Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1903 Nr. 9

Spalte:

271-273

Autor/Hrsg.:

Warmuth, Kurt

Titel/Untertitel:

Wissen und Glauben bei Pascal 1903

Rezensent:

Lobstein, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

271

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 9.

272

werden. Nun giebt es aber einen Moment, wo die Analogien
mit den natürlichen Erfahrungen verfagen und die
fpecififch religiöfen Erlebnifse einfetzen: es mufs aufser-
halb des menfchlichen Willens eine Kraft geben, die ihm
eine völlig neue Richtung ermöglicht. Zu der Erzeugung
religiös-chriftlicher Erlebnifse find das gefchichtliche Wort
und eine göttliche Kraft oder Caufalität nothwendig: das
eben ift der h. Geiff, den der Verf. definirt als ,diejenige
göttliche Willensenergie, die den Ertrag des Werkes Jefii
in der Gefchichte fort und fort lebendig erhält und ihn
dem einzelnen Menfchen unter Berückfichtigung feiner
befonderen Eigenart und Lage nahe bringt. Das ift aber
in menfchlichen Verhältnifsen die Aufgabe und Leiftung
des Wortes, einmal Gefchehenes bis in die Gegenwart
lebendig zu erhalten und es dem Einzelnen in einer ihm
verftändlichen Weife nahe zu bringen. Ziel und Art der
Wirkfamkeit von Geift und Wort liegen demnach auf der-
felben Linie und ihrer engen Verbindung fleht kein Hindernis
im Wege' (S. 303). In der weiteren pofitiven Ausführung
verwerthet Gr. vielfach Gedanken und Anregungen
, die Luther theils direct darbietet, theils mittelbar
andeutet. Zur Erklärung der häufigen Wirkungslofig-
keit des Wortes fchlägt er indeffen einen Weg ein, der
ihm nicht beftimmt und confequent von den Reformatoren
gewiefen war, den er fich aber in fehr gefchickter Weife
durch feine einleitenden pfychologifchen Unterfuchungen
vorbereitet und frei gelegt hat: ,es mufs dem Menfchen
die Fähigkeit zugefchrieben werden, die für den Empfang
der göttlichen Gaben nothwendige Receptivität zu verweigern
' (S. 309). — Vielleicht würde das dogmatifche
Ergebnifs der hiftorifchen Unterfuchungen des Verf.'s, das
leider in fehr knapper Form zufammengefafst ift und zuweilen
eingehendere Begründung erfordert hätte, an Klarheit
und Gefchloffenheit gewonnen haben, wenn ein
Doppeltes mehr beachtet worden wäre. Einmal hätte das
Schriftzeugnifs, das Gr. nur fpärlich heranzieht (S. 301-—302),
wohl einen reicheren und ergiebigeren Ertrag abgeworfen,
wenn der Verf. dasfelbe in einen gröfseren Zufammenhang
geftellt und in Verbindung mit den neuteftamentlichen An-
fchauungen von dem Wirken Chrifti und des Geiftes gebracht
hätte. Zum Zweiten würde die an Luther's Grundgedanken
anknüpfende pofitive Löfung des Verf.'s überzeugender
wirken und wohl auch mit gröfserer Deutlichkeit
hervortreten, wenn Gr. vollftändiger mit einer Ausdrucksweife
gebrochen hätte, die den Gedanken der Per-
fönlichkeit des heiligen Geiftes (S. 46) zur ftillfchweigenden
Vorausfetzung hat. Spricht er z. B. von dem ,Allmachtswillen
des mit dem Worte verbundenen Geiftes' (S. 311),
fo erhebt fich fofort ein Heer von Fragen und Schwierigkeiten
: wie verhält fich das Wirken diefes Geiftes zu dem
des Vaters und befonders des erhöhten Chriftus? Diefe
und ähnliche Probleme würden aber den Verf. nöthigen
feine Schlufsbetrachtungen zu einer viel umfaffenderen
Entwicklung de« Begriffs ,heiliger Geift' zu erweitern und
feinem Löfungsverfuche einen viel breiteren und wohl auch
fefteren Unterbau zu fichern. — Doch diefe Ausftellungen
follen den Werth vorliegender Schrift nicht herabfetzen
; fie wird durch die Gründlichkeit und den Umfang
der hiftorifchen Unterfuchungen vor allem der Gefchichte
der Theologie, in zweiter Linie auch der proteftantifchen
Dogmatik wefentliche Dienfte leiften.

Strafsburg i/E. P. Lob Mein.

Warmuth, Lic. Dr. Kurt, Wissen und Glauben bei Pascal.

Berlin 1902, G. Reimer. (VIII, 56 S. gr. 8.) M. 1.50

Der Verfaffer diefes Büchleins theilt das Schickfal,
das Alle erfahren haben, die fich eingehender mit Pascal
befchäftigen: fie werden den gewaltigen Geift nicht los,
der es ihnen angethan und fie durch den Zauber feines
Gemüths und feiner Gedanken gefeffelt hat. Auf die in
diefem Blatt befprochene Schrift über ,das religiös-ethifche
Ideal Pascal's' (Jahrgang 1901, Nr. 17) läfst W., der in-

zwifchen in der Neuen kirchlichen Zeitfchrift (1902, HeftIV)
I eine Studie ,Beredfamkeit und Stil nach Pascal' veröffent-
j licht hatte, vorliegende Unterfuchung über eine viel um-
| ftrittene Frage folgen.

