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Ausgabe:

1903 Nr. 13

Spalte:

382-383

Autor/Hrsg.:

Weiss, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Briefe Pauli an Timotheus und Titus 1903

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 13.

382

der übermächtige Drang zur Philofophie. Auf theologi-
fchem Gebiet ift S. vor einigen Jahren hervorgetreten
mit einer Studie über die Pfychologie des Apoftels Paulus,
in welcher er vielfach feine eigenen Wege wandelt, ohne
die von feinen Vorgängern angeregten fragen einer be-
fonderen Beachtung zu würdigen. So bekümmert er fich
auch jetzt nur in ganz befcheidenem Mafse um die auf
das johanneifche Problem bezüglichen Unterfuchungen
der neueften wiffenfchaftlichen Theologie. Seine Vertrautheit
mit der Philofophie des Alterthums und der
Neuzeit documentirt er reichlich durch alle Abfchnitte
hindurch; in Hinficht der theologifchen Literatur hingegen
übt er eine grofse Zurückhaltung und infofern er
einige Werke heranzieht, legt er einen merkwürdigen
Eklektizismus an den Tag, der fich in der Anführung
älterer, aus der Mode gekommener Werke gefällt. Unter
den wenigen theologifchen Arbeiten, die genannt werden,
findet man z.B. Meyer, Comm. z.Joh.-Ev. von 1834 oder
Tholuck's Comm. von 1828 oder Jordan Bacher, Des Ap.
Joh. Lehre vom Logos, 1856.

Für S. find die Schriftausfagen über den Logos ge-
offenbarte Wahrheit. Durch diefelben werde das Wunder
der gottmenfchlichen Perfon Jehl Chrifti bis in die Ewigkeit
verfolgt. Aber nicht blofs die letzten Ausläufer der
neuteftamentlichen Gedankenbildung, wie Kaftan behauptet
, feien die Logosfätze, fondern in ihnen liegen die
Wurzeln der chriftlichen Religion verborgen. Wird dem
Verf. entgegengehalten, dafs Jefus und das N. T. einen
ganz anderen Heilsweg vorzeigen, als die Zufhmmung
zu beftimmten Verftandeswahrheiten über Gott und den
Logos, fo entgegnet er in der Weife des Philofophen,
der mit der Aufdeckung eines formalen logifchen Wider-
fpruchs die Sache ausfechten zu können glaubt: ,das
hiefse, unter Berufung auf die Schrift ein Stück der
Erkenntnifs Jefu Chrifti, wie die Schrift ihn bezeugt,
als falfch aufgeben' (p. 5). Der gefchichtlich Denkende
freilich würde hier zuerft die Frage aufwerfen, ob nicht
die Idee von der Autorität der Schrift felbft vorerft
einer Richtigftellung bedarf, und ob nicht allgemeingültige
religiöfe Wahrheiten von den abgeleiteten und zeit-
gefchichtlich beeinflufsten Lehrfätzen zu unterfcheiden
find. Der Verf. weifs allerdings und führt es nachher
gleich aus, dafs auch das Heidenthum den Logos kennt,
gerade wie die von Jefus vertretene Meffiasidee auch im
Bewufstfein feiner jüdifchen Zeitgenoffen lebte. Aber
nur das, was von diefer Idee in die Schrift Eingang gefunden
hat, ift nach S. echte Offenbarung. Und er beruhigt
fich damit, dafs Jefus eben doch diefe jüdifche
Meffiaserwartung umgeftaltet habe. Wenn fich aber der
Philofoph fchon mit der Conftatirung, dafs Jefus viele
.erhebliche Beftandtheile des populären Meffiasbildes
fallen liefs', begnügt, fo kann fich doch der Hifto-
riker nicht verhehlen, dafs der Meffianismus Jefu
wiederum manche jüdifche Züge beibehalten hat, und
dafs z. B. die Parufieausfagen fich von feinen anderen
Ausfprüchen über das Reich Gottes fcharf abheben. So
(tände eben auch hier wieder, wie beim Logos, die
Schrift gegen die Schrift. Die Theorie, welche die Offenbarung
der Schrift gleichfetzt, kommt auf keinem Punkte
zu einer befriedigenden Löfung.

