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Ausgabe:

1902 Nr. 26

Spalte:

695-701

Autor/Hrsg.:

Thomas, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Anschauung der Reformatoren vom geistlichen Amte 1902

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 26.

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Boehmer, Heinrich, Die Fälschungen Erzbischof Lanfranks
von Canterbury. (Studien zur Gefchichte der Theologie
und der Kirche, herausgegeben von N. Bonwetfch und
R. Seeberg. Achter Band. Heft 1.) Leipzig 1902,
üieterich. (VIII, 175 S. gr. 8.) M. 4.—

Aus den Vorarbeiten für den Artikel Lanfrank in
der Herzog'fchen Realencyklopädie, 3. Auflage, ift diefe
gründliche, vortrefflich geführte Unterfuchung hervorgegangen
. IhrRefultat bietet einen bedeutenden Beitrag für
die Charakteriftik des grofsen Erzbifchofs, ja für die Cha-
rakteriftik der mittelalterlichen Kirche überhaupt. Böhmer
weift überzeugend nach, dafs zehn Privilegien, das eine
für das Domklofter, die anderen für den Erzftuhl von
Canterbury, Fälfchungen feien. Zum Theil find fie rein
erfunden in Nachahmung echter Urkunden, zum Theil
find echte Urkunden durch Zufätze erweitert worden
zur Erreichung eines beftimmten Zweckes. Die neun für
den Erzftuhl von Canterbury beftimmten follen den Primat
Canterbury's über alle Kirchen Englands beweifen;
dasjenige für das Domklofter foll den mönchifchen Charakter
des Klofters ficherftellen. Diefelbe Tendenz, wie
diefes, haben drei Canones; fie follen das Recht der
Mönche auf die Ausübung geiftlicher Functionen und
den Genufs geiftlicher Einkünfte gegen Angriffe von
Weltgeiftlichen vertheidigen. Aus der Zeitgefchichte
weift nun Böhmer nach, dafs diefe Fälfchungen insge-
fammt auf keinen anderen als auf Lanfrank zurückzuführen
feien; fie waren ihm ein Mittel, das Anfehen des
Erzbisthums zu heben und zu behaupten, zugleich auch
den Verfall des englifchen Kirchen- und Klofterwefens
befeitigen zu helfen. Er entwirft ein packendes Bild von
den englifchen Zuftänden, von den Hindernifsen, die fich
' Lanfrank entgegenftellten und deren er Flerr zu werden
wufste. In diefem Kampfe hat er fich nicht gefcheut,
ein bewufster Fälfcher zu werden. Es trifft fich glücklich,
dafs auch die Zeit, in der die Fälfchungen entftanden find,
genau eruirt werden kann: fie find zwifchen dem 8. April
und dem 27. Mai 1072 in Canterbury fabricirt worden.
Damit erhalten die Schriftftücke ihre wahre Bedeutung.

Im Anhange druckt Böhmer die genannten Stücke
ab; dazu die Constitutio Gregorii, das Scriptum Lanfranci
de prima tu und die von Lanfrank herrührende Urkunde
für St. Gregor; die Constitutio Greg, nach Gregor's Registrum
, ed. Hartmann, die übrigen Stücke auf Grund
eigener Abfchriften und Collationen.

Halle a. S. Gerh. Ficker.

Römer, Cand. Heinr., Die Entwicklung des Glaubensbegriffes

bei Melanchthon nach deffen dogmatifchen Schriften.
Diff. Bonn 1902. (48 S. 8.)

Kawerau, D. Guftav, Die Versuche, Melanchthon zur katholischen
Kirche zurückzuführen. (Schriften des Vereins für
Reformationsgefchichte. Neunzehnter Jahrgang. Drittes
Stück. Nr. 73.) Halle 1902, M. Niemeyer in Komm.
(III, 86 S. gr. 8.) M. 1.20

Thomas, Diak. Wilhelm, Die Anschauung der Reformatoren vom
geistlichen Amte. Leipzig 1901, Th. Hofmann. (45 S.
gr. 8.) M. 1.—

Christmann, Dr. Curt, Melanchthons Haltung im schmalkal-
dischen Kriege. (Hiftorifche Studien, veröffentlicht von
Dr. E. Ebering. Heft XXXI.) Berlin 1902, E. Ebering.
(VIII, 160 S. gr. 8.) M. 4.—

DieMelanchthonforfchungift gegen wärtigaufserordent-
lich rege; es ift nicht Zufall, dafs faft alle Arbeiten fich
nicht fowohl mit feinem Leben oder auch mit der Analyfe
etwa von Einzelfchriften befchäftigen, fondern vielmehr
feine theologifche Gefammtanfchauung ins Auge faffen

und von verfchiedenften Punkten aus zu beleuchten
Puchen — auch die zuletzt genannte Schrift ift mehr
theologifch als politifch intereffirt, und die neue Ellinger-
fche Biographie ftellt die Theologie Melanchthon's in
den Vordergrund. Die aufserordentlich fcharfe Stellungnahme
Ritfchl's zu Melanchthon und fodann die den ganzen
Rahmen der melanchthonifchen und nachmelanch-
thonifchen Dogmatik klarftellende Arbeit von Tröltfch:
Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon
(1892) zwangen dort zur Nachprüfung, hier
zum Ausbau, wenn man auch mit Ritfehl fich mehr be-
fchäftigte als mit feinem (damaligen) Schüler.

