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Ausgabe:

1903 Nr. 14

Spalte:

408-413

Autor/Hrsg.:

Roberty, J. E.

Titel/Untertitel:

Auguste Bouvier, théologien protestant, 1826 - 1893 1903

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 14.

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brochen hat und in dem Gottesglauben nur Aberglauben j zugleich ein Geift wohlthuender religiöfer Wärme und

zu erblicken vermag, verftändlich zu machen, dafs der
liberale Proteftantismus, weit entfernt, feinen Bekennern
ein sacrificium intellectus zuzumuthen, mit allen Errungenschaften
des modernen Geiftes vereinbar ift, ja dafs er
durch feine vor der Vernunft und dem Gewiffen fich
legitimirende Faffung der Religion ein wirkliches einheitliches
Verftändnifs der Welt erft ermöglicht und
Schert. In diefer doppelten Richtung verfolgt demnach
der Verf. einen durchaus pofitiven, aufbauenden Zweck,
den er, bei allem Freimuth und aller Kühnheit feiner
ftets fachlich vorgehenden und vornehm gehaltenen
Polemik, nie aus den Augen verliert. La negation est
sterile. Dans le domaine de la vie religieuse et morale,
en particulier, Vafftrmation seule peut procurer les ener-

froher Siegeszuverficht, die in den Worten des letzten
Vortrags ihren vollen Ausdruck findet: Le nombi'e des
communautes ecclesiastiques sur lesquelles flotte l'etcndard
du protestantisme liberal est restreint, le diocese oü soufflc
l'esprit du protestantisme ou du christianismc liberal, couvrc
le monde (S. 176).

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Roberty, J. E., Auguste Bouvier, theologien Protestant,
1826—1893. Paris 1901, Alcan. (372 p. 8.) Fr. 3.75
Bouvier, Aug., Dogmatique chretienne, publiee d'apres le
cours manuscrit et les notes de l'auteur par Ed.
Montet, doyen de la faculte de thehlogie de Geneve.
giessans lesquelles il n'y a pas de vte. II flaut tailler 2 yol> Parjs Fischbacher. (XVI, 320 u. 326

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l'arbre pour qu'il donne un fruit savoureux, mais ce n'est .

pas la taille qui fait germer et mürir le fruit, fest la P- I2-5°

seve (S. 146—147). Im erflen Vortrage (S. I—31) (teilt R.
die Genefis des liberalen Proteftantismus dar, den er als
die confequente und allfeitige Durchführung des reforma-
torifchen Princips fafst. In den drei folgenden (S. 33—144)

Der Name eines der hervorragendsten Theologen, den
die evangelifche Kirche Genfs im XIX. Jahrhundert aufzu-
weifen hat, ift in Deutfchland zwar nicht ganz unbekannt;
es darf aber zuverfichtlich behauptet werden, dafs diefer

prüft er den liberalen Proteftantismus im Lichte der reli- durch die Vielfeitigkeit feiner geiftigen Intereffen, durch

giöfen, der moralifchen und der focialen Erfahrung. Der
letzte ift dem Ideal des liberalen Proteftantismus und
dem Beruf desfelben in der modernen Gefellfchaft ge

die feltene Verbindung muthiger Weltoffenheit und tiefer
Gottinnigkeit, durch die Originalität feiner Gedanken und
die edle Beredtfamkeit feiner wichtigsten Schriften auswidmet
. Der Verf. ift überzeugt, dafs diefe Richtung des I gezeichnete Lehrer unter uns noch nicht die ihm ge-
Proteftantismus die normale Fortbildung des durch die ! bührende Beachtung gefunden hat. Es erklärt fich diefe

Reformation wieder gewonnenen Verftändnifses des Evangeliums
darfteilt. Doeuvre du protestantisme liberal n'est
en derniere analysc que la continuation de l'oeuvre reflor-
matrice dans la societe moderne, ni conservatrice, ni revo-
lutionnaire, mais progressive et procedant par evolution

Unkenntnifs, abgefehen von verfchiedenen nahe liegenden
Gründen, zum Theil aus der Sonderstellung des jedem
Schul- und Parteiwefen abholden Theologen, vielleicht
auch aus einer gewiffen Unbestimmtheit, die manchen
feiner Gedankengänge anhaftet, fowie aus dem eigen-

(S. 148). Es dürfte indeffen fraglich fein, ob in den Aus- ! thümlichen Charakter feiner mehr rhetorifchen als Streng
führungen über den Zufammenhang des liberalen Pro- j wiffenfchaftlichen Sprache. Wie dem auch fei, es lohnt
teftantismus und der Reformation R. den religiöfen | Sich, gerade den Mann, der auf weitere Kreife einen immer
Grundfactoren und den treibenden Motiven der letzteren J noch nachwirkenden Einflufs ausgeübt hat, näher kennen
im ganzen Umfang gerecht wird. Hat er die Heils- 1 zu lernen. Die Gelegenheit dazu wird uns zunächst durch
frage, die in dem praktifchen Problem der certitudo sa- das fein ausgeführte, mit liebevollem Verftändnifs ge-
lutis Sich zufammenfaSst, nicht zu Gunften der formalen j zeichnete Charakterbild geboten, das ein dankbarer,

