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Ausgabe:

1903 Nr. 9

Spalte:

268-271

Autor/Hrsg.:

Grützmacher, Richard H.

Titel/Untertitel:

Wort und Geist 1903

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 9.

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erften Hälfte des 16. Jahrhunderts noch nicht erreicht,
und ob auch die Kirchenordnungen in der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts einen anderen Charakter annehmen,
fie find eben doch auch dadurch werthvolle Documente
für die Zeit, aus der fie Mammen. Sollte aber die Sammlung
zu einem wirklichen Abfchlufs geführt werden, fo
hätte das fich wohl nur durch Hinzunahme einiger Ordnungen
noch aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts erreichen
laffen, denn in manchen Gebieten (z. B. in Lüneburg
, Oftfriesland, Heffen) kommt die kirchenrechtliche
und agendarifche Entwicklung erft da zum feiten Ziel.
Dadurch hätte aber die Sammlung noch ganz erheblich
an Umfang gewonnen und wäre noch theurer geworden,
denn gerade die definitiven Ordnungen find, wie es in
der Natur der Sache liegt, fehr voluminös. Diefe letzten
Ordnungen flehen aber vielfach heute noch in Geltung,
find zum gröfsten Theil mehrfach wieder aufgelegt und
daher ohne Mühe zu befchaffen, fo dafs ihr Fehlen in
der Sammlung nicht leicht ftörend empfunden werden
wird, namentlich wenn die Einleitungen auf fie hinweifen
und über fie bibliographifch orientiren.

Letztere find auch ein befonderer Vorzug der Seh-
ling'fchen Sammlung. Mit wenigen Zügen und durchweg
unter geeigneter Anführung der einfchlägigen Literatur
(Luthers Briefe hätte Mancher vielleicht lieber nachEnders,
loweit fein Buch vorliegt, citirt gefehen; freilich würde
man für die fpätere Zeit ja doch nicht der Notwendigkeit
entgehen, neben de Wette auch Burkhardt und Seidemann
zuzuziehen — S. 36 wäre als Fundftelle für die
Articuli de quibus egerunt per Visitatores wohl richtiger
Corp. Ref. XXVI Sp. 7 ff. angegeben —, das Schreiben,
deffen Druck S. 34 als wünfchenswerth hingeftellt wird,
ift gedruckt: Zeitichr. für hift. Theol. 1852 S. 325 ff.) führen
fie in die hiflorifche Situation ein, von der aus die betreffende
Ordnung recht verftanden wird. Vermifst habe
ich nur eine bequeme Ueberficht über den reichen Inhalt
der Einleitungen. Die Ausführungen S. 31—141 z. B.
theilen fich in zwei Theile mit 6 bezw. 5 Capiteln und
zahlreichen Untertheilen, über die man fich jetzt fchwer
einen Ueberblick verfchaffen kann. Man wird — um ihn
zu gewinnen — gut thun, fich felbft ein Inhaltsverzeich-
nifs herzuftellen.

Der vorliegende erfte Band enthält zunächft die Ordnungen
Luther's. Dafs der Herr Herausgeber fie als
gewiffermafsen evangelifches Gemeingut in einer befon-
deren Abtheilung vorausftellt, ift entfchieden zu billigen.
Störend wirkt jedoch, dafs auch die apokryphe Taufordnung
,Wie man recht und verfländlich einen Menfchen
zum Chriftenglauben taufen foll'unter diefe grundlegenden
Ordnungen aufgenommen ift. Der Herr Herausgeber beruft
fich (S. 17) freilich darauf, dafs Kawerau, der in der
Zeitfchrift für kirchl. Wiffenfchaft und kirchl. Leben 1889
S. 625 fr. zuerft dargethan hat, dafs die Ordnung nicht
von Luther flammen kann, fie dennoch in der Weimarer
Ausgabe mit abdruckt. Aber es ift doch etwas Anderes,
ob in eine umfaffende Sammlung der Werke ein angefochtenes
Stück mit deutlichem Vorbehalt aufgenommen
wird, oder ob es unter erlefenen, geradezu vorbildlichen
Stücken faft gleichwerthig neben anderen zweifellos echten
fteht; etwas anderes wäre es fchon gewefen, wenn das
Stück in kleinerem Druck vielleicht unter dem Strich
gegeben wäre.

