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Ausgabe:

1902 Nr. 26

Spalte:

686-689

Autor/Hrsg.:

Wirth, Karl Hermann

Titel/Untertitel:

Der „Verdienst“-Begriff in der christlichen Lehre 1902

Rezensent:

Jordan, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 26.

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meinde ganz entfprechende Verbindung eines jüdifchen
Gedankens mit griechifcher Form, wie fie vorliegt in
den Anreden avÖQtg lOQanXelxm, avÖQsg äöeXtpoi u. f. w.
(S. 123 f.). Unfer Kritiker fagt uns nicht, ob auch die
Engel 1 11 ihre gefchichtliche Exiftenz mit Berufung auf
die ebenfo zeitgemäfse und elegante Anrede ävÖQtg
raXtlaiot beweifen können. Die Adreffe 1523 legitimirt
den folgenden Brief als echtes Erzeugnifs geborener Juden
durch ihre Aehnlichkeit mit 2. Mak. I 1 (S. 94). Beiläufig
wäre durch die vier Jakobusclaufeln die Chriftenheit nur
gegen Eindringen femitifcher Cultusbräuche aus der unmittelbaren
Umgebung ficher zu ftellen (S. 96 b). Wunderbare
Refultate erzielt der Verf. auf dem Wege des argumentum
e silentio. Aus dem Ausdruck toü Xaov xovxov
1317 wird ein, vom Berichterfiatter zwar übergangener, j
aber den ,gefchichtlichen Hintergrund' des ganzen Be- [
richts erweifender Vorgang, erfchloffen (S. 179 b). Die j
Rede in Lyftra berührt das eigentlich Chriftliche gar
nicht. Um fo gewiffer ift fie gefchichtlich. Denn ein j
Fabulifl hätte das beffer gemacht, wie aus Acta Pauli et
Tlieclae 17 erhellt (S. 204). Aehnliche Verwerthung findet j
der Umftand, dafs die Rede in Athen keine Verherrlichung
der griechifchen Kunfl bietet (S. 211). Endlofe
Parallelen aus paulinifchen Briefen werden aufgeboten,
um den durchaus paulinifchen Charakter der Rede in
Milet zu erhärten (S. 234—288, vgl. S. 290 b 295). Aber
jeder Gedanke, ob etwa gerade die Parallelen der Theffa-
lonicherbriefe (S. 246. 249 f.) gegentheils für die von
Schulze (Studien und Kritiken 1900, S. 119—123) ver- I
tretene Auffaffung des Verhältnifses fprechen dürften, |
liegt dem Kritiker fern, der gleich anfangs jede Beziehung
auf paulinifche Briefe abgelehnt hat (S. 26 fA |
Da ihm auch die Gefangenfchafts- und Pafloralbriefe |
paulinifch find, mufste ihm die Thatfache, dafs Paulus ,
20, 25. 38 für immer von feinen kleinafiatifchen Gemeinden
Abfchied nimmt, Anlafs zu ernftlicherem Nach- j
denken bieten, als ein leicht hingeworfener Satz vom
gomancer', der ohne Anhalt in der Tradition feinen Paulus
nicht fo hätte reden laffen, erkennen läfst (S. 263). Dafs
die johanneifche Darftellung, wonach Jefu Wunderthaten
mein in Judäa gefchahen, richtig ift, folgt aus Apoftelg.
IO 37. 39 (S. 143 f.), obwohl Chafe felbft an einem anderen
Ort wohl weifs, dafs Judäa bei Lucas im weiteren
Sinne, gleich Paläftina, vorkommt (S. 49). Nach 1329
vollenden die Juden ihre Mordarbeit, indem fie den Getöteten
,in ein Grab legen', während Lucas doch felbft
berichtet, dafs dies vielmehr Jofeph von Arimathäa that;
um fo gewiffer richtet er fich an jener Stelle genau nach
dem im Moment von Paulus gebrauchten Ausdruck
(S. 184 b). Wir Anderen meinen, in 1339 eine lucanifche
Verfchiebung der paulinifchen Rechtfertigung mit Händen
greifen zu können. Chafe verfichert, es fei gar nicht möglich
, den paulinifchen Gedanken treffender und präcifer
zum Ausdruck zu bringen (S. 193 f.). Merkwürdig, dafs
den gelehrten Anglikaner, der gelegentlich einmal die
für Redebildungen in der antiken Schriftftellerei claffi-
fche Stelle Thucyd. 122 berührt (S. 113), ein Gedanke
daran nicht anficht, dafs die apoftelgefchichtlichen Reden,
wie doch felbft der katholifche Semeria (Venticinque anni
di storia del cristianesimo nascente 1900, S. 35. 45. 174.
230. 311. 357) bemerkt, auf die allgemein geübte Manier !
antiker Schriftlicher zurückzuführen fein möchte. Vgl.
Soltau. der gefchichtliche Werth der Reden bei den alten
Hiftorikern (Neue Jahrbücher IX, S. 20—31). Anltatt den
fehr begreiflichen Fällen nachzugehen, wo (z. B. S. 220
jtävraq Jtavxaxov) paulinifche Wortformen und Ausdrücke
fich auch in den Paulusreden der Apoftelgefchichte ein-
ftellen (als ob dies nicht auch in anderen Theilen diefes
Werkes der Fall wäre), hätte Berückfichtigung des Nach- 1
weifes des lucanifchen Stils in jenen Redeftücken, wie I
ihn bei uns Bethge, in England Caffels reichlich geführt
haben, erfpriefslichen Dienft gethan. Zu 5 30 die Stelle
Richter 39 als Parallele anzuführen, wird verboten, weil j

