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Ausgabe:

1902 Nr. 3

Spalte:

74-77

Autor/Hrsg.:

Lisco, Heinrich

Titel/Untertitel:

Roma Peregrina. Ein Ueberblick über die Entwickelung des Christentums in den ersten Jahrhunderten 1902

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 3.

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wirrbaren Widerfprüchen des Textes nicht klug werde. I
Die abfichtliche Zufammenftellung der Perikopen von der
Hochzeit zu Kana und der Tempelreinigung, von Nikodemus
und der Samariterin ift fo offenbar, dafs auch R. die
verbindende Idee anerkennt (p. 135). Ob aber diefe nicht
zu allgemein und zu blafs formulirt wird durch den Satz,
dafs eine neue Heilsordnung die alte erfetzen foll?! Viel
fefter werden diefe Perikopen aneinander gekettet dadurch
, dafs im Gegenfatze zu blofs äufseren Reinigungs-
acten und Wafchungen mit Waffer die höhere Reinigung
tritt, welche Chriftus den Seelen bringt durch fein neues
Geiftwefen, durch die Taufe aus Waffer und Geift,
durch das Waffer, das ins ewige Leben quillt. Insbe-
fondere kann es nur diefer ganz fpecielle Gefichts-
punkt der Reinigung fein, welcher den ganz unge-
jchichtlichen, von R. mit Recht fo fcharf kritifirten
Anfchlufs der Erzählung von der Tempelreinigung an
die Kanagefchichte bewirkt hat, wie ja in diefer felbft
auf den xa&aQiOubg tojv 'lovdaimv (2 g) angefpielt wird.
Und die letzten Zweifel muffen fchwinden angefichts der
Thatfache, dafs auch noch das, was vor diefen Perikopen
fleht, das ganze erfte Capitel mit dem Prolog und den
verfchiedenen Täuferftücken von diefem Gegenfatze gegen
eine in dem jüdifchen Taufritus befangene Gemeinde aus
Licht erhält. Freilich werden wir nun damit auf einen
polemifchen Zweck des Evangeliften geführt, der von R.
ganz hintangeftellt wird und auf feine Exegefe keinen
Einflufs ausgeübt hat.

Die von dem Recenfenten verfuchte Conflruction,
wonach Johannes bei feiner Darfteilung vornehmlich eine
jüdifche Baptiftengemeinde berückfichtigt hätte, wird von
R. durch einige allgemeine und fragwürdige Redensarten
abgethan (p. 112). Die kategorifche Behauptung, dafs
wir gar keine hiftorifche Kunde von der Exiftenz einer
Johannesgemeinde gegen Ende des 1. Jahrhunderts haben,
icheint Act. 19 abfichtlich zu ignoriren. Wären auch alle
Spuren von den Baptiften in der altchriftlichen Literatur
verwifcht (was nicht der Fall ilt), fo wäre das Argument
R.'s immer noch verfrüht, fo lange nicht feftfteht, wie
weit die heute noch am Euphrat angefiedelten Johannesverehrer
zurückreichen, über die erft vor Kurzem Big-
ham (A ride tltrough western Asia, London 1897, p. 161 f.)
fehr merkwürdige Auffchlüffe geboten hat. Gefetzt aber, wir
hätten nur die Andeutungen im vierten Evangelium, wie
viel von unferem Wiffen über das apoftolifche Zeitalter
müfste geftrichen werden, wenn das einmal Angedeutete
nur dann Glauben verdiente, wenn es durch ein weiteres
Zeugnifs genützt würde? Dafs der Prolog fich mit den
Johannesjüngern befchäftigen folle, das heifst nach R.,
einen .kleinlichen' Mafsftab an die Dinge legen. Es ift
allerdings leichter ein folchesfubjektivesGefchmacksurtheil
auszufprechen, als den Nachweis zu liefern, dafs der Text
des Prologes nicht felbft gegen eine Ueberfchätzung des
Täufers ankämpft. Thut es aber der Text felbft, dann mag
der E van gel ift zufehen, wie er mit dem Vorwurf des
.Kleinlichen' fertig wird. Für R. ift es eben eine ausgemachte
Sache, dafs der Schreiber des vierten Evangeliums,
ein von philonifcher Philofophie durchdrungener Geift, die
evangelifche Gefchichte im Lichte der Logosfpeculation
vorführen wolle. Die neueren Papyrusfunde und deren
religionsgefchichtliche Ergebnifse, wie fie z. B. von
R. Reitzenftein (Zwei religionsgefchichtliche Fragen,
Strafsburg 1901) gezogen werden, find dieler Thefis nicht
günftig. Vielleicht läfst üch ja unfer Kritiker noch eines
Befferen belehren, wenn er diefe Studien in Angriff nimmt
und erkennt, wie tief die Logosvorftellung im gemeinen
religiöfen Empfinden der Zeit wurzelte. Einftweilen
aber in feinem beliebten Zuge nach dem Hohen oder
dem Grofsen, fieht er die wirklichen .kleinen' Sorgen
des Evangeliften nicht. Wenn diefer z. B. fchon im
Prolog den Täufer wiederholt Zeugnifs ablegen läfst,
fo finde das .feine natürliche Erklärung' in der Noth-
wendigkeit, dafs die hohe Würde Chrifti durch einen

