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Ausgabe:

1903 Nr. 10

Spalte:

315-316

Autor/Hrsg.:

Spiess, Bernhard

Titel/Untertitel:

Goethe und das Christentum 1903

Rezensent:

Hans, Julius

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Seite 1

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3i5

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 10.

316

Eck, Lic. theol. Samuel, Goethes Lebensanschauung. Tübingen
1902, J. C. B. Mohr. (VII, 195 S. gr. 8.)

M. 3.20; geb. M. 4.—

Spiess, Bernhard, Goethe und das Christentum. Frankfurt
a. M. 1902, Englert & Schloffer. (VIII, 72 S. gr. 8.
mit 1 Abbildg.) M. 1.50

Das erftgenannte der beiden obenflehenden Bücher
ift aus Vorträgen erwachfen, die der Verfaffer theils in
Offenbach a. M., theils vor der theologifchen Conferenz
in Giefsen gehalten hat. Er will, wie er fagt, nicht die
Goetheforfchung auf dem Wege der Detailarbeit dadurch
bereichern, fondern den weiteren Kreis der Gebildeten
tiefer in die Gedankenwelt des Dichters einzuführen
fuchen. Er bekennt fich in Bezug auf die Gefammtauf-
faffung der Entwicklung Goethe's und ihrer letzten Ergebnilse
als durchaus abhängig von O. Harnack, doch
ift es eine ganz felbftändige Durcharbeitung des Stoffes,
die er bietet, und feine Ausführungen zeugen von grofser
eigener Vertrautheit mit Goethe im Ganzen und im
Einzelnen.

Das Buch enthält nicht, wie mancher nach dem
Titel vermuthen wird, eine Darlegung der Anfchauungen
und Grundfätze Goethe's in Bezug auf die verfchiedenen
Lebensverhältnifse und Lebensgebiete, fondern eine Schilderung
feiner geiftigen Entwicklung ihren Grundzügen
und der jeweils vorherrfchenden Richtung nach, von der
Beeinfluffung durch Spinoza bis zu den Wirkungen, die
von der Befchäftigung mit der Literatur des Orients auf
ihn ausgingen, man könnte auch fagen: vom Vorwiegen
pantheiftifcher Regungen und Anfchauungen bis zu ent-
fchiedener Hinwendung zum Theismus und zu verftänd-
nifsvoller Würdigung des Chriftenthums.

Diefer Gang der Entwicklung ift auch durch den
Titel der Vorträge fchon angedeutet; fie lauten: G. und
Spinoza, G. und Italien, G. und Kant, G. und die Neuzeit
, G. und der Orient, woran fich ein Schlufs-
capitel über Fault fchliefst. In fehr klarer und einleuchtender
Weife werden die Wechfelwirkungen, in
welche die verfchiedenen geiftigen Mächte, die jeweils
beherrfchend auf Goethe wirkten, mit den in ihm felbft
vorhandenen Anlagen und Regungen traten, und die fich
daraus ergebenden Refultate gefchildert. Man wird in
manchem Fall die Dinge vielleicht anders fehen, als
der Verf., aber man wird fich immer durch feine Darfteilung
gefeffelt und vielfach angeregt fühlen. Ob man
z. B. wirklich fagen kann, dafs es ein unbewufstes
Pflichtgefühl gewefen fei, was Goethe nach Italien geführt
habe, um dort Natur und Kunft zu verliehen, und was
ihn nach Deutfchland, dem Lande des Proteftantismus,
zurückgeführt habe, um denkend zu erfaffen, wovon er
unbewufst beherrfcht gewefen fei, darüber läfst fich
wohl ftreiten. Aber die Art, wie der Verf. die Sache
ausführt, und befonders die Parallele, die er in diefer
Hinficht zwifchen Goethe und Friedrich dem Grofsen
zieht, ift fehr einleuchtend. Wie Friedrich, obwohl durch
feine Weltanfchauung als Voltairianer in keiner Weife
dazu veranlafst, doch vom entfchiedenften Pflichtgefühl
beherrfcht gewefen fei, fo fei auch in Goethe diefes
Gefühl lebendig gewefen, obwohl die Weltanfchauung
Spinoza's, der er damals gehuldigt, für die Idee der
Pflicht keinen Raum gehabt habe. Intereffant ift es
auch, wie der Verf. Goethe mit der Gefchichte der
chriftlichen Liebesthätigkeit in Verbindung bringt. In
.Wilhelm Meifter' habe er ein herrliches Bild barmherziger
Liebe in Natalie gezeichnet, und Thätigkeit
zum Wohle Anderer gelte in dem ganzen Kreife, in dem
fie lebe, als das Höchfte und Befte. Sollte aber Johannes
Falk, der Erlte, der den Gedanken der .Inneren
Million' ausgefprochen, das Bild Nataliens nicht gekannt
haben, follte er, dem wir die erfte Veröffentlichung von
Gefprächen mit Goethe verdanken, den ,Wilhelm Meifter'

nicht gelefen haben? Sollte es unbegründet fein, an Anregungen
zu denken, die er auf diefem Wege empfangen?
Weiter kann ich auf Einzelheiten nicht eingehen. Was
ich gefagt habe, wird genügen, Luft nach der Leetüre
des Buches zu erwecken. Man wird nicht leicht auf
fo engem Raum eine gleich treffliche Einführung in die
Gedankenwelt Goethe's finden. Nur das eine bedauere
ich, dafs der Verf. nie Fundorte der eingeftreuten
Citate angegeben hat; bei manchen wäre es doch recht
wünfehenswerth gewefen.