das Richterbuch nicht zu denjenigen Theilen des Alten
Teftamentes gehört, auf welche fich das urchriftliche Be-
wufstfein inftinctiv gewiefen fah (S. 130). Aber derfelbe
Lucas erzählt doch die Geburt des Täufers mit Anklängen
an Richter 13, 4—8. Und Anklänge fogar an apokry-
phifche Bücher wie die Weisheit Salomo's verzeichnet
unfer Verf. felbft (S. 222).

Und was wird endlich mit Aufgebot fo vieler Kunft
erreicht? Auf wörtliche Genauigkeit in der Wiedergabe
apoftolifcher Reden ift fchliefslich doch nicht zu rechnen
(S. 122), bei einem Schriftfteller, welcher auch Worte
Jefu nicht wiedergeben kann, ohne ihnen mindeftens
,a somewhat greater fulness and elaboration and a more
distinctly literary flavour and finish' zu verleihen (S. 109 b).
Um fo erbaulicher lautet freilich das Refultat, dafs dem
Apoftel ja nur widerfahren, was dem Herrn felbft widerfahren
ift (S. 110). So follen wir auch aus der Thatfache,
dafs die Apoftelgefchichte an den grofsen Kämpfen, davon
die Paulusbriefe wiffen, leife vorübergeht, keine Schlüffe
gegen ihren gefchichtlichen Werth folgern, fondern lieber
uns daran ,ein Exempel zur Nachfolge' nehmen, indem
es ja chriftlich ift, vergangene Mifshelligkeiten begraben
fein zu laffen (S. 93). Wie wohlthätige Abkürzungen
könnte doch auf folchem Wege die Kirchengefchichte
erfahren!

Schliefslich gewinnt man den Eindruck, als ob von
der unaustilgbar realiftifchen Denkweife des Engländers
zuweilen merkliche Reactionen gegen den theoretifchen
Supranaturalismus feiner Theorie erfolgt feien. Er glaubt
mit ,vorfehungsmäfsigen Interventionen, die innerhalb der
Naturordnung erfolgten', auszukommen, wo der Bericht-
erftatter zu einer übernatürlichen Deutung' greift (S. 301).
So löft fich das Pfingftereignifs nach feiner äuferen Seite
in einen Lichteffect der die Tempelhalle durchftrahlenden
Morgenfonne auf (S. 34 b); das Sprachwunder erklärt fich
aus dem Zufammenflufs von Juden aus aller Herren Ländern
(S. 36 b); die Vifion des Petrus beruht auf traumhaften
Erinnerungen an Deuter. 12 15. Ez. 4 14 (S. 78 b). Man
darf eben in der Apoftelgefchichte nicht buchftäbliche
Wirklichkeit, fondern nur ein .wefentlich treues' Bild der
Vorgänge fuchen (S. 9b 293). Es handelt fich alfo auch
bei diefem letzten Rettungsverfuch um kein Entweder-
Oder, fondern um ein Mehr oder Weniger.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Wirth, Lic. Dr. Karl Hermann, Der „VerdiensP'-Begriff in
der christlichen Kirche, nach feiner gefchichtlichen Entwicklung
dargeftellt. II. Der „VerdienfV'-Begriff bei
Cyprian. Leipzig 1901, Dörffling & Franke. (XI,
184 S. gr. 8.) M. 3.60

Die vorliegende Arbeit über den Verdienftbegriff
bei Cyprian, auf Grund deren dem Verfaffer von der
theologifchen Fakultät zu Leipzig die Licentiatenwürde
verliehen ift, ift der zweite Theil der von W. begonnenen
Darftellung des Verdienftbegriffes in der chriftlichen
Kirche. Der vor zehn Jahren erfchienene erfte Theil
handelt von dem Verdienftbegriff bei Tertullian (Leipzig
1892, IV, 74 S. - Vgl. Theol. Litztg. 1893 Sp. 353 f.).
Der Verf. geht bei feiner Gefchichte des Begriffs von
dem Satz aus: ,Das ganze römifche Kirchenwefen beruht
auf der Verkehrung des Evangeliums in Gefetz und auf
der Lehre vom Verdienft' (a. a. O. S. 2). Bei Tertullian
begann er damals feine Darfteilung in der Erkenntnifs,
dafs ,der Verdienftbegriff uns in der chriftlichen Literatur
hier zum erften Male bewufst ausgefprochen entgegentritt
' (ib.). Er mufs nun bei Cyprian fortfahren, denn
,diefelbe Wichtigkeit, die bei der Darfteilung der gefchichtlichen
Entwicklung dem Tertullian zukommt als
demjenigen, der den „Begriff zum erften Male fcharf
formulirt". kommt dem Cyprian zu als demjenigen, der
dem Verdienftbegriffe im Syfteme der kirchlichen