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Ausgabe:

1903 Nr. 9

Spalte:

265-268

Autor/Hrsg.:

Sehling, Emil

Titel/Untertitel:

Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. 1. Abt.: Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten. 1. Hälfte 1903

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 9.

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hoher Warte aus die mittelalterliche Entwicklung und
könne mit wenigen geistreichen Bemerkungen ihr Innerstes
nach aufsen kehren, fo völlig vermeidet. Gewifs, wer jenes
gewaltige Detailwiffen und grofsen Geift zugleich hätte,
könnte von dem Standpunkte aus, den B.'s Refultate
abgrenzen, orientirende Schlaglichter nach rückwärts und
vorwärts werfen. Aber wer hat unter uns — um von den
hierin uns überlegenen, aber an eine eigene Art des Sehens
gebundenen römifchen Theologen zu fchweigen — diefe
Detailkenntnifs? Fürs erfte ift die befcheidenere und
nüchternere Arbeit, wie fie B. geleiftet hat, nützlicher, als
alle geiftreichen Conftructionen; fie verdient den aufrichtigen
Dank aller Mitarbeitenden.

Halle a. S. Loofs.

Sehling, Prof. Dr. E^mil, Die evangelischen Kirchenordnungen
des XVI. Jahrhunderts. Erfte Abtheilung. Sachfen und
Thüringen, nebft angrenzenden Gebieten. Erfte Hälfte.
Die Ordnungen Luthers. Die Erneftinifchen und
Albertinifchen Gebiete. Leipzig 1902, O. R. Reisland.
(XXIII, 746 S. gr. 4.) M. 36.— ; geb. M. 40.—

Das nunmehr in feinem erften Bande vorliegende
Werk ift — namentlich, nachdem der Herr Herausgeber
vor etwa fünf Jahren in der Deutfchen Zeitfchrift für
Kirchenrecht feinen Plan veröffentlicht hatte — mit gro-
fser Spannung erwartet worden. Aemil. Ludwig Richter's
,Evangelifche Kirchenordnungen', an deren Stelle Sehling's
Sammlung mit der Zeit treten wird, find feit Jahren voll-
ftändig vergriffen, erfahren im antiquarifchen Handel
immer höhere Preisfteigerungen und werden von den
Bibliotheken meift nicht ausgeliehen, fo dafs, wer nicht
das Glück hat, am Sitze einer Bibliothek zu wohnen, zuweilen
nicht in der Lage ift, das Werk fich zu verfchaffen.
So wird Jeder, der auf dem Gebiete der Reformations-
gefchichte arbeitet, fich freuen, dafs jetzt der Stein ins
Rollen gekommen ift. Möchte es dem Herrn Herausgeber
möglich fein, fein Verfprechen zu halten und die I wenigftens einige der Interimsordnungen mit in Sehling's

wurden, in fehr freier Weife gebraucht. Weggelaffen hat
Richter durchweg die Einleitungen, die Publicationsur-
kunden u. dgk, und doch find diefe für die Beurtheilung,
für die Entftehungsgefchichte, zur Feftftellung des Gebiets
, in dem fie gelten, u. f. w. meift von höchftem
Werth; hier bietet Sehling abfolute Vollftändigkeit.

Aber nicht nur hinfichtlich der Behandlung der einzelnen
Ordnungen, fondern auch hinfichtlich des Begriffs
der in die Sammlung aufzunehmenden Stücke geht Sehling
weit über Richter hinaus. Er will abdrucken ,alle
Verfügungen, die die Grundlage des evangelifchen Kir-
chenwefens gebildet haben'. Dazu gehören aber vor
allem auch die Vifitationsinftructionen, auf deren Grundlage
das neue Kirchenwefen organifirt worden ift. Es ift
nicht zu verkennen, dafs hinfichtlich der Behandlung
diefer Urkunden Richter's Sammlung ein klares Princip
nicht befolgt. So druckt er die ,Inftruction, dorauf die
visitatores abgefertiget fein' von 1527 ab, während er die
parallelen Urkunden z. B. aus den Jahren 1555 oder 1577
wegläfst. Sehling dagegen verfährt hier mit entfchiedenfter
Confequenz; er bringt alle Vifitationsordnungen, und ob
fie auch nur das kleinfte Gebiet betreffen; nur /Verwaltungsverordnungen
, die nur aus vorübergehenden An-
läffen ergingen und nur ganz vorübergehenden Zwecken
dienten', find weggeblieben.