Das bereits von Voltaire und Condorcetangeregte
Problem trat nach dem berühmten Referat von Victor
I Coufin (1842) in ein neues Stadium. Es wäre eine höchft
intereffante und lohnende Aufgabe gewefen, die Gefchichte
der Interpretation, welche die Auffaffung Pascal's erfahren
hat, zu entwerfen. Diefe Darfteilung würde fehr vortheil-
haft die etwas buntzufammengewürfelten Literaturangaben
von S. 5—15 erfetzt haben; die umfaffende Belefenheit
des Verf.'s bürgt dafür, dafs ihm das Material zu einer
folchen Gefchichte zu Gebote lieht. Allerdings ift in
feinem fehr eingehenden, bis auf die Gegenwart reichenden
Verzeichnifs der auf unfere Frage bezüglichen Schriften
eine auffallende Lücke aufzuweiten. Dafs in der ganzen
Unterfuchung W.'s der Name Vinet nicht ein einziges
Mal genannt worden ift, mufs um fo mehr befremden,
als das hier behandelte Problem den geiftvollen und fein-
finnigen Laufanner Kritiker zu wiederholten Malen be-
fchäftigt hat. Auch konnte W. durch den ihm wohlbekannten
und von ihm billigerweife hochgefchätzten Sai nte-
Beuve auf Vinet aufmerkfam gemacht werden. Sagt
doch der Verfaffer des grofsen Werks über Port-Royal:
,Si Von reunissait dans un petit volume les articles de M.
Vinet sur Pascal, on aurait, selon moi, les conclusions les
plus exactes auxquelles on puisse atteindre sur cette graude
nature si controversee'. Diefer am 17. Mai 1847 geäufserte
Wunfeh wurde im folgenden Jahre durch die Veröffentlichung
der Etudes sur B. Pascal aus Vinet's Nachlafs
erfüllt. Von den zehn Stücken, die in diefer Sammlung
von Effays vorliegen, ift befonders das fechste (Sur le
pyrrhonisme de Pascal et sur sa religion personnelle)
dem in vorliegender Schrift W.'s befprochenen Gegen-
ftande gewidmet.

Diefen Gegenftand hat der Verf. mit der bereits feine
Erftlingsfchrift auszeichnenden Sorgfalt und Genauigkeit
behandelt. Die Gedanken Pascal's, fowohl des Mathematikers
(S. 19—27) als des Janfeniften (S. 27—55) find
treu und vollltändig, meift in des Verfaffers eigenen
Worten, die jeder Ueberfetzung fpotten, wieder gegeben.
Leider beeinträchtigt die Zerlegung des Ganzen in eine
Unzahl von Abtheilungen und Unterabtheilungen fehr
wefentlich den Genufs, den die einheitlichere Zufammen-
faffung der Pascal'fchen Fragmente dem Lefer bringen
würde.

Nach W. gilt die von Pascal für das Problem von
Glauben und Wiffen vorgefchlagene Löfung noch heute,
,fie gilt für immer'. Diefe Stellungnahme zu dem hier
gegebenen Löfungsverfuch hätte wohl einer eingehenderen
Begründung bedurft. Vor Allem würde die hiftorifch gehaltene
Unterfuchung, die ja doch weiteren dogmatifchen
Intereffen dienen foll, an Werth und Autorität gewonnen
[ haben, wenn fie der Verf. in einen gröfseren Zufammen-
j hang geftellt und ihm auch für die Gegenwart eine unmittelbare
Bedeutung abgewonnen hätte. Wie greifen
doch manche Gedanken Pascal's in die gerade unter uns
I verhandelten Probleme ein, und wie leicht ift es, die Verbindungslinien
zwifchen feiner Gedankenwelt und unferen
religiöfen und philofophifchen Intereffen zu ziehen! Wie
ift ihm, auch unter der oft Hörenden Feffel katholifcher
Frageftellung wie janfeniftifcher Befchränkungen, der
Unterfchied zwifchen dem theoretifch Erkennbaren und
dem praktifch Erlebbaren klar und beftimmt aufgegangen!
Wie viel fruchtbare Keime, lebenskräftige und entwicklungsfähige
Motive zu einer tieferen religiöfen Erkennt-
nifstheorie liegen in feinen Gedankenfplittern verborgen
! Le coeur a des raisons que la raison ne connait
pas . . . fest le coeur qui sent Dieu et 11011 la raison.
Voilä ce que c'est que la foi: Dieu sensible au coeur, non
ä la raison (II, 172). On n'entre dans la verite que par
la charite (I, 156). Vous auriez bientbt la foi, si vous