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Ausgabe:

1903 Nr. 9

Spalte:

275-276

Autor/Hrsg.:

Bonus, Arthur

Titel/Untertitel:

Religion als Schöpfung 1903

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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275

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 9.

276

weils der Zeit entfprechenden Weife behandelt wird. An
dem edlen Wollen und dem hervorragenden Können des
Verfaffers ift kein Zweifel, und auf diefer Linie läfst (ich
praktifch gewifs viel ausrichten, wie denn auch in diefem
Sinne an vielen Orten in der That erfolgreich gewirkt wird.
Sieht man nicht fpeciell auf die kirchlich-praktifchen Aufgaben
, fondern auf die religiöfe Krifis der Gegenwart über-
haupt,dann ift das freilich nur Palliativ, und finddieEntfchei-
dungen in Hauptfragen nur zurückgeftellt. Die Stellung
zur modernen Wiffenfchaft und praktifchen Lebenshaltung
ift für den religiöfen Glauben nicht fo indifferent, wie der
Verfaffer meint. Die orthodoxe Religiofität hängt gerade
als Religion und Gefühl an dem durch das Wunder be-
ftimmten Weltbild und Bild des Chriftenthums. Und
andererfeits ift das Eingehen des fortgebildeten Chriftenthums
auf das moderne Weltbild nicht fo wirkungslos
für die Religion, wie Dreyer meint. Er felbft zeigt manchesmal
höchft befremdliche Einfchläge eines moniftifch-pan-
theifirenden Gedankens, die den chriftlichen Gedanken fehr
wefentlich modificiren und die jedenfalls eine viel fchärfere
Durcharbeitung des Problems der Beziehung des chriftlich-
religiöfen Gefühls oder Gottesgedankens auf das moderne
Weltbild nöthig machen. Ebenfo dürfte es nicht fo leicht
fein, das Bleibende und Unveränderliche im Chriftenthum
vom Wechfelnden und Zeitlichen zu fondern. Schliefslich
ift die unmittelbare Anknüpfung der undogmatifch-reli-
giöfen Theologie an die biblifchen Vorftellungen und
kirchlichen Dogmen oft fehr bedenklich und gequält oder
unbegreiflich forglos. Gerade an diefem letzteren Punkte
ift der Gegenwart manches nicht mehr möglich, was dem
älteren ,theologifchen Liberalismus' felbftverftändlich war.

Heidelberg. Troeltfch.

Bonus, Arthur, Religion als Schöpfung. Erwägungen über
die religiöfe Krifis. Leipzig 1902, E. Diederichs. (63
S. 8.) M. 1.50

Der Nebentitel des Büchleins lautet ,Erwägungen
über die religiöfe Krifis'. Es ift felbft ein charakterifti-
fches Erzeugnifs der religiöfen Krifis und in Ton, Stil
und Sprache ein Echo der grofsen Rufer im Streite, die
die religiöfe Lage der Gegenwart nicht als eine einfache
Fortbildung des bisherigen Chriftenthums, fondern als
eine fchwere Krifis, als das Ende einer zweitaufend-
jährigen Periode der Religionsgefchichte und als den Anfang
einer neuen fich herauf kämpfenden Epoche anfehen.
Lagarde und Nietzfche haben dem Verfaffer die Augen
geöffnet; Kant, Fichte und wohl auch Eucken haben ihm
die pofitiven neuen Gedanken nahe gelegt. Der Darwinismus
mit feiner beftändigen Gefafstheit auf das Ende
grofser Weltperioden und den Beginn neuer Entwicklungen,
mit feiner Gewöhnung an grandiofe Zeiträume bildet
den allgemeinen Rahmen der Betrachtung. Die hiftorifch-
kritifche Theologie, vor allem Harnack, hat ihm gleicher
Weife die Herausarbeitung des religiöfen Kernes in den
Ifrfcheinungen der Vergangenheit, wie die Unmöglichkeit
der unmittelbaren Anknüpfung einer gegenwärtig
lebendigen Religion an eine nicht mehr religiös-abfolut,
fondern hittorifch-relativ betrachtete Vergangenheit gelehrt
. Von den zünftigen Theologen, insbefondere den
Syftematikern, erwartet er nichts zur Löfung der Krifis,
weil für fie über lauter Adaptirung der Vergangenheit
und Verkleifterung der durch die Hiftorie entftandenen
Riffe nur kunftreiche, diplomatifch fchillernde und blofs
dem gelernten Theologen verftändliche Producte möglich
werden. Doch hat er von Herrmann den Gedanken der
Freiheit, Autonomie und Perfönlichkeit, von Kaftan die
Oppofition gegen jede moniftifche Interpretation des
Caufalitätsbegrififs fich angeeignet, und bleibt er mit den
Theologen wenigftens foweit in Uebereinftimmung, dafs
ihm die Zukunft der Religion nur als eine — freilich
fehr radicale — Fortentwicklung des Chriftenthums