Ferner bleiben bei Seite die Kirchenordnungen,
welche niemals Geltung erlangt haben (Entwürfe oder
Ordnungen, deren Ausführung fich irgend welche Hinder-
nifse entgegengeftellt haben) und alle nicht wirklich
evangelifchen Ordnungen (z. B. die Interimsordnungen).
Aber im Einzelnen werden hier in dankenswerther, wohl
zu billigender Weife Ausnahmen gemacht werden, z. B.
werden die Befchlüffe der Homberger Synode, obwohl
fie nur Entwurf find, und die fogenannte Cölner Reformation
, obwohl fie keine ganz reine evangelifche Ordnung
darftellt, zum Abdruck gebracht werden. Ja im hiftori-
fchen Intereffe hätte man hier gewifs gern die Grenze
noch etwas weiter gezogen gefehen und hätte z. B. gerne

übrigen Bände (mindeftens noch vier) rafch dem erften
folgen zu laffen.

Unmöglich ift es, der umfangreichen und bedeutfamen
Publication hier auch nur einigermafsen gerecht zu werden.
Vor allem wird es nöthig fein, ihre Principien darzuftellen
und dabei Richter's Werk zum Vergleich heranzuziehen;
eine kurze Ueberficht über den Inhalt des vorliegenden
Bandes unter befonderer Würdigung deffen, was hier
zum erften Mal publicirt wird, mag fich daran anfchliefsen.
Vor allem werden wir dem Herrn Herausgeber dankbar
dafür fein, dafs er neben den Intereffen der Juriften
auch die berückfichtigt, die andere Gelehrte an den
Kirchenordnungen haben. Richter hat feiner Zeit ftark
vorwiegend nur die verfaffungrechtlichen Ergebnifse der
Ordnungen im Auge gehabt; will man aus feiner Sammlung
Auskunft haben in Fragen der Lehre, des Cultus, der
Liturgie, der Zucht, der Schule, des Armen- undKranken-
wefens, fo fieht man in den meiften Fällen fich auf einige
Ueberfchriften und magere Notizen angewiefen und mufs,
um wirklich werthvolles Material zu finden, doch die
Originale fich verfchaffen. Ueberhaupt hat Richter zu

Sammlung vorgefunden — aber fchliefslich mufste ja
irgendwo Halt gemacht werden.

Schulordnungen wird Sehling nur abdrucken, wenn
fie Beftandtheile einer Kirchenordnung find; ein ganz
correctes Princip mag das nicht fein, denn es ift nicht
recht einzufehen, wefshalb eine feparat erfchienene Schulordnung
nicht dasfelbe bedeutet, wie eine mit einer
Kirchenordnung vereinigte, und die Verweifung auf Vorm-
baum's Sammlung fchlägt nicht durch, da diefe verhält-
nifsmäfsig noch lückenhafter ift, als Richter's Sammlung
der Kirchenordnungen — eher hätte auf die in den Mo-
numenta Gcrmaniae Pacdagogica begonnene Sammlung
verwiefen werden können —, aber auch hier mufste der
Herr Herausgeber eine Grenze ziehen, follte fein Buch
nicht übermäfsig anfchwellen, und gewifs wird man ihm
dankbar fein, dafs man einen gewiffen Stamm von Schulordnungen
doch bei ihm zu finden gewifs fein darf. In
freier Auswahl wird der Herr Herausgeber bei den Zucht-
und Armenordnungen verfahren und wird hier in jedem
einzelnen Falle erft feftftellen, ob die betreffenden Verfügungen
irgendwie kirchlichen Charakter tragen bezw. das

fehr mit Auszügen fich begnügt; in ausgiebigftem Mafse Kirchenwefen berühren. Der Mafsftab wird hier vielhat
er von Verweifungen auf andere Ordnungen Ge- j fach ein fubjectiver fein, aber es ift nicht zu verkennen,
brauch gemacht, auch wo es fich nur um Anklänge oder j dafs eine generelle Entscheidung hier nicht gut mögentfernte
Verwandtfchaft handelt; ja er hat in dem Be- ! lieh ift.

ftreben, zu kürzen, fogar Unrichtigkeiten mit unterlaufen
laffen (f. einige Nachweife bei Sehling S. XIII f.) Wo
wirklich wörtliche Uebereinftimmung — oder Ueberein-
ftimmung bis auf Kleinigkeiten — vorliegt, verweift auch
Sehling auf andere Ordnungen; aber nur in wenigen
Fällen findet fich folche fklavifche Abhängigkeit, meiftens

Zeitlich wird der Herr Herausgeber, ebenfo wie
Richter, feine Sammlung mit dem Ende des 16. Jahrhunderts
abgrenzen. Er verhehlt fich nicht, dafs diefe
Abgrenzung eine äufserliche ift, er hat auch daran gedacht
, früher einen Einfchnitt zu machen (vielleicht mit
dem Todesjahre Luther's oder mit dem Augsburger Re-

haben die Benutzer die ihnen vorliegenden Ordnungen, J ligionsfrieden); wir werden uns freuen, dafs er es nicht
fei es in Rückficht auf locale Verhältnifse, fei es, weil 1 gethan hat und das 16. Jahrhundert vollftändig bringt,
zugleich noch andere Ordnungen in Rath genommen i denn ein irgendwie erkennbarer Abfchlufs wird in der

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