Der Einflufs von Tröltfch und Ritfehl ift deutlich zu
fpüren bei Römer (1), der freilich diefen beffer als jenen
verftanden hat. R. geht aus von einer Analyfe des
Glaubensbegriffes M.'s in den loci von 1521. Hier ift die
fides = fiducia misericordiac divinae im Ünterfchied vom
fcholaftifchen Glaubensbegriff fowohl hinfichtlich feines
Objectes (divina historid) als auch feiner pfychologifchen
Form (assentiri — ein Begriff, den übrigens im Anfchlufs
an Auguftin Melanchthon auch für feinen Glaubensbegriff
gebrauchen kann) und feiner Entftehung (donum naturae
et non infusio Spiritus saneti). In der confessio Augustana,
zu welcher R. nunmehr übergeht, ift eine Aenderung eingetreten
. Zwar wird auch hier die fides als fiducia er-
j läutert, aber zugleich wird die notitia historiae in den
1 Glaubensbegriff hineingezogen, ein non tantum—sed etiam
tritt ein: fides credit non tantum historiam sed etiam efifec-
tum historiae. M. E. überfchätzt Vf. etwas diefen Ünterfchied
, fo zweifellos er vorhanden ift. Die angeführte
Stelle ift in der C. A. fingulär. Was R. für die Apologie
der C. A. feftlegt, dafs bei der Verwendung diefes
Schemas eine gewiffe Vorficht zu bemerken ift: ,das etiam
im zweiten Gliede fehlt zuweilen', gilt in verftärktem
Maafse von C. A. vgl. z. B. 20, 26 (ed. Müller): nomen
fidei aeeipi non pro notitia, qualis est in iinpiis, sed pro
fiducia, fowie auch die von R. mitgetheilte Stelle (S. 16)
art. 2023—26. Aus letzterer fowie namentlich aus Apol. 4, 48
geht hervor, dafs die finguläre Stelle genau genommen
fo zu interpungiren ift: fides credit non: tantumhistoriam
(seil, wie nämlich die Gegner fagen); dann aber blafst
das sed etiam fehr ab.1) In der Apologie conftatirt R.
das Zugeftändnifs Mel.'s an die Gegner betr. der Berechtigung
einer fides generalis, quae in genere credit de um
esse, poenas propositds esse impiis etc. (177, 60). Wieder-
! um weiter führen die loci von 1535, fofern die fides-
fiducia certe omnes articulos fidei complectitur, d. h. ein
j intellectuelles Moment in ganz beftimmter Prägung. Die
Ausgabe der loci von 1544 bringt ,zum erften Male die
volle Definition des Glaubens, nach der er fich zufammen-
fetzt aus notitia, assensus und fiducia. Der Vater diefer
j von den luther. Dogmatikern übernommenen Definition
ift alfo Melanchthon'. Das Näheren gehören notitia und
assensus der Sphäre des Intellects an, die fiducia der des
Willens; jedoch hat Mel. auch jetzt noch (f. oben) assensus
und fiducia in anderem Sprachgebrauch eng aneinandergerückt
und von der notitia abgegrenzt.

Diefem erften forgfältig analyfirenden Theile der R.'
fchen Arbeit wird man zuftimmen können. Weniger glücklich
ift Vf. im zweiten, erklärenden Theile. Zwar finden
fich auch hier manche guten Ausführungen, aber im Allgemeinen
ift ihm der fpringende Punkt nicht ganz klar
i geworden, und daher datirt ein unficheres Taften in der
j Beftimmung des Erklärungsgrundes für Mel.'s Glaubensbegriff
. Einmal fieht Vf. den .Haupterklärungsgrund' in
der .kirchlichen Richtung des Melanchthonifchen Geiftes'
(S. 34), fodann in feiner Betrachtung der h. Schrift als
der .äufserlich uns gegenübertretenden und einfach anzuerkennenden
, weil unbedingt göttlichen Autorität', endlich
im hervortretenden Humanismus. Das find ja in der

1) Bcachtenswerth ift, dafs im deutfehen Ttxte das non tantum — sed
etiam nicht wieder gegeben ift.