I denkbar ift. Als fein Eigenftes bringt er hinzu einen
echten, durchgreifenden Wahrheitsfinn, eine lebendige,
ernfte Religiofität, ein tiefes Gefühl für das Irrationale
und Schöpferifche in der unermefslichen Production
des Lebens, eine ftellenweife geiftvolle und grofsartige
fchriftftellerifche Kunft und fchliefslich die Neigung zu
Uebertreibungen, Bizarrerien und Manierirtheiten. Es
find drei Gedanken, die den Inhalt des Büchleins bilden.
I. Die Theologie mufs Laientheologie und Gegenwartstheologie
werden, d. h. verzichten auf die quälende
Herausentwicklung der gegenwärtigen religiöfen Gedanken
aus denen der Vergangenheit, und die gegenwärtig
erlebte, im Hinblick auf das gegenwärtige Weltbild
und die gegenwärtige praktifche Lage wirklich
empfundene Religion als die Erlöfung erkennen, ftatt
die Erlöfung immer wieder nur im Glauben an ehemals
vollzogene Thatfachen und in der Annahme eines über
fie gebildeten Mythos zu fuchen. 2. Die gegenwärtig
empfundene Religion ift felbftverftändlich Chriftenthum,
d. h. Empfindung Gottes als der lebendigen, fchöpferi-
fchen WTeltmacht und Gewinnung der eigenen Perfönlichkeit
durch die Einftellung des eigenen Wefens
in den lebendigen fchaffenden göttlichen Willen und in
j feine fich kundmachende Tendenz. Das Wefen des
I Chriftenthums ift Schöpfungsglaube und Gewinnung
1 fchöpferifcher Kraft in der blofsen natürlichen Menfch-
j lichkeit. Daher ift auch die Zukunftsreligion Chriften-
I thum, weil fie nur Schöpfungsglaube und Neufchöpfung,
fchöpferifche Höherentwicklung des Menfchen in der Hingabe
an Gott fein kann. 3. Das neue Chriftenthum wird fich
vom alten nicht fowohl durch neue kosmologifche und an-
thropologifche Gefammtbetrachtung unterfcheiden —denn
hier ift der Um(chwung felbftverftändlich und feine Noth-
wendigkeit allmählich auch dem blödelten Auge ficht-
j bar —, fondern in der Ethik, alfo gerade da, wo man
zu meinen pflegt, dafs fein unantaftbarer und ewig gil-
I tiger Beftandtheil ficher gegeben fei. Die Ethik des
j älteften Chriftenthums war Ethik der Enderwartung und
der völligen Entzweiung mit der Welt, und fo ift es in
| allem unverwafchenen Chriftenthum bis Luther geblieben.
Sie mufste es fein, um überhaupt den naturreligiöfen
Monismus zu zerreifsen und das Ziel der naturüberlegenen
und nur im Gegenfatz gegen die Natur erreichbaren
I Perfönlichkeit zu zeigen. Nachdem aber durch eine
zweitaufendjährige Gefchichte diefer Gedanke uns aufs
I Tieffte eingeprägt ift, und nachdem die Erwartung des
| Weltendes völlig aus unferem Denken und Handeln
entwichen ift, ift die Rückwendung zur Welt fo noth-
wendig als unbedenklich. Es gilt, im Glauben an den
fchaffenden göttlichen Willen und an die die Natur über-
I höhende, in derGottesgemeinfchaft gegebene, fchöpferifche
I Kraft die Welt zu ergreifen und zu erheben in die
I Sphäre des fchöpferifchen Geiftes.

Ich halte diefe Gedanken in der Hauptfache für
richtig (die fehr einfeitige Auffaffung Luther's ausgenommen
) und habe fie meinerfeits in der Form, wie ich
fie für haltbar anfehe, in meinen ,Grundproplemen der
j Ethik' (Zeitfchrift f. Theologie u. Kirche 1902) durchgeführt
, verzichte daher hier auf eine eingehendere Be-
j fprechung. Ob die aufgeregte und übertreibende Dar-
I ftellung im Seceffionsftil der Sache nützlich ift, wage
j ich nicht zu entfcheiden. Manche Leute fehen Wahr-
I heiten erft, wenn fie übertrieben werden. Hier ift Ueber-
treibung genug, aber jedenfalls auch eine Wahrheit, die
dem Verfaffer gewifs auch in diefer Form von Vielen
abgenommen werden wird.

Heidelberg. Troeltfch.