Der Betrachtung der chriftlichen Logosidee fchickt
S. die Vorgefchichte diefer Idee bei den Orientalen und
den Griechen voraus. Die orientalifche Denkart geht von
der abfoluten Erhabenheit der Gottheit aus und verlangt
mehr oder weniger deutlich nach einer perfönlichen
Offenbarung des verborgenen Gottes. In der griechi-
fchen Philofophie ftellt der Logos den vernünftigen
Weltzweck dar. Die beiden Richtungen kreuzen fich in
Philo von Alexandrien, in welcher Stadt die religiöfen
und philofophifchen Gedanken des Orients und Occidents
überhaupt zufammenftrömten. Die Logoslehre empfahl
fich dem alexandrinifchen Juden befonders dadurch, dafs
der Logos in feiner Doppelbedeutung als ,Wort' und ,Ver-

nunft' feinem fynkretiftifchen Streben entgegenkam. Er hat
zuerft den Verfuch gemacht, den orientalifchen und den
griechifchen Logos, d. h. das göttliche Offenbarungs-
princip und das die Welt nach Zwecken ordnende Ver-
nunftprincip zu verfchmelzen. Die chriftliche Logoslehre
wird dann von S. in Anlehnung an den Prolog zuerft
in ihrer Zweckbedeutung (Leben) und dann in ihrer
Bedeutung für das Erkennen (Licht) dargelegt. Es handelt
fich aber in diefen Capiteln nicht fowohl um eine
Exegefe der Gedanken des Evangeliften Johannes, als
vielmehr um eine ausführliche Entwickelung aller dog-
matifchen und philofophifchen Ideen des Verf.'s. Die
Frageftellungen der alten und neuen Philofophie, Kant,
Fichte, Sendling, Nietzfche, Erkenntnifstheorie und
Pfychologie, natürliche Religion und Myftik, Offenbarung
und Entwickelung, Sünde, Tod, Zorn Gottes, die Dämonen
und der Satan, die ganze Dogmatik kommt zur Sprache.
Alles, auch das Weitabliegendfte, wird aus dem Logosbegriff
herausgefponnen. Es giebt in der That nichts
in der Welt, was fich nicht zu dem Logos, dem Offenbarer
Gottes in der Welt, in pofitive oder negative Beziehung
bringen liefse, und es könnte demnach der Ausdruck
,der Logos' allen Autoren, die um einen Titel für ihre
Werke verlegen find, beftens empfohlen werden. Hat
man fich einmal in die Art des Verf.'s gefunden und betrachtet
man feine Arbeit lediglich von dem Gefichts-
punkt aus, wie der moderne Menfch fich von feinem
Chriftenglauben Rechenfchaft geben mag, fo entbehren
feine Ausführungen nicht eines originalen perfönlichen
Zuges und wirken meift fehr anregend. Bemerkungen
wie diejenigen über Wunder und Caufalität, über die
Verwechselung von Logik und Pfychologie in der
Orthodoxie und vieles Andere werden die Gebildeten
mit Nutzen und Freude lefen. Auch die praktifchen
Geiftlichen, die für folche Kreife predigen, werden in
dem Buche eine nicht geringe Ernte halten können.

Giefsen. Baldensperger.

Weiss, Wirkl. Oberkonfift.-R. Prof. Dr. Bernhard, Die
Briefe Pauli an Timotheus und Titus. Von der 5. Auflage
an neu bearbeitet von W. (Kritifch-exegetifcher
Kommentar über das Neue Teftament, begründet von
Heinr. Aug. Wilh. Meyer. XL Abteilung. — 7. ver-
befferte Auflage.) Göttingen 1902. Vandenhoeck &
Ruprecht. (379 S. gr. 8.) M. 5,80; geb. in Halbleder

M. 7.30.

Während die 6. Auflage 1894 Zufätze von der Hand
des Sohnes Weifs aufwies, hat mit dankbarer Benutzung
derfelben der Vater die, übrigens wohlthätige Verkürzung
aufweifende, 7. wieder allein beforgt. Stehen geblieben
ift im Wefentlichen der Text der 5. von 1885 unter Be-
feitigung der in den 4 erften Auflagen erfchienenen Erklärung
Huthers. Stehen geblieben ift auch die durchgängige
Polemik gegen mich, der ich mich nur davon
überrafcht finden kann, noch immer als Hauptgegner der
paulinifchen Authentie diefer Briefe zu gelten. Es ift
das mehr, als ich felbft mir zufchreiben dürfte angefichts
der Thatfache, dafs in der unmittelbaren Vergangenheit
und Gegenwart wenigftens in Deutfchland aufser B. Weifs
und Th. Zahn alle in Betracht kommenden neuteftamentlichen
Exegeten und Kritiker — es fei nur erinnert an
Weizfäcker, Beyfchlag, Hilgenfeld, Schürer, v. Soden,
Harnack, Pfleiderer — ihre wertvollen Beiträge zu einem
Entfeheid geliefert haben, welcher dem traditionell lautenden
Schlufsurtheil des Verf.'s entgegentritt. Freuen
kann ich mich aber auch mancher Belehrung, die ich
feiner hermeneutifchen Meifterfchaft verdanke. Sicherlich
wird der Kommentar auch in diefer neueften Faffung
feine Stelle als Fundgrube exegetifchen Materials und
Wegweifer zur Orientirung in hunderterlei fchwierigen