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Ausgabe:

1902 Nr. 2

Spalte:

57-58

Autor/Hrsg.:

Syrkin, N.

Titel/Untertitel:

Graf Leo Tolstoi und der heilige Synod 1902

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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57

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 2.



Es ift nach meinem Eindruck ein getreues Bild des
Mannes, in deffen inneres Leben uns feine Schriften
und befonders feine ,Efterladtc PapireC einführen. So
kann das Büchlein allen Freunden Kierkegaard's empfohlen
werden. Immerhin darf ich nicht verfchweigen,
dafs die Ueberfetzung manches zu wünfchen übrig läfst.
Die felber vor der Veröffentlichung des Buches fchon
cntfchlafene Ueberfetzerin ift des Dänifchen nicht hinlänglich
mächtig gewefen, um der fchwierigen Aufgabe
überall gerecht zu werden. Denn fchwer ift es unter
allen Umftänden, diefen Dialektiker und Virtuofen feiner
Mutterfprache richtig zu überfetzen, bei dem die fprach-
liche Nuance im Gebrauch eines Wortes oder Satzes
nicht feiten den Sinn wefentlich beeinflufst. Ebenfo hat
es der Dame an fchriftftellerifcher Uebung gefehlt: vereinzelt
kommen Redewendungen und Sätze vor, die im
Deutfchen unmöglich find. Dem ungenannten Herausgeber
kann ich daher den Vorwurf nicht ganz erfparen,
dafs er bei der Fertigmachung des Manufcriptes für den
Druck nicht forgfältig genug gewefen ift.

Berlin. Kaftan.

Syrkin, Dr. N., Graf Leo Tolstoi und der heilige Synod.

2. Auflage. Berlin 1901, H. Steinitz. (77, S. 8.) M. 1.—

Es ift bekannt, dafs der ruffifche Synod im Anfange
des vor. Jahres den Grafen Tolstoi exeommunicirt hat.
Obiges Schriftchen ftellt mehrere daraufbezügliche Docu-
mente in deutfeher Ueberfetzung zufammen. Nur in der
Vorrede äufsert fich Herr Syrkin felbft. Es ift willkommen,
dafs diefe Documente nunmehr jedem, der fich bei uns,
fei es für Tolftoi, fei es für die ruffifche Kirche, fei es,
wie ich, für beide intereffirt, zugänglich gemacht find.
Die Ueberfetzung ift freilich keine gute. Sie ift offenbar
flüchtig hergeftellt, entfpricht fehr oft nicht dem Charakter
der deutfchen Sprache, ja läfst an einzelnen Stellen
nicht einmal ganz verftändlich werden, was überhaupt
gemeint ift. Zum Ueberflufse trifft man viele Druckfehler.
Allein auf all das kommt letztlich bei einem Werkchen
diefer Art nicht viel an. Das Wefentliche des Inhaltes
und Tones der Documente ift ja doch unzweifelhaft zu
erkennen. Mitgetheilt werden das ,Rundfehreiben an
die treuen Kinder der orthodoxen ruffifch-griechifchen
Kirche über den Grafen Leo Tolftoi,' welches der Synod
am ,20./22.' (wohl IO./22.) Februar 1901 erliefs, darauf
die Antworten der Gräfin und des Grafen felbft, schliefs-
lich zwei Repliken auf die letztere, die in einer ruffifchen
Kirchenzeitung (der ,Miffionärifchen Revue', wie S. den
Titel überfetzt) erfchienen, nämlich die ,vom Jamburg-
fchen Bifchof Sergius' und die von W. Skworzow, dem
Herausgeber der genannten Revue. Jedes der Documente
ift lehrreich in feiner Art. Man kann fich vielleicht
wundern, dafs Graf Tolftoi überhaupt auf das Schreiben
des h. Synods zu .antworten' fich gedrungen gefühlt hat.
Es hat mir doch gefallen, dafs er nicht ftolz oder hoch-
müthig gefchwiegen hat. Was Bilchof Sergius und Herr
Skworzow erwidern, ift zum Theil weder ungefchickt,
noch unberechtigt. Die orthodoxe ruffifche Kirche konnte
wirklich nicht umhin, fich von Tolftoi loszusagen; Tolftoi
empfindet den Ton des Synodalfchreibens als heuchle-
rifch, in Wirklichkeit ift er wohl zu verftehen aus dem
Streben der Behörde milde zu fein. Aber Tolftoi hat
nun nur zu fehr Recht, wenn er auf die unfägliche Fülle
von Aberglauben in der orthodoxen Kirche hinweift.
Andrerfeits beurtheilt er alles an diefer Kirche blofs von
der rohen Empirie aus und zugleich abftract. Wer die
Entftehung und Bedeutung der Lehren und Riten der
orthodoxen Kirche in der Gefchichte kennt, kann unmöglich
zugeben, dafs er den rechten Ton wider fie
treffe. Aber der hohe fittliche Ernft Tolftoi's tritt doch
ergreifend auch zu Tage. Indefs es ift hier nicht der j
Ort um das Thema ,Tolftoi und feine Kirche' zu behan- !

