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Ausgabe:

1903 Nr. 7

Spalte:

207-210

Autor/Hrsg.:

Blennerhassett, Charlotte Lady

Titel/Untertitel:

Chateaubriand. Romantik und die Restaurationsepoche in Frankreich 1903

Rezensent:

Sell, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 7.

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nichts. — Der Standpunkt, den der Verf. bei Befprechung
der verfchiedenen Schriften einnimmt, ift ein durchaus
unparteiifcher. Damit ift aber natürlich nicht gefapt,
dafs man ihm überall zuftimmen mufs. Recenfent für
feine Perfon vermag das vom Verf. auf S. 157 über die
drei Parteien abgegebene Urtheil in der dort gegebenen
allgemeinen Faffung nicht zu unterfchreiben. Lutheraner
und Katholiken kommen zu gut weg, während die Cal-
viniften eine zu Brenge Note erhalten. Auch fünft fordern
manche Bemerkungen zum Widerfpruch heraus, wie
z. B. S. 29 die Aeufserung, das Tridentiner Concil be-
weife, wie Ernft es der Kirche gewefen fei, wirkliche
Mifsbräuche abzufchaffen, oder wenn S. 71 die calvi-
niltifche Abendmahlslehre einfach der Zwinglianifchen
gleichgefetzt wird. Ein Schreibfehler ift es wohl nur,
wenn Verf. mehrmals von einem 20jährigen ftatt von
einem 12jährigen Waffenftillftand zwifchen Spanien und
den Niederländern fpricht (vgl. S. 107, 108 und 158).
Indefs diefe Bemerkungen betreffen im Grunde nur
Kleinigkeiten, und find nicht dazu beftimmt, dem Werth
der vortrefflichen kleinen Schrift in irgend welcher Weife
Abbruch zu thun.

Weimar. H. Virck.

Blennerhassett, Charlotte Lady, geb. Gräfin von Leydem
Chateaubriand. Romantik und die Reftaurationsepoche
in Frankreich. Mit 60 Abbildungen. (Weltgefchichte in
Karakterbildern, herausgegeben von Franz Kampers,
Sebaftian Merkle und Martin Spahn. Fünfte Abteilung.
Die neuefte Zeit.) Mainz 1903, F. Kirchheim. (II, 140 S.
gr. Lex. 8.) Geb. M. 4 —

Verfteht man unter Romantik nur die franzöfifche
Romantik und begehrt man von der Reftaurationsepoche
nicht mehr zu wiffen, als was direct mit der Politik der
nach Frankreich zurückgeführten Bourbonen zufammen-
hängt, fo entfpricht das Werk feinem doppelten Titel.
Wir verdanken der belefenen Verfafferin bereits bio-
graphifche Schilderungen der Madame de Stael und von
Talleyrand, in denen fie ihre Vertrautheit mit der ge-
fchichtlichen Welt dargethan hat, in der Chateaubriand
feine bedeutende Rolle gefpielt hat. Ihr gut gefchriebener,
an fein abgewogenen Urtheilen und knappen hübfchen
Schilderungen reicher Effay ift eine Bereicherung unferer
Literatur. Der Standpunkt der Verfafferin ift ein weitherziger
, antiultramontaner, gemüthvoller Katholicismus,
wie er auch ihren Nachweifungen zufolge der des
Mannes war den fie mit einer keineswegs blinden Sympathie
durch feine wechfelvollen beinahe 80 Lebensjahre
begleitet. Ueber dem Schriftfteller Chateaubriand kommt
der legitimiftifche Politiker und Staatsmann nicht zu kurz,
vom Menfchen werden uns neben der ritterlichen, unbeug-
famen Ueberzeugungstreue auch die grofsen Schwächen
des, weiblicher Huldigungen ftets bedürftigen ,Bezauberes',
der von unmäfsiger Eitelkeit ift, nicht verfchwiegen.

Chateaubriand ift nach dem zuerft von Goethe formu-
lirten allgemeinen Urtheil der Franzofen der Begründer
der franzöfifchen Romantik und der Führer ihrer erften
literarifchen Epoche, in der es galt, gegenüber dem
saeculum rationalisticum Gefühl, Phantafie, Religion und
Chriftenthum wieder in ihre Rechte einzufetzen. Doch
hat die kundige Verfafferin auch in kurzen, den tiefften
ideellen Grund der deutfchen Romantik (von der Chateaubriand
abfolut nichts wufste) aufdeckenden Sätzen
den Unterfchied der beiden parallelen Bewegungen gezeigt
. Vielleicht hat fie den gleichzeitig mit Ch.'s fyfte-
matifchem Hauptwerkgefchriebenen Auffatz von Novalis
(Die Chriftenheit oder Europa) zu fehr im Lichte von
Ch. gelefen (beiläufig: das Citat aus diefem Auffatz S. 48
ift durch Auslaffung einiger Worte complet unverftänd-
lich geworden, vgl. Novalis' Werke cd. Meifsner 3, 363 h).
Denn der wefentliche Unterfchied der Stellung der ur-

fprünglichen deutfchen Romantik zur Religion von der
franzöfifchen befteht darin, dafs jene zu einer zugleich
philofophifch und künftlerifch befriedigenden neuen Ge-
ftalt der chriftlichen Religion emporftrebte, deren ,un-
fichtbare Kirche' mehr wie eine Brüdergemeinde, denn
wie eine priefterliche Hierarchie gedacht war, diefe einfach
zur katholifchen Kirche zurückkehrte.

