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Ausgabe:

1903

Spalte:

369-373

Autor/Hrsg.:

Bousset, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter 1903

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. in Berlin, und D. E. Schürer, Prof. in Göttingen.

Jährlich 26 Nrn. Verlag: J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung, Leipzig. Jährlich 18 Mark.

Nr. 13.

20. Juni 1903.

28. Jahrgang.

Bouffet, Die Religion des Judentums im neu-
teftamentlichen Zeitalter (H. Holt/mann).

Mommert, Topographie des alten Jerufalem,
1. Teil (Schürer).

Hoberg, Die ältefte lateinifche Ueberfetzung
des Buches Baruch (Schürer).

Lake, Texts from Mount Athos (v. Dobfchütz).

Weifs, Das Johannes - Evangelium [Meyer's
Kommentar II] 9. Aufl. (H. Holtzmann).

Meyer, K., Der Prolog desJohannesvangeliums
(Baldenfperger).

Simon, Der Logos (Der!.).

Weifs, Die Briefe Pauli an Timotheus und Titus
[Meyer's Kommentar XI] 7. Aufl.(H. Holtzmann).

Scheel, Luthers Stellung zur heiligen Schrift
(Koehler).

Cornelius, Einleitung in die Philofophie (E. W.
Mayer).

Stange, Der Gedankengang der ,Kritik der
reinen Vernunft' (E. W. Mayer).

Bousset, Prof. D.Wilhelm, Die Religion des Judentums im
neutestamentlichen Zeitalter. Berlin 1903, Reuther & Reichard
. (XIV, 512 S. gr. 8.) M. 10.— ; geb. M. 11.50

Kein Sachkenner wird diefes Buch in die Hand
nehmen ohne grofse Erwartungen; keiner wird es aus
der Hand legen ohne entfprechende Befriedigung. Wer
fich feiner Zeit noch mit Gfrörer's und feiner Nachfolger,
zuletzt mit F. Weber's Darftellungen der fpätjüdifchen
Theologie behelfen mufste und fich dabei einem mit der
Zeit zwar maffenhaft anwachfenden, aber fchwer zu fichtenden
und chronologifch wie fachlich zu ordnenden Stoffe
oft rathlos gegenübergeftellt fah, der mufste wohl nach
einem Werke Verlangen tragen, wie es uns hier inhaltlich
ausgetragen und formell durchgearbeitet vorliegt. Nur

(S. 76. 87. 408) drückt die Sache, die gemeint ift, nicht
fo deutlich aus. Das Wort ,Kirche' ift am Platz, ,weil
von allen damals über das Volk hinüberftrebenden Religionen
das Judenthum wirklich eine ganze Volksmaffe
in Paläftina fowohl wie in der Diafpora erfafst hat'
(S. 149). ,Der volksmäfsige Zufammenhang ift vollkommen
gelockert, felbft eine gemeinfame Sprache ift nicht
mehr vorhanden, und dennoch auch zum Staunen der
Aufsenwelt bildet das Judenthum eine geiftige Einheit'.
,Die nationale Religion entwickelt fich zur Kirche' (S. 71),
zu deren Wefen eben dies gehört, dafs trotz mehr oder
weniger vorgefchrittener Ablöfung vom nationalen Leben
es doch keineswegs einfach zum religiöfen Individualismus
kommt, fondern neue Formen religiöfer Gemeinfamkeit
gefunden werden, in welchen die Religion die nationale