An die Ordnungen Luther's fchliefsen fich die aus
dem erneftinifchen und albertinifchen Sachfen, die fo geordnet
find, dafs zuerft die generellen Ordnungen der
beiden Sachfen und dann die der Sondergebiete Freiberg
und Wölkendem kommen, in denen, als die Reformation
begann, Herzog Heinrich regierte. Dann folgen die
Sonderordnungen der erneftinifchen und albertinifchen
Städte und Ortfchaften. Es ift nicht einmal möglich, auf
alles hier zum erften Mal wieder zugänglich gemachte
Material hinzuweifen, gefchweige denn auf Alles, was feit
Richter's Publication neu aufgefunden worden ift. Inter-

effant find zunächft einige Ordnungen Thomas Münzer's.
Wir kennen von ihm aus feiner Allftedter Zeit ein ,Kirchenamt
' (freilich anonym erfchienen, doch halten wir mit
Sehling Münzer's Verfafferfchaft für ficher), eine ,Meffe'
und eine feine Cultusreformen rechtfertigende ,Ordnung'.
Letztere hat Smend ,Die evangelifchen deutfchen Meffen'
S. 105 fr. ganz abgedruckt, aus der ,Meffe' hat er S. 97fr.
einige Auszüge gegeben und Wackernagel hat (Bibliographie
des deutfchen Kirchenliedes S. 541 f.) die Vorrede
abgedruckt; Sehling giebt die ,Meffe' ganz wieder und
publicirt auch das ,Kirchenamt'. Die grofsen abfchliefsen-
den Kirchenordnungen Sachfens waren fchon bekannt,
aber indem Sehling aus den Acten der fächfifchen Vifi-
tationen umfaffende neue Mittheilungen macht, läfst er
uns in das Werden und in die Durchführung der Ordnungen
tiefere Blicke thun. Die fpäteren Vifitationen
werden uns hier zum erften Mal mit einiger Deutlichkeit
vor Augen geführt; das Wenige, was bisher von ihnen
j bekannt war, war zerftreut und fchwer aufzufinden. Ueber
1 die früheren Vifitationen bis zu der von 1540 einfchliefs-
lich hatte Burkhardt in feiner .Gefchichte der fächfifchen
Kirchen- und Schulvifitationen' (Leipzig 1879) wenigftens
Beurtheilungen und Ueberfichten gegeben und dadurch
I für die Publication manchen Actenmaterials einen ge-
wiffen Erfatz geliefert. Aber es ift doch etwas Anderes,
wenn man die Quellen felbft hören kann (man vergleiche
z. B. nur den von Sehling S. 37 gegebenen Abdruck der
,Artikel, fo durch die Räthe zur Vilitation verordnet' mit
Burkhardt's kurzem Auszug S. 21 Anm. 6), und an mehr
als einer Stelle erfährt auch das von Burknardt verwandte
Material willkommene Bereicherungen: fo werden gerade
j die Anfänge der Vifitation neu beleuchtet durch .Herzog
i Hänfen Kurfürften Artikel', die, 1886 von Müller im Voigtl.
Anzeiger (Nr. 87 Beilage) zuerft herausgegeben, Sehling
jetzt aus dem Zerbfter Stadtarchiv, noch um eine inter-
effante Erweiterung vermehrt, zum Abdruck bringt.

In freudiger Erwartung fehen wir den kommenden
Bänden des Werkes entgegen: der zweite, die zweite Abtheilung
der Ordnungen Sachfens und Thüringens enthaltend
, ift fchon im Druck; der dritte, wird die nord-
deutfchen, der vierte die weftdeutfchen und der fünfte
endlich die füddeutfchen Gebiete enthalten.

Erichsburg bei Markoldendorf (Hann.).

Ferdinand Cohrs.

Grützmacher, Lic. Richard H., Wort und Geist. Eine hilto-
rifche und dogmatifche Unterfuchung zum Gnadenmittel
des Wortes. Leipzig 1902, A. Deichert, Nachf.
(VIII, 312 S. gr. 8.) M. 5.50

Diefe den Lehrern desVerf.'s Deutfch und Seeberg
gewidmete Unterfuchung ift von einem hiftorifchen und
dogmatifchen Intereffe geleitet.

Den breiteften Raum nimmt die gefchichtliche Dar-
ftellung ein. Die Frage, ob und in welchem Mafse menfch-
liches Wort Träger und Vermittler göttlicher Kraft fein
kann, ift weder in der alten, noch in der mittelalterlichen
Kirchezu einer wirklich zufammenhängenden dogmatifchen
Lehre verarbeitet worden. Demnach hebt auch die
hiftorifche Umfchau Gr.'s mit der evangelifchen Kirche an,
die zuerft im Worte das Hauptorgan des auf uns gerichteten
göttlichen Gnadenwillens erblickte. Eine fertige Formel
war aber mit diefer Einficht noch nicht gegeben; im Gegen-
theil, erft jetzt, wo das Problem zum Bewufstfein kam,
zeigte fich, wie fchwierig feine Löfung war und wie mannigfaltige
Antworten — oft von demfelben Theologen —
gegeben werden konnten. Erft in Folge des Rahtmann'-
fchen Streites, um das Jahr 1620, entftand, was der Verf.
ein ,wenn auch nicht kirchliches, fo doch theologifches
Dogma' von dem Wort als Gnadenmittel und feinem
Verhältnifs zum Geilte nennt. Vor diefem entfcheidenden
Momente find drei Gruppen von Löfungsverfuchen zu