unerhörte beftand
alfo darin, dafs Kant den verpönten Begriff des „Glaubens
" in die Philofophie felbft einführte'. In diefem
Sinne aber ift der Glaube .Vernunftglaube', fofern damit,
wie der Verf. ausführt, die Quelle angegeben wird, welcher
der Glaube entflammt (S. 50). Er .fällt zufammen mit den
Poflulaten der praktifchen Vernunft'. Denn .Glaube und
Poftulat find nicht geboten, fondern freiwillig. Beide
haben als inneres Merkmal die fubjective Gewifsheit'
(S. 72). Die Poftulate aber „gehen alle vom Grundfatze
der Moralität aus, die kein Poftulat, fondern ein Gefetz
ift, durch welches Vernunft unmittelbar den Willen beftimmt
" (S. 67).
Von den fchwankenden Gebilden innerhalb der
Kant'fchen Begriffswelt, die der Verf. behandelt, ift be-
fonders charakteriftifch der Begriff des doctrinalen Glaubens
, in dem fleh Kant's ftarkes theoretifches Intereffe
an einer teleologifchen Weltbetrachtung zunächft einen
Ausdruck zu fchaffen fucht (vgl. S. 29; 39 ff; 81), und von
dem Kant dann doch fpäter nichts mehr wiffen will
(S. 105). Intereffant ift ferner der Nachweis gewiffer
Unklarheiten Kant's in der Auffaffung der Freiheit, die
theils als Poftulat, theils als That fache behandelt wird
(S. 75. 112), in der Feflftellung des Verhültnifses zwifchen
der Unfterblichkeits- und der Gottesidee und in der Verwendung
der damit zufammenhängenden Begriffe höchftes
Gut und intelligible Welt. Geradezu aus feiner Rolle
fallt aber Kant, wenn er in feinen Vorlefungen über die
philofophifche Religionslehre an 2 Stellen (S. 116 f.)
die Moral aus der Religion, ftatt, wie fonft immer, diefe
aus jener hervorgehen läfst.
An der Hervorhebung diefer Einzelheiten mag es
genug fein. Im Ganzen tritt uns auch in diefer monogra-
phifchen Behandlung des Kant'fchen Glaubensbegriffes
der ganze Kant in feiner weltgefchichtlichen Gröfse fo-
j wohl, wie in der rationaliftifchen Befchränktheit feines
I abftracten Moralismus entgegen. Seine eigentliche Grofs-
j that ift eben doch nur die Kritik der reinen Vernunft
i mit ihrem weittragenden Ergebnifs, dafs das auf die Er-
I fahrung befchränkte Wiffen und das die Erfahrung trans-
! feendirende Glauben in ihrer Art verfchiedene Leiftungen
! des menfehlichen Geiftes find. Neben diefer Einficht behaupten
dauernden Werth auch einige feiner formalen
i ethifchen Erkenntnifse, auf die der Verf. jedoch keinen
i Anlafs hatte einzugehen. Aber gerade auch in deffen
j fchlichter, zuverläffiger Darftellung erfcheint die in Kant's
Schrift über die Religion innerhalb der reinen Vernunft
I geübte Kritik an dem gefchichtlichen Chriftenthum eben-
fo wie die Theorie von der reinen praktifchen Vernunft
als ein noch mit recht unzulänglichen Mitteln unternommenes
Ringen danach, die Selbftändigkeit des nur
erft in feinem grundfätzlichen Unterfchiede von allem
Wiffen, aber noch nicht auch in feiner eigenen Eigen-
thümlichkeit erfafsten religiöfen Glaubens zur Geltung
zu bringen. Und fo hat Kant mit diefen Bemühungen
doch vielmehr der Folgezeit fruchtbare neue Aufgaben
gefleht, als dafs er felbft im Stande gewefen wäre, fle vermöge
feines Grundgedankens, der fehr anfechtbaren
j Fiction eines der Vernunft als folcher immanenten Sitten-
I gefetzes, auch fchon befriedigend zu löfen. Allerdings
■ ift es in der Wiffenfchaft nicht feiten das gröfsere Ver-
■ dienft, wichtige Fragen zum erften Male richtig und ein-
! drückiieh zu Hellen, als ein von anderen fchon oft durch-
forfchtes und durchdachtes Problem fchliefslich endgültig
zu erledigen.
Endlich hat der Verf. in einem nur freilich allzu
kurzen Anhange noch einiges über ,die Einwirkung der
I kritifchen Philofophie auf die Theologie' gefagt. Ne-
j gativ, führt er hier aus, habe Kant ,den fpeculativen
j Unterbau des Dogmas zertrümmert', pofitiv habe er in
dem Gebiet des praktifch-moralifchen Glaubens ein neues
Fundament gefchaffen, auf das er die höchften Wahr-
I heiten geftützt wiffen wolle. Unter diefem Geflchtspunkte
j wird dann der Einflufs Kant's auf Schleiermacher und
A. Ritfehl fkizzirt. Auch in diefem Abfchnitt enthält fich
| der Verf. des eigenen Urtheils über die von ihm con-
flatirten Uebereinflimmungen und Unterfchiede. Die Er-
| gänzungsbedürftigkeit der in diefem Anhange gegebenen
Ausführungen des Verf.' fcheint auch Vaihinger empfunden
zu haben, der in feinem gehaltreichen und inftruetiven
Geleitwort theils die Doppeldeutigkeit der Kant'fchen
Anfchauungen im metaphyflfch-dogmatifirenden und im
kritieiflifchen Sinne hervorhebt, theils auch das Ver-
I hältnifs von Biedermann, Lipfius, Sabatier und Henri
j Blois, dem Führer der Schule von Montauban, zu Kant
j befpricht. Unter den von Kant theilweife abhängigen
[ Theologen des 19. Jahrhunderts verdient vor allem aber
auch de Wette mit feiner fehr bedeutenden Schrift über
Rel igion und Theologie (1821) nicht überfehen zu werden.
1 der in diefem Buche manches, was neuerdings Sabatier in
I glänzenderer Darftellung vertreten hat, doch fchon fehr
viel fleherer und klarer zum Ausdruck zu bringen verftand.
Bonn. o. Ritfchl.
Herrmann, Prof. D. W., Römische und evangelische Sittlichkeit
. 3. vermehrte Auflage. Marburg 1903, N. G.
El wert. (IV. 176 S. 8.) M. 2.—
Schon in der zweiten Auflage hatte Herrmann feinem
ursprünglichen Vortrage über römifche und evangelifche
; Sittlichkeit die Befprechung einer katholifchenGegenfchrift
j des Prof. J. Adloff in Strafsburg angefügt. Jetzt bietet du
I dritte Auflage eine ausführliche Auseinanderfetzung nicht
! nur mit Adloff, der inzwifchen noch eine zweite Schrift