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Ausgabe:

1902 Nr. 25

Spalte:

672-674

Autor/Hrsg.:

Wundt, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Einleitung in die Philosophie 1902

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 25.

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die Brücke des Wirkens, der Caufalität. Aufserdem haben I
wir an dem Caufalitätsbegriff noch das Intereffe, dafs mit |
ihm die wiffenfchaftliche Vertretung des Gottes- und Vor- j
fehungsglaubens fleht und fällt. Da haben wir alfo die alte ■
Frage nach der Willensfreiheit. Gegenüber dem von Gott-
fchick vertretenen ,Du kannft, denn du follft', gegenüber
dem Satze von Rolffs, dafs das Gewifsen eine Freiheit
des Willens für die Zukunft ausfage, gegenüber den
empiriokritifch gehaltenen Ausführungen Dunkmann's und 1
den entwickelungsgefchichtlichen Paul Ree's ftellt W. als
feine wiederum wiffenfchaftlich begründete mit zahlreichen
anfprechenden Beobachtungen belegte Anficht die Ueber-
zeugung heraus, dafs zwifchen dem Trieb- und Willens- I
leben ein fpecififcher Unterfchied herrfcht, denn der
Menfch kann fpontan von (ich aus in das Getriebe der !
Motive und Vorftellungsaffoziationen eingreifen. Den j
letzten Grund findet diefe Freiheit in dem Ich, dem vorher i
feftgeftellten wirkenden Realen. Von da aus können wir
getroft in das untere Stockwerk des Transfcendenten, die
finnliche Aufsenwelt, und in das obere Stockwerk, in die
Welt des Glaubens an den wirkenden perfönlichen Gott
hinauffleigen. — Wir fragen nach dem Rechte der
Grundtendenz des Buches, nach der Richtigkeit des Ausgangspunktes
und der Angemeffenheit der Mittel.

Gegen das Ziel ift wenig zu fagen. Will die Theologie
nicht abfeits flehen, fo mufs fie die Begriffe, die ihr
der Glaube liefert, vor dem Denken der Zeit zu rechtfertigen
fuchen. Zwar ift diefes Denken der Zeit wenig
einheitlich und es werden fich auch wenig Leute etwas
daraus machen, wenn wir die Begriffe rechtfertigen wollen,
die fie zum alten Eifen geworfen haben; aber wir haben
auch ein Stück vom Denken der Zeit in uns, und zwar
vom materialiftifch-relativiftifchen Denken der Zeit. Diefes
Stück Zeitdenken bedroht unfer gutes Gewiffen und damit
unteren Frieden und untere Kraft. Und wenn wir das
einigermaafsen niedergerungen haben, wollen wir fchon
zufrieden fein, ohne viel darauf zu hoffen, dafs wir das
Denken in den Andern beeinflufsen können. Es geht bei
diefer Auseinanderfetzung mit dem materialiftifch-relativi-
ftifchen Zeitdenken in uns um die alte Trias, die W.
richtig herausgehoben hat: Gott, Freiheit und Unfterblich-
keit. Nur das es fich dabei, wie er immer fagt, nicht um
den Glauben, fondern um das Recht der Theologie handelt,
nur dafs die Art, wie diefe Gröfsen gewonnen werden, 1
eine unferen ganzen wiffenfchaftlichen Vorausfetzungen
entfprechende ift. Damit kommen wir auf W.'s Ausgangspunkt
. Den findet er in der inneren Erfahrung, nachdem
er ihr Recht dargethan hat. Das ganze Seelenleben zieht
er heran und achtet befonders auf das Trieb- und Willensleben
. Gegen diefen Ausgangspunkt kann man nichts
einwenden. Die Thatfachen find richtig beobachtet und
werden ohne metaphyfifche Deutung dargeftellt.

Wie fteht es nun mit den Mitteln, die er anwendet,
um von diefem Ausgangspunkt zu jenem Ziele zu kommen?
Wenn W. mit wiffenfchaftlichen Ausführungen jene ftütz-
enden Gedanken der Theologie, alfo das Ich und die
Freiheit felbft ftützen will, fo habe ich ganz andere Gedanken
über Begriff und Tragwerthe wiffenfchaftlicher
Bethätigung. Mir ift keine Stelle erinnerlich, wo W. begründet
, dafs feine Bemühung wirklich mit Recht wiffenfchaftlich
genannt werden kann. Wiffenfchaft giebt es
für mich nur auf dem Gebiete der Erfahrung. Der chrift-
liche Glaube felbft läfst fich noch wiffenfchaftlich d. h.
wie wir es von unferem gemeinfamen Lehrer Kaftan gelernt
haben, möglich!! genau, vollftändig und zufammen-
hängend darfteilen, aber in das Transfcendente führt vom
Immanenten, auch vom pfychologifchen Thatbeftand kein
wiffenfchaftlicher Weg. Denn hier vertagen die Werkzeuge
der Wiffenfchaft: Beobachtung, Verallgemeinerung, be-
fonnene Schlufsfolgerung und Controlle des Experimentes,
verfagt die Möglichkeit des zwingenden Argumentes. So
richtig und fcharf W.'s Beobachtungen und Begriffsbe-
ftimmungen find, fo wenig find feine Schlufsfolgerungen