Autoritätsfrage zu fehr in den Hintergrund treten laffen?
Auch fonft wird der principiell dem Verf. zustimmende
LeSer bei manchen Einzelfragen feine Bedenken äufsern.
Wie fehr R. auch den zwifchen der religiöfen Glaubens-
gewifsheit und der wiffenfehaftlich theoretifchen Erkennt-
nifs obwaltenden Unterfchied hervorhebt (z.B. S. 161—164),
fo fcheint er mir doch nicht überall diefe Differenz genügend
zur Geltung gebracht, noch alle Confequenzen aus
diefen Praemiffen gezogen zu haben. Dafür hat er um fo
energifcher die falfche Deutung und Verwerthung der von
ihm felbft richtig bezeichneten Unterfcheidung zurückge-
wiefen (S. 164—167). Denen aber, die in dem von feinem
beredten Anwalt gerechtfertigten Liberalismus eine Verstümmelung
oder Verkümmerung des Chriftenthums erblicken
möchten, entgegnet er einfach: , Une pareille re-
ligion vous parait pauvre et reduite a sa plus humble ex-
pressionr Essay ez donc de la realiser, et vous verrcz ce
quHl en est de sa pretendue insuffisance'' (S. 62). In theologifche
Specialerörterungen geht der zu einem nicht
zünftigen Laienpublicum fprechende Redner nicht ein.
In dem dritten Vortrage kommt er auf die Sünde und
die hvrlöfung zu reden; er bemüht Sich, bei aller ent-
fchiedenen Befeitigung der durch die alte Dogmatik
aufgestellten theologischen Formulirung, das religiöfe
und das ethifche Intereffe des hergebrachten Dogmas
zu wahren. Nur von diefer Rückbildung der Lehren und
Gebräuche in das immer frifch pulfirende Leben einer
jedem äufseren Zwang entwachfenen Frömmigkeit ift
das Heil und die Gefundung des Einzelnen und der Gefellfchaft
zu erwarten. Ja es vertritt R. fehr beftimmt die
Forderung eines undogmatifchen Chriftenthums, die Sich
in dieSen Vorträgen mit ihren Vorzügen und ihren Mängeln
aufs kräftigfte geltend macht. In allen Vorträgen athmet

aber keineswegs durch unkritifche Begeifterung eingenommener
Schüler des Genfer Profeffors, Pfr. E. Roberty
aus Paris, auf Grund eines reichen Materials gefchildert
hat. Die religiöfe Gedankenwelt Bouvier's erfchliefst uns
die aus feinem Nachlafs durch den Decan der theologi-
fchen Facultät zu Genf Prof. Montet veröffentlichte
Vorlefung über die christliche Glaubenslehre. An der
Hand dieSer Schriften ift es eine eben fo leichte als
lohnende Aufgabe, das Bild der geiftigen Individualität
des um die evangelifche Theologie des franzöfifch redenden
Proteftantismus hoch verdienten Mannes auch unter
uns wieder aufleben zu laffen.

Im Jahre 1826 zu Genf geboren, als der Sohn eines
in der dortigen Kirche fehr gefchätzten Predigers, auf
dem Gymnafium feiner Vaterftadt gebildet, reifte der
angehende Theologe nach Deutfchland und ftudierte
von Sept. 1845 bis Oer. 1846 in Berlin, wo ihn befonders
Neander durch die Innigkeit feiner Religiofität anzog und
ihm auch wiffenfehaftlich mancherlei Anregungen gab.
Seine am 12. December 1851 öffentlich vertheidigte In-
auguraldiffertation, eine 246 Seiten ftarke Schrift, Etüde
sur les conditions du developpement social du christianismc,
leidet zwar an mancherlei Unklarheiten und ift von
jugendlicher Ueberftürzung nicht frei zu fprechen, aber
Sie ift auch heute noch beachtenswerth und enthält zahlreiche
Ausführungen, die ganz in die Richtung weifen,
welche die christliche Ethik der neueften Zeit, allerdings
mit klarerem Bewufstfein und reicherer Erfahrung, verfolgt
. Die neun Jahre, welche Bouvier im praktifchen
Kirchendienfte als Gehilfe von Ad. Monod bei der
Parifer Evangelifation, als Prediger an der Schweizer
Kirche in London, als Pfarrer in Celigny und in Genf
wirkte, waren für ihn eine Zeit religiöfer Vertiefung, geiftiger