Auch der zweiten der obengenannten Schriften liegt
ein Vortrag zu Grunde, gehalten auf einer Religionslehrer-
conferenz in Geifenheim. Auch fie ift ein Zeichen eingehende1
- Befchäftigung mit Goethe und ausgedehnter
Kenntnifs der Goetheliteratur, verbunden mit kritifchem
Blick und einem felbftändigen Urtheil; und zwar fleht
der Verf. nicht blofs die Schriften über Goethe, fondern,
bei aller Verehrung des Dichters, auch diefen felbft und

I feine Dichtungen mit kritifchen Augen an und fcheut
fich nicht vor entfehiedenem Tadel. Er ift, wie er felbft
fagt, über ein Menfchenleben Religionslehrer in Prima
gewefen und hat 20 Jahre lang mit Primanern Goethe
gelefen, wobei er oft in die Lage kam, ,zwifchen der
Pietät gegen unferen Dichter und dem theologifchen
Gewiffen die Entfcheidung treffen' zu muffen. Dafs er
fich mit der Sache vor Allem von diefem Gefichtspunkt
aus befchäftigt hat, verräth fich auch in feiner Schrift
auf jeder Seite. Er unterfucht nicht blofs die Frage,
inwieweit die Philofophie Goethe's mit der chriftlichen
Weltanfchauung übereinftimmt, fondern mehr noch die,
inwieweit das chriftliche Lebensideal in der Perfon

j Goethe's und in feinen Schriften zum Rechte kommt.
In Iphigenie und Taffo findet er eine Annäherung, Wilhelm
Meifter verwirft er entfehieden, die Wahlverwandt-
fchaften find ihm anftöfsig, und der zweite Theil des

I Fauft erfcheint ihm als Löfung der im erften Theil aufgerollten
Probleme durchaus ungenügend, da es an jeder
wirklichen Sühne für die Schuld, mit der der Held fich
beladen habe, fehle.

Es ift hier nicht der Ort, um Grund oder Ungrund
diefer Urtheile näher zu prüfen; ich kann nur fagen, dafs
mir die Ausführungen des Verf.'s in manchen Punkten
ernfter Beachtung und Erwägung werth fcheinen, dafs
fie mir aber auch zum Theil den Eindruck des Kleinlichen
, ja zuweilen faft des Nörgelnden machen. Jedenfalls
würden fie gewonnen haben, wenn fie etwas ftraffer
zufammengefafst wären. Die Thefen, die dem Vortrag
zu Grunde gelegen zu haben fcheinen, find nicht mit
abgedruckt.

Die Herausgabe der Schrift hat übrigens noch einen
praktifchen Nebenzweck. Sie trägt die Widmung: ,Dem
Gedächtnifs der reinften Jugendliebe Goethe's, der edelen
Friederike Brion von Sefenheim, in dankbarer Verehrung
gewidmet von einem Pfarrersfohn', und der Reinertrag
ift, wie auf dem Titel zu lefen ift, für die Confervirung
der Grabfteine der Pfarrfamilie Brion in Sefenheim
beftimmt.

Augsburg. J. Hans.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape, Zehlendorf bei Berlin.
jDcutfcbe Literatur.

Kafsner, R., Der indifche Idealismus. Eine Studie. München 1903,

Verlagsanftalt F. Bruckmann. (90 S. gr. 8.) 3 —

Heyn, J., Zum Streit um Babel u. Bibel. 2 Vorträge. Greifswald 1903,

L. Bamberg. (55 S. gr. 8.) 1 —

Meyer, S., Contra Delitzfch! Die Babel-Hypothefen widerlegt. 1. Heft.

Mit e. Briefe des Hrn. Profeffor Friedrich Delitzfch an den Verf.

Frankfurt a. M. 1903, J. Kauffmann. (59 S. fchmal gr. 8.) 1 —
Lohr, M., Babel u. die biblifche Urgefchichte. Vortrag. Breslau 1903,

G. P. Aderhol/.. (28 S. gr. 8 m. 5 Abbildgn.) — 75

Oettli, S., Das Gefetz Hammurabis u. die Thora Israels. Eine religions-

u. rechtsgefchichtl. Parallele. Leipzig 1903, A. Deichert, Nachf.

(88 S. gr. 8.) 1. 60