Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1903 Nr. 7

Spalte:

220

Autor/Hrsg.:

Kühn, Traugott

Titel/Untertitel:

Skizzen aus dem sittlichen und kirchlichen Leben einer Vorstadt 1903

Rezensent:

Drews, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

219

Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 7.

220

gründe ausgefchloffen werden; darum ift feine Theologie I
eine ,Decadence' gegenüber Schleiermacher (S. 22). Ritfehl
hat die juridifche Rechtfertigungslehre der Orthodoxie ,auf
die Spitze getrieben' (S. 38); er zerreifst die Fäden, die
Religion und Sittlichkeit mit einander verbinden (S. 9).
Ritfehl hat ,die fittliche Natur des göttlichen Zweckgedankens
nicht gewürdigt' (S. 144). Der Glaube fchrumpft j
bei ihm ,zu einem Urtheilsakt', ,zu einem dialektifchen
Prozefs' zufammen (ebenda); aber ,weit magerer noch und
gehaltlofer als bei Ritfehl geftaltet lieh der Glaubensbegriff I
bei Kaftan' (ebenda). Die von der Heiligkeit losgelöfle J
Liebe Gottes, die Ritfehl ftatuirt, ,kann fich auch der
Weltmenfch gefallen laffen' (S. 199); aber auch der Liebe
der Menfchen untereinander entzieht Ritfehl ,ihren wahrhaft
fittlichen Charakter' (S. 200). Die von Ritfehl behauptete
Liebe Gottes verliert fich ,in charakterlofe Willkür
' (S. 43); der Begriff der Freiheit Gottes reducirt fich
bei ihm ,auf die äufserfte Willkür' (S. 54). Ritfehl
mufs fchliefslich, um die Befchränkung der rettenden Liebe
auf einen Theil der Menfchheit zu erklären, ,in äufserlicher
Weife auf die Prädeftination rekurriren' (S. 43); er ift mit
Luther und Calvin zufammen ,Vertreter einer determi-
niftifchen Theologie' (S. 63), die fich nur kraffer noch in
,Kaftan's Determinismus' fortfetzt (S. 71). Ritfchl's Ver-
fuch, die Sünde als negative Vorausfetzung der Ver-
föhnung zu verliehen, ,läuft darauf hinaus, dafs er die Sünde
felbft im Grunde negirt' (S. 220); er vermag ,nur noch
von dem ,Unwerth' der Sünde, davon, dafs fie keine Bedeutung
mehr hat, zu reden' (S. 221). Die von Ritfehl
vorausgefetzte ,Abwendung des Willens von der Sünde'
kommt ,in Wahrheit auf nichts anderes hinaus, als auf
ein dem weltlich und oberflächlich gefinnten Menfchen
fehr willkommenes Ignoriren der Sünde' (S. 227 h). ,Ausdrücklich
(sie) lehnt Ritfehl jeden fittlichen Kampf gegen
die Sünde ab, indem er unverkennbar (sü) gegen die
Bufse als Aenderung der fündigen Gefinnung ((lExavoia)
durch eine wohlfeile Verfpottung ihrer Karikatur zu Felde
zieht' (S. 228). Nachdem der Verf. felbft feine Chrifto-
logie dahin ausgeführt hat, dafs die Gottesfohnfchaft
Chrifti ihre nothwendige Kehrfeite hat an feiner Erfüllung
des allgemein menfehlichen Ideals, weifs er doch an
Ritfchl's Chriftologie nur herumzumäkeln: in ihr verräth
fich eine ,Kluft zwifchen der religiöfen und der fittlichen
Betrachtungsweife' (S. 367); ,es find zwei widerfprechende
Chriftusbilder, von denen Ritfehl je nach Bedarf Gebrauch
macht' (ebenda). Ritfehl ,beftreitet die Möglichkeit der
Nachfolge Chrifti' (S. 368 wird diefer Vorwurf aus Ritfchl's
Satz, ,dafs Chriftus jeder direkten Nachahmung entzogen
ift', herausdeftillirt); und ,bei der einfeitig fupranaturalen
Form der Ritfchl'fchen Chriftologie' wird .Chriftus für uns
in unerreichbare Ferne gerückt' (S. 369).

Das ift nur eine kleine Blüthenlefe aus der dogma-
tifchen Polemik des Verfaffers. Dazu kommen noch die
freundlichen Redensarten über den ,oft recht unchriftlichen
Parteigeift', von dem Nippold als Kirchenhiftoriker ein Bild
entworfen habe (S. IX), und der leider ,bei vielen, welche
fich um Ritfchl's Namen fcharen, eher zu-, als abnimmt'
(S. 4). Ich bezweifle nicht, dafs der Verf. auch diefe meine
Recenfion als Ausgeburt des Parteigeiftes brandmarkt.
Möge er's thun! Eine Freude an diefer theologifchen
Polemik werden doch nur Diejenigen haben, denen die Be-
ftreitung Ritfchl's zu einem Selbftzweck geworden ift. Der
Verf. hat fein Buch ,den Mitgliedern der alten theologifchen
Fakultät an der Univerfität Jena' gewidmet, und zwar: ,als
Zeichen der Dankbarkeit für die mir bei meiner Promotion
zum Lizentiaten der Theologie am 29. April 1893 aus Ihrem
Munde gewordene Anerkennung meiner wiffenfehaftlichen
Beftrebungen und für die mit diefer Anerkennung verknüpfte
Aufmunterung, in der eingefchlagenen Richtung,
fpeciell in meinen Studien über die Ritfchlfche Theologie,
aus denen damals meine Arbeit über „die chriftliche Lehre
vom Zorn Gottes nebft Kritik der betreffenden Lehre A.
Ritfchl's" hervorgegangen war, fortzufahren'. Ich möchte

denken, dafs den in der Widmung genannten Herren das
ihnen zugewiefene Patronat doch etwas peinlich ift.