geifterfüllten Propheten garantirt werde. Wer näher zu-
fieht, mufs allerdings fragen: ift denn auch die Stellung
diefes Zeugnifses in Vers 15 fo natürlich? Ift die fonder-
bare Formulirung diefes Zeugnifses in Vers 15 und 30 fo
natürlich? Von der auffallenden Häufigkeit diefes Zeugnifses
gar nicht zu reden. Und warum denn zeugt der Täufer
durch 4 Verfe hindurch (19—22) nur von fich und lehnt
alles Meffianifche von fich ab, wenn er nur Chriftus verherrlichen
foll? Doch wir müfsten noch auf taufend Details
in dem Prolog und dem Evangelium hinweifen und
überall auf die Einzelheiten eingehen, was wir aber, wenn
nicht aus Mangel an Raum, fo fchon um der Befürchtung
willen, auf unteren Kritiker damit einen .kleinlichen' Eindruck
zu machen, unterlaffen wollen.

Giefsen. Baldenfperger.

Lisco, Dr. H., Roma Peregrina. Ein Ueberblick über die
Entwickelung des Chriftentums in den erften Jahrhunderten
. Berlin 1901, F. Schneider & Co. (V, 565 S.
gr. 8 m. 1 Karte.) M. 9 —

Die unter dem vorftehenden Titel veröffentlichte,
fehr umfangreiche Unterfuchung Dr. Lisco's bringt uns
eine originelle Conflruction der älteften Kirchengefchichte,
die, wenn fie fich als haltbar erwiefe, die gefammte F'or-
fchung der letzten Jahrzehnte als einen grofsen Irrthum
hinzuftellen geeignet wäre. Lisco bekennt fich zwar als
dankbarer Schüler der bisherigen Forfcher und vertritt
feine kühnen Hypothefen ohne jede Anmafsung — aber
der Sache nach bleibt von den bisherigen Auffaffungen
kein Stein auf dem anderen.

Die Grundthefe der Lisco'fchen Gefchichtsauffaffung
lautet: Nicht Rom, die Welthauptftadt, fondern die
Hafenftadt von Ephefus, die den gleichen Namen führte,
war der Vorort der älteften Chriftenheit. Faft alle bisher
auf das italienifche Rom bezogenen Traditionen der
älteren Zeit find auf das ephefinifche Rom zu beziehen.
Hier gründeten Paulus und Petrus die Kirche, hier lebte
und fchrieb nicht nur Johannes, fondern auch Clemens
Romanus, hier in Afien ftarb Ignatius den Märtyrertod,
hier entftand der Hirt des Hermas und regierten die
.römifchen' Bifchöfe bis auf Pius. Hier entftanden fämmt-
liche Evangelien und das apoftolifche Glaubensbekenntnifs.
Nach Ephefus gehören: Juftin, Irenaeus, Tatian, Marcion,
Valentin, der Verfaffer des Canon Muratori und der
Märtyrer Apollonius. Erft unter Pius verliefs Hegefipp
das ephefinifche Rom und gründete im italienifchen Rom
eine Peregrinengemeinde. Dem Anfturme des kleinafiati-
fchen Montanismus weichend, fiedelten im Jahre 186 Eleu-
therus und fein Diakon Victor nach dem italienifchen
Rom über. Victor weifs fich zum italienifch-römifchen
Bifchof aufzufchwingen und verpflanzt fo die apoftolifche
Kirchenleitung definitiv nach Rom. Jedoch können fich
feine Nachfolger Zephyrinus und Gaius kaum behaupten.
Die alte römifche Gemeinde gewinnt wieder die Oberhand
; Kalliftus wird Bifchof von Rom und beanfprucht
als folcher im Befitze der apoftolifchen Kirchenleitung
zu flehen. Sein Gegenpapft im ephefinifchen Rom ift
Hippolyt, der mit Ambrofius, dem Freunde des Origenes,
identifch ift. Nach feinem Tode auf Sardinien, wo
Hippolyt-Ambrofius in der Verbannung ftarb, organifirt
fich unter Cyprian ein Widerftand gegen das neue von
Ephefus importirte Johanneifche Papftthum', ohne doch
die Entwickelung desfelben wefentlich aufzuhalten. Durch
die ganze Entwickelung hindurch zieht fich aber der latente
, fchon im erften Jahrhundert entftandene Gegen-
fatz der Paulus-Petruskirche einerfeits und der Johanneskirche
andererfeits. Zuerft beftimmt diefer Gegenfatz
die Entwickelung der ephefinifchen Stadtgemeinde, die
in eine örtliche und weftliche (griechifche und römifche)
gefchieden ift; nachher wiederholt fich der Gegenfatz im
italienifchen Rom (alt-römifche Gemeinde und Peregrinen-