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Ausgabe:

1902 Nr. 24

Spalte:

650

Autor/Hrsg.:

Flügel, Otto

Titel/Untertitel:

Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die neueren Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. 3., verm. Aufl 1902

Rezensent:

Reischle, Max

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Seite 1

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649 Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 24. 650

fetzen ja auch wir keineswegs fo, wie es nach der Darfteilung
des Verf. auf S. 5 fcheinen könnte, mit dem
Hinweis auf eine äufsere Autorität, fei es die des Dekalogs
oder die Jefu Chrifti, ein. Vielmehr fuchen wir
zuerft in philofophifcher Unterfuchung das Wefen des
fittlichen Lebens zu analyfiren, feine gefchichtliche Ent-
wickelung ätiologifch und teleologifch zu verftehen, das
Recht der fittlichen Gedanken zu begründen und dadurch
einen Maafsftab für die Prüfung der verfchiedenen
inhaltlichen Ideale, die in der Gcfchichte aufgetreten
find, zu gewinnen (vgl. z. B. Herrmann's Ethik). Denn
davon find wir allerdings überzeugt, dafs die philofophifche
Ethik die inhaltlichen Ideale nicht zu erfinden vermag,
fondern dafs fie diefe nur in der Gefchichte auf-
fuchen und prüfen kann. Wenn aber diefe Prüfung dazu
führt, dafs das chriftlich fittliche Ideal mit Recht den
Anfpruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, fo kann dann
die ganze inhaltliche Entwickelung der Ethik nichts anderes
thun, als das chriftlich-fittliche Ideal darlegen und
die Frage erörtern, welche Aufgaben fich damit für
das menschliche Einzel- und Gemeinfchaftsleben eröffnen;
und darum geben wir unferen Syftemen die Ueberfchrift
,chriftliche Ethik'. Nun verfährt im Grunde auch der
Verf. nicht anders, als dafs er die ethifchen Anfchau-
ungen, wie fie unter dem Einflufs des Chriftenthums zur
Vollkommenheit entwickelt worden find, darlegt; die
Probe dafür giebt befonders feine Ausführung über den
chriftlichen Socialismus. Aber es wäre thöricht, fich
darauf zu verfteifen, dafs feine Ethik von Rechtswegen
auch ,chriftliche Ethik' heifsen follte. Genug, dafs er
der Sache nach chriftliche Ethik giebt, ja auch ausdrücklich
an den entfeheidenden Punkten auf den Boden des
Chriftenthums fich ftellt! Gerade für die Kreife, für die
er fchreibt, ift er dadurch vielleicht ein befferer Herold
chriftlich-fittlicher Anfchauungen, als wenn er diefe
Flagge aufgezogen hätte. Stärkere Bedenken habe ich
vom philofophifchen Standpunkt aus gegen die
ganze Herbart'fche Fundirung und Anordnung der Ethik.
Zwar freue ich mich, dafs der Verf. dem Begriff des
Werthurtheils fein Recht giebt und in der Eintheilung
der Werthurtheile in weitem Umfang mit mir zufammen
trifft. Aber es fcheint mir nicht tief genug gegraben,
wenn die grundlegenden fittlichen Werthurtheile (,Ge-
fchmacksurtheileb einfach als etwas Gegebenes und unmittelbar
Feftftehendes aufgenommen werden. Wenn
der Verf. z. B., nach Herbart's Vorbild, auf das unmittelbare
Urtheil ,Streit mifsfällt' und auf das Rechtsgefühl
zurückgreift, fo kann ich weder in diefem noch in jenem
fo einfache Gröfsen erblicken. Das Mifsfallen am Streit
fcheint mir auf den verfchiedenften Gründen zu beruhen,
auf einem hedoniftifch gearteten Unluftgefühl, auf utili-
tariftifchen Erwägungen, auf dem fympathifchen Trieb,
auf äfthetifchen Gefühlen; zu allem dem tritt dann noch
der fittliche Grund hinzu, dafs der Streit dem inneren
Werth des Menfchen Abbruch thut, dafs er ihn innerlich
unfrei macht. Eben diefer fittliche Grund müfste nun
aus der Verflechtung mit allen jenen anderen Gründen
herausgelöft und klar geftellt werden. Dabei aber würde
fich ergeben, dafs die verfchiedenen ,Ideen' Herbart's
nicht coordinirt werden dürfen, fondern dafs die fittliche
Grundidee vielmehr die der inneren Freiheit ift
und dafs erft von ihr aus, d. h. dafs erft auf Kant'fcher
Bafis auch die anderen Ideen in ihrer fittlichen Bedeutung
fich erkennen laffen. So fcheint mir denn auch
die Herbart'fche Vertheilung des ethifchen Stoffs auf die
verfchiedenen Ideen und Syfteme gewiffe Unzuträglichheiten
mit fich zu führen. Die individuelle Ethik kommt
bei dem Verf. doch nicht zu ihrem vollen Recht (z. B.
der Begriff des Berufs findet nirgends eine eingehendere
Behandlung); und als eine gewiffe Gewaltfamkeit empfinde
ich es, wenn die ganze Frage nach der Bedeutung
des Privateigenthums oder der technifchen Weltbe-
herrfchung in Urproduction, Induftrie und Handel unter