Schlufsfolgerungen, fondern Deutungen. Das wurde mir am
klarftenbeiderFreiheitsfrage. Die früheren Entfcheidungen,
die die Freiheit befchränken, — wer fagt, dafs fie nicht
auch determinirt find? Die Entfcheidung in diefen Fragen
hängt eben immer ab von der Deutung, zu der uns dieGe-
fammtanfchauungzwingt, für die wir uns einmal entfchieden
haben. Wir rechtfertigen das Ich und die Freiheit, wenn
wir unfere Gefammtanfchauung gerechtfertigt haben, zu der
beide als integrirende Beftandtheile gehören.

Damit komme ich auf etwas Anderes. Hat es wirklich
Zweck und Ausficht, einen folchen apologetifchen
Kleinkampf zu beginnen? Oder ift es nicht beffer im grofsen
Zug, wie es Kaftan gethan hat, den Zufammenhang
zwifchen dem Theologen und dem Zeitgenoffen herzu-
ftellen? Und noch eins: Wollen wir wirklich in die Spe-
culation zurück oder wollen wir einmal ganz modern und
kühn die Pfychologifirung der Theologie fammt der
Dogmatik in Angriff nehmen, nachdem uns die Hiftori-
firung von der Metaphyfik frei gemacht hat? Die Pfychologifirung
hätte viel wichtigere Fragen zu behandeln als die
nach Ich und Freiheit! Der Glaube als Deutung unter dem
Gefichtspunkt eines höchften Gutes mit Hilfe von irdifch-
menfchlichen Anfchauungen, die als Bilder zur Erfaffung
des Unfagbaren gebraucht werden; das Verhältnifs des
fich ungefähr gleich bleibenden religiöfen Eindrucks zu
dem aus der wechfelnden focialen Geftaltung erwachfenden
Ausdruck; Werth und Giftigkeit diefes Ausdrucks; Wahrheit
und Einheit im religiöfen Grundeindruck, der abhängig
ift von der ethifchen Höhenlage bei allem Schwanken
und Streiten auf dem Gebiet des Ausdrucks. Nach folcher
Arbeit der Theologie fchreit die Praxis, wie ich das am
Schlufs meines Buches: Wie predigen wir dem modernen
Menfchen? (Tübingen, Mohr) angedeutet habe.

Kirn a. N. Lic. Niebergall.

Wundt, Wilhelm, Einleitung in die Philosophie. Leipzig 1902,
W. Engelmann. (XVIII, 466 S. gr. 8.) M. 9.—

Die vorliegende ,Einleitung' des unermüdlich thätigen
Gelehrten, der in diefem Jahre feinen 70. Geburtstag feiert,
ift aus Vorlefungen hervorgegangen, welche der Verf.
während einer Reihe von Jahren an der Univerfität
Leipzig gehalten hat. Von anderen Einleitungen in die
Philofophie', z.B. von den Arbeiten Paulfen's, Külpe's und
Jerufalem's, unterfcheidet fich das vorliegende Werk dadurch
, dafs es nicht wie diefe in der Form einer kriti-
fchen Beleuchtung der verfchiedenen Standpunkte oder
unter Voranftellung der eigenen Ueberzeugungen vor-
zugsweife eine Schilderung des gegenwärtigen Zuftandes
der Philofophie giebt, fondern auf dem Wege der ge-
fchichtlichen Orientirung zu zeigen fucht, wie die Philofophie
felbft und wie die philofophifchen Probleme ent-
ftanden find, um hierdurch zu einem fyftematifchen
Studium diefer Wiffenfchaft in ihrer gegenwärtigen Ver-
faffung vorzubereiten. Sie fchliefst fogar alles das, was
der Philofophie als folcher, fei es als dem Ganzen einer
Weltanfchauung, fei es ihren einzelnen Disciplinen zugehört
, principiell von fich aus. Denn fie will nur bis zur
, Schwelle der Philofophie führen und verzichtet darauf,
über diefe Schwelle felbft zu treten, ,infoweit nicht die
I Folgerungen, die aus dem bisher Erreichten und Erftrebten
] auf die Zukunft gezogen werden können, da und dort
einen vorausfehauenden Blick geftatten' (V).

Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dafs auf
die Art der Durchführung diefer Aufgabe der philo-
fophifche Standpunkt des Verf.s, insbefondere feine Be-
griffsbeftimmung der Philofophie, einen grofsen Einflufs
übt. Ift die Philofophie ,die allgemeine Wiffenfchaft,
welche die durch die Einzelwiffenfchaften vermittelten
Erkenntnifse zu einem widerfpruchslofen Syftem zu ver-
1 einigen und die von der Wiffenfchaft benützten allge-
i meinen Methoden und Vorausfetzungen des Erkennens
auf ihre Principien zurückzuführen hat', fo mufs ihr Ver-