dein. Darüber ift viel mehr zu fagen, als z. B. Syrkin
nach der Vorrede auch nur ahnt.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Chwolson, Prof. Dr. D., Die Blutanklage und sonstige mittelalterliche
Beschuldigungen der Juden. Eine hiftorifche
Unterfuchung nach den Quellen. Nach der zweiten
veränderten und verbefferten Ausgabe von 1880 aus
dem Ruffifchen überfetzt und mit vielen Verbefferungen
und Zufätzen vom Autor verfehen. Frankfurt a. M.
1901, J. Kauffmann. (VII, 362 S. gr. 8.) M. 2.—

Frank, Pfr. Dr. Fr., Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen
der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Regensburg,
1901, Verlagsanftalt vorm. G. J. Manz. (VIII, 327 S.
gr. 8.) M. 2.—

Die ,Blutbefchuldigung', d. h. die Befchuldigung, dafs
die Juden oder doch Juden als Juden Chriftenblutes zu
rituellen oder anderen mit dem Judenthume zufammen-
hangenden Zwecken benöthigten, hat auch in Rufsland
Glauben gefunden und zu Ausfchreitungen feitens fa-
natifcher Judengegner und des durch fie aufgereizten
Pöbels wie zu gerichtlichen Unterfuchungen geführt.
Aus Anlafs eines in Ssaratow geführten Proceffes erhielt
Prof. Chwolfon in Petersburg den Auftrag, ein Gutachten
über die Befchuldigung zu erftatten. Aus diefem Gutachten
erwuchs das im Jahre 1861 erfchienene Buch
0 njekotorych ssrcdnewjekowych obzvineniach protiw Je-
zvreew (Petersburg, 216). Eine deutfehe, mit Zufätzen des
Verf.s verfehene Ueberfetzung der zweiten Auflage des
ruffifchen Originales liegt jetzt vor.

Unzweifelhaft hat Prof. Chwolfon fich dadurch ein
Verdienft erworben, dafs er in Rufsland mit dem Gewichte
feines Namens und feiner Kenntnifse die an betrübenden
Folgen fo reiche Befchuldigung bekämpft hat.
Doch war die Veröffentlichung einer deutfchen Ueberfetzung
des ganzen in behaglich breitem Redcftromc
abgefafsten Werkes nicht zweckmäfsig, da Gegner durch
fie fchwerlich bekehrt werden werden; denn der Standpunkt
des Autors ift ein zu offenfichtlich .philofemitifcher'.
und es mangelt nicht feiten an der zumal bei derartigen Gelegenheiten
unerläfslichen wiffenfehaftlichen Genauigkeit.
Das über weltliche Herrfcher und Päpfte Gefagte z. B. ift
grofsentheils aus Hottinger's Kirchengefchichte und
Schriften Wagenfcil's entnommen, obwohl die anonym
erfchienene Schrift ,Die Päpftlichen Bullen über die Blut-
befchuldigung', Berlin 1893, München 1900, und Moritz
Stern, Urkundliche Beiträge über die Stellung der Päpfte
zu den Juden, Kiel 1893/95, mehr und Befferes bieten.
S. 160, dem Thatbeftande widerfpricht die Angabe, dafs
das Büchlein Toldoth Jesclm, allerdings ein ,trauriges
Machwerk', bei den Juden .nicht das geringfte Anfehen'
geniefse; Neubauer's Katalog der Bodley'fchen Bibliothek
in Oxford nennt 5 Codices, vgl. auch Erich Bifchoff,
Ein jüdifch-deutfehes Leben Jefu, Leipzig 1895.— S. 161 f.,
die Zahl der antichriftlichen Schriften von Juden ift fehr
unterfchätzt, vgl. J. Chr. Wolf, Bibliotheca Hebraea II,
1048 fr. und J. B. de-Roffi, Bibliotheca Judaica antichristianet,
Parma 1800 (182 Nummern.)— S. 179 wird irrig behauptet,
bei Kirchner und Eifenmenger fei keine Andeutung davon
zu finden, dafs die Juden zu Ottern Chriftenblut gebrauchen
; dagegen vgl. P. Chr. Kirchner, Jüdifches
Ceremoniel, Nürnberg 1734, S. 150f., und die Anmerkung
von Jungendres dafelbft, fowie Eifenmenger.
Entdecktes Judenthum II, 222 f. — S. 183, dafs das Haman-
feft ,fchon in der erften Hälfte des 5. Jahrh. v. Chr.' aufkam
, dürfte fchwerlich .allen bekannt fein'. — S. 188, bei
Nennung ,dcs berühmteften Philofophen Rossi' hat der
Unteroffizier Sawizki vielleicht an Afarja de'Rossi (f 1578
in Ferrara) gedacht. — S. 274, die Literatur über den den
märkifchen Juden im J. 1510 (nicht 1518) gemachten Pro-