der Idee des Wohlwollens zur Sprache kommt. Aber
auch diefe Bedenken alle möchte ich nicht zu fchwer
nehmen. Herbart's Ethik ift nun einmal in Lehrerskreifen
zum Theil fchon bekannt, zum Theil wenigftens
vertrauensvoller Aufnahme gewifs; und fo mag fie, trotz
ihrer Harken fyftematifchen Schwächen, ein ganz zweck-
mäfsiger Rahmen fein, innerhalb deffen die wichtigften
ethifchen Probleme Platz finden.

Wichtiger als diefe Syftemfragen find mir einige
fachliche Bedenken. So fcheint mir bei dem Freiheitsproblem
, in dem der Verf. dem Herbart'fchen De-
, terminismus folgt, die Frage der perfönlichen Schuld,
Verantwortung und Zurechnung doch zu leicht genommen
. Diefe Begriffe füllen nach dem Verf. ihr
Recht fchon durch das Zugeftändnifs bekommen, dafs
| die moralifchen Gefühlswerthe, dank der Erziehung, ftark
I genug werden können, um auch mächtigen von aufsen
oder innen kommenden Reizen fieghaften Widerftand
leiften zu können. Aber diefes „Können" gilt nur ganz
in abstracto in concreto ift bei dem betreffenden Ein-
j zelnen von einem Können doch keine Rede mehr, fo-
bald die entgegenftehenden Triebe und Reizungen ftärker
find, als die fittliche Einficht. Auch in manchen ethifchen
Einzelfragen, z. B. in der Frage der Einheitsfchule oder
der Freikirche, fcheinen mir die Dinge complicirter zu
liegen, als dafs ich ein fo decidirtes Urtheil abgeben
möchte, wie der Verf. Aber alles in allem tritt doch
in feiner Ethik fo viel befonnenes und kräftiges chrift-
lich-fittliches Urtheil zu Tage (z. B. in der Ueberordnung
der Gefinnungsbildung über alle Kenntnifsbildung, in der
Anerkennung der Familie und ihrer ethifchen Bedeutung,
in der Schätzung der Religion als Grundlage der Sittlichkeit
, vor allem in der energifchen Werthung des
chriftlichen Bruderfinns auf focialem Gebiet 1, auch fpricht
fich überall ein fo ftarkes ethifches Pathos aus, dafs
doch die Freude an dem Buch die Oberhand behält.
Und fo möchte ich denn wünfehen, dafs diefer Grund-
rifs der Ethik, der ungewöhnlich billig ift, in der Lehrerwelt
reiche Verbreitung finde. — Das Eingangsregifter
I dürfte etwas ausgeführter fein; und ein alphabetisches
I Regifter über die Hauptmaterien wäre angezeigt. S. 6
und 15 lies Epikureer und Epikureismus!

Halle a/S. Max R ei fehle.

Flügel, O., Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die neueren Wandlungen
gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. Dritte

vermehrte Auflage. Cöthen 1902, O. Schulze. (VIII.
158 S. gr. 8.) M. 2.60

Die pfychologifch-metaphyfifche Schrift des bekannten
Herbartianer's Flügel ift in erfter Auflage 1878
erfchienen und von Gottfchick in diefer Zeitfchrift
(Jahrg. 1879, Sp. 107—108) berprochen worden; eine Re-
cenfion der zweiten Auflage, die 1890 herauskam, lieferte
Eugen Ehrhardt (Jahrg. 1890, Sp. 518—519). Die dritte
Auflage ift von 129 auf 158 Seiten angewachfen. Der
Verf. hat die neuere Literatur eingearbeitet; er berück-
fichtigt die feit der zweiten Auflage veröffentlichten
pfychologifchen Schriften von Wundt, Forel. Münfter-
berg, Stumpf, Ziehen u. a. Freilich hat man dabei zum
Theil den Eindruck, dafs die Auseinanderfetzung mit
den neueren pfychologifchen Forfchungen nur nachge-

j tragen ift; namentlich die Auseinanderfetzung mit der
Schule von Avenarius düifte eingehender fein. Aber
die Schrift behält doch ihren Werth. Auch wer den
metaphyfifchen Argumentationen des Verf.s nicht zwingende
Kraft beitneffen kann, wird fich mit Gewinn aus
der Schrift des Verf.s über die bisherigen Verhandlungen

j unterrichten und wird in weitem Umfange den Widerlegungen
der dogmatiftifchen Theorien, die der Verf. bekämpft
, zuftimmen können.

Halle a. S. Max Reife hie.