Halle a/S. Max Reifehle.

Kühn, Traugott, Skizzen aus dem sittlichen und kirchlichen
Leben einer Vorstadt. Ein kleines Gegenftück zur bäuerlichen
Glaubens- und Sittenlehre'. Göttingen 1902,
Vandenhoeck & Ruprecht. (104 S. 8.) M. 1.20

Diefes kleine Schriftchen ift als ein werthvoller Beitrag
zur religiöfen Volkskunde aufs wärmfte zu begrüfsen.
Neben dem, was Göhre, Rade u. a. über das fittliche und
religiöfe Leben der modernen Arbeiterwelt uns geboten
haben, verdient diefes Heftchen voll feinen Platz. Sagt es
uns auch nichts überrafchend Neues, fo beleuchtet es doch
diefes Gebiet in neuer, felbftändiger Weife und ift reich
an feinen Einzelbeobachtungen. Der Verfaffer, der Jahre
lang auf dem harten Boden einer grofsftädtifchen Vorortsgemeinde
geftanden hat, bekundet nicht allein feine
und fcharfe Beobachtungsgabe, er hat auch die volle
geiftige Höhe, um diefe Volksfchicht in ihrem Sein
zu begreifen, und die Kraft der Liebe, um ihr zu
dienen. Was aber lernt die akademifche praktifche Theologie
, fofern fie überhaupt auf religiöfe Volkskunde fich
einläfst, aus einer Veröffentlichung, wie der vorliegenden?
Ich meine dreierlei: Erftens Thatfachen, nüchterne, herbe
Thatfachen, an denen die praktifche Theologie nicht vorübergehen
kann und foll; fodann gewinnt fie Verfländnifs
dafür, wie diefe Zuftände fich haben entwickeln können,
alfo das richtige und gerechte Urtheil; und endlich
wird fie Winke erhalten, wie die kirchliche Praxis diefen
Verhältnifsen gegenüber fich zu geftalten hat. K. fagt über
diefen letzteren Punkt: ,Eine befondere Paftoraltheologie
für diefe Art Bevölkerung zu lehren, ift noch nicht an
der Zeit. Dazu find die Individuen viel zu verfchieden-
artig, dazu ift viel zu wenig einheitlicher Charakter vorhanden
. Der Geiftliche mufs individuell von Fall zu Fall
prüfen und Rückficht nehmen auf die jeweiligen perfön-
lichen Verhältnifseund Charakteranlagen. Ein einheitliches
Univerfalrecept läfst fich nicht verfchreiben' (S. 102).
Sodann: ,Je einfeitiger und brutaler auf der einen Seite
die egoiftifchen Inftincte im Volke aufgereizt und genährt
werden, defto mehr mufs auf der anderen Seite die Achtung
vor felbftlofer opferwilliger Gefinnung und That fteigen.
Hier liegt die grofse Bedeutung der Kirche und der
Geiftlichkeit für die Zukunft. Chriftliche Charaktere, vom
Geifte chriftlicher Liebe getriebene Perfönlichkeiten —
ob im geiftlichen Gewand oder nicht, gleichviel —, fie
find es, die dem Evangelium die Herzen wieder er-
fchliefsen können' (S. 103). Das find einige der be-
achtenswerthen Winke, die der Verfaffer zu diefem
wichtigen Problem zu geben weifs. An Rathfchlägen
aller Art fehlt es von anderer Seite ja nicht, aber fie find
meift werthlos, weil fie nicht auf vorurtheilsfreier Er-
faffung der wirklichen Thatfachen beruhen. Wie noth-
wendig es aber ift, dafs die praktifche Theologie endlich
diefen Grund unter die Füfse bekommt, davon überzeugt
man fich Blatt für Blatt bei der Leetüre diefes Schriftchens
. Darum dankt der Vertreter der praktifchen Theologie
dem Pfarrer befonders herzlich für die gebotene
reiche Belehrung.

Giefsen. Drews.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape, Zehlendorf bei Berlin.
iDeutfcbe {Literatur.

Klausner, M. A., Hie Babel — hie Bibel: Anmerkungen zu des Pro-

feflbrs Delitzfch zweitem Vortrag. Berlin 1903, S. Calvary & Co.

(29 S. gr. 8.) _ 50

Bahr, H., Die babylonifchen Bufspfalmen u. das Alte Teftament. Zum

Streit um Bibel u. Babel. Leipzig 1903, A. Deichert Nachf. (48 S.

gr. 8.) _ 80