Jahre lang mit unverdroffenem Fleifs und nie erlahmender j Grenze zu überfchreiten vermag (S. 55). Einen folchen
UrtheilskraftbisindieentlegenftenunddunkelftenRegionen j Anblick bietet uns das Judenthum zumal im herodiani-
des Spätjudenthums fortgefetzte Studien vermochten eine | fchen Zeitalter (S. 62—64), welches überdies noch ein
fo erftaunlich reichhaltige, über ungezähltes Detail Aus- j Hauptmerkmal der zur Kirche fich entwickelnden Religion
kunft gebende und dabei klar und überfichtlich geordnete in einem fertigen Kanon aufweift (S. 120). Weitere Inventar-
Leiftung zu zeitigen. Freilich kamen dem Unternehmen ftücke der Kirche begegnen in der Erfcheinung einer fpeci-
aufser zahlreichen Specialunterfuchungen vor Allem die flfch kirchlich zugefchnittenen Ethik (S. 112 f.) und in ent-
grofsen Gefchichtswerke von Schürer und Wellhaufen zu fprechenden Gefellfchaftskreifen, innerhalb welcher eine
gut. Aber mannigfache Differenzen auch mit diefen zeigen correct kirchliche Frömmigkeit ex professo geübt (S. 161 f.
nur, wie Vieles auf diefem dunkeln Gebiet der Forfchung 1 374) und die centrale Bedeutung des Glaubens im Sinne des
noch im Flufs begriffen ift. Zurückhaltung und Vorficht Bekenntnifses zum Einen Gott (S. 291) empfunden wird
find, wenn irgendwo, fo hier geboten. Das grofse Ver- I (S. 175). Specififch kirchliche Sünde ift derUnglaube (S. 177).
dienft diefer neueften Leiftung wird auch durch Flüch- I Gelegentlich fei hier aufmerkfam gemacht auf die intereffan-
tigkeitsfehler und Verfehen in Jen zahllofen rabbinifchen | ten Nachweife bezüglich des allmählich zum Bewufstfein
Citaten nicht wefentlich gefchmälert. Zumal der jetzt gedeihenden Werthes des Glaubens in der Religion (S. 175b
eben mächtig emporftrebenden religionsgefchichtlichen | 367), auf feine centrale Stellung bei Philo (S. 176b 421 f.),
Erforfchung der neuteftamentlichen Ideenwelt ift damit j feine Bedeutung fogar neben den Werken (S. 177 b 289),
abermals kräftiger Vorfchub geleiftet, und weniger als I was den Verf. gelegentlich zu einer exegetifch unhaltbaren
je zuvor werden Verfuche, fich einer folchen Behandlung , Behauptung in der Jacobusfrage veranlafst (S. 178). Endlich
biblifch-theologifcher Probleme zu entziehen, verftanden
oder entfchuldigt werden können. Eine knappe Ueberficht
des Gebotenen dürfte genügen, um folches Urtheil zu
rechtfertigen.

Der erfte Abfchnitt (S. 6—53) bringt eine präcis und
überfichtlich gehaltene Darfteilung der Quellen, die das
ganze Gebiet zwifchen den makkabäifchen Religionskriegen
und dem Verzweiflungskampf unter Hadrian umfafst und

gehört noch zum Wefen der Kirche, ,dafs fie ihren Gläubigen
bis zu einem gewiffen Grade das Heil, die Erreichung
des Zieles, nach dem fie ftreben, durch beftimmte Infti-
tutionen verbürgt' (S. 179). Wie fehr aber auch hier die
Synagoge bei den erbten Anfängen flehen geblieben ift
zeigt augenfeheinlich der Umftand, dafs ihr ganz fremd
die Sacramentsideen geblieben find (S. 106. HO 180.
J-t2.f- 2<55- 436 b 443), durch deren Aufnahme dann das
an Vollftändigkeit fchwer zu übertreffen fein dürfte. Pa- [ Cnnftenthum der es umgebenden Völkerwelt feinen Tribut
läftinenfifche Literatur und Schriftftellerei der Diafpora j gezahlt hat (S. 184). Auffallen könnte dabei, dafs dem
(fcharfe Grenzen giebt es hier nicht, vgl. S. 408b) kommen Opferbegriff nur eine nebenfächliche Behandlung zuTheil
in gleicher Weife zu ihrem Recht. Chronologifche Ord- 1 wird (S. 180, vgl. S. 430).

nung ift angeftrebt und foweit möglich erreicht. Wir müffen hier darauf verzichten, die Durchführung

Ein zweiter Abfchnitt (S. 54—184) führt die Ueber- diefes leitenden Gedankens unter den Gefichtspunkten
fchrift: Die Entwickelung der jüdifchen Frömmigkeit zur ,Gefetz, Kanon, Schrift und Tradition, Theologie, Laien,
Kirche. Die Anwendung diefes Terminus auf vor- und Fromme, Bekenntnifs, Dogma, Glaube, Synagoge als Heils'
aufserchriftliche Geftaltungen des religiöfen Gemeinfchafts-
lebens (vgl. S. 119. 182 bezüglich des Mazdaismus und
Islam) follte eigentlich nicht mehr überrafchen. Der als

anftalt' ins Einzelne zu verfolgen, fo lohnend und belehrend
gerade für den ,Neuftamentler' alle diefe Ab-
fchnitte find. Infonderheit gilt dies von den fcharfen
gleichbedeutendgebrauchteBegriff der,Religionsgemeinde' | Schlaglichtern, welche hier und im folgenden Abfchnitt

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