Chateaubriand ift, wie die beiden anderen einflufs-
reichften Sprecher in religiöfen Angelegenheiten im Frank-
reichdes i9.JahrhundertsLamennais undRenan Bretone.
Der ernften Natur der Heimat, die das Mutterland der
keltifchen Sagenwelt ift, dem zäh confervativen
Charakter feiner Landsleute hat er fpäter mehr wie ein
hterarifches Denkmal gefetzt. Die fchwermüthige Sinnesweife
, der fchweigfame Ernft, der unbeugfame Trotz in
der Selbftbehauptung, der Wandertrieb des Dichters
wie des Politikers werden aus feinen Jugenderlebnifsen
und dem Familiencharakter befriedigend erklärt. Der
1768 geborene Jüngfte eines alten Adelsgefchlechtes wird

I für die Marine, dann für den geiftlichen Stand beftimmt
und vorgebildet, ift auf kurze Zeit Inhaber eines Lieutenantspatents
, und reift nach Ausbruch der Revolution,
auf Rouffeau's Spuren die wilde, elementare und die fitt-
lich unverdorbene Natur fuchend, nach Nordamerika.
Sein in den memoires d'o/rfre tombe enthaltener ameri-
kanifcher Reifebericht hat fich mittlerweile fo gut wie
vieles andere feiner epochemachenden Lebenserinnerungen
und Reifefchilderungen als freie Erfindung herausge-

[ ftellt. Auf die Kunde von des Königs Gefangennahme
reifte er zurück und (tritt in der Emigrantenarmee, nach-

I dem man ihm eine Erbin zum Heirathen ausgefucht hatte,

j die dem ftets poetifch in Andere verliebten Gatten
55 Jahre lang treu blieb. Verwundet, krank, ein hungernder
Bettler, gewinnt er in England Freunde, das Herz
einer Dame, die er nicht heirathen kann, und wird poli-
tifcher Schriftfteller noch in ftark widerkirchlichem wefent-
lich rouffeauifchem Geifte. Daneben entfliehen feine
Indianergefchichten Atala uud Renee. Die Nachricht
vom Tode feiner Mutter, die feine Verirrungen beklagte,

1 macht ihn ohne übernatürliche Erleuchtung zum Chriften:
,Ich habe geweint und geglaubt'. Die Verfafferin zeigt,
wie vielen Schwankungen diefer Glaube und welchen
Entwicklungen er unterworfen war. Aber er war und
blieb katholifch. Um ein Werk ,von den poetifchen und
moralifchen Schönheiten der chriftlichen Religion und
ihrer Ueberlegenheit über alle Culte der Welt' zu vollenden,
kehrt er 1800 nach Frankreich zurück, findet einen Freundeskreis
, der ihn bewundert, eine Frau, die ihn liebt, und
läfst Atala oder die Liebe zweier Indianer in der Wild-
nifs, ,das erfte Werk der franzöfifchen Romantik' er-
fcheinen, deffen bezaubernde Rhetorik, fchwermüthige
Poefie und hinreifsende Naturfchilderungen eine Umwälzung
des literarifchen Gefchmaks vorbereiten. (Das
Seitenftück dazu, Renee, 1802 erfchienen, als eine Epifode
im folgenden Buch erfchienen, eröffnet die Dichtung des
romantifchen Weltfchmerzes, dem aber hier priefterliche
Autorität entgegentritt.) „Den Erneuerer der Sprache,
den Begründer der literarifchen Renaiffance", fo nannten

j ihn fpäter um diefer Werke willen die Berufenden. Gleichzeitig
mit dem officiellen Kirchenfeft zur Feier des zwifchen
dem erften Conful und dem Papft abgefchloffenen Con-
cordates erfchien nun das einflufsreichfte Werk feines Lebens

j Le genie du Christianisme, eine Apologie des katho-

i lifchen Chriftenthums und feiner Myfterien vom Standpunkt
der Aefthetik und Humanität. Diefer Religion
,verdankt die moderne Welt alles, was fie befitzt, von der

J Urbarmachung des Bodens bis zu den tiefften Gedanken
der Speculation, von den Zufluchtsftätten des Elendes
bis zu den Tempeln, die Michelangelo erbaut und Raphael
ausgefchmückt hat. Nichts ift göttlicher als ihre Moral,

I nichts liebenswerther und grofsartiger als ihre Dogmen,
ihre Lehren, ihr Cultus. Sie begeiftert den Genius,

I reinigt den Gefchmack, entwickelt die edelften Leiden-