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Ausgabe:

1902 Nr. 23

Spalte:

625-627

Autor/Hrsg.:

Schell, Herman

Titel/Untertitel:

Religion und Offenbarung 1902

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 23.

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wiefern die Frömmigkeit nur durch Vorftellungen mit-
getheilt werden kann, auch für die Frage nach dem
Verhältnifse der Frömmigkeit zum Handeln. — Sodann
empfinde ich es als einen Mangel, dafs der Verf. den
Unterfchied von äfthetifcher und teleologifcher Frömmigkeit
nicht dort, wo er von den Unterfchieden der Religion
und wo er von der Eigenart des Chriftenthums
handelt, befpricht, fondern erft nachträglich S. 74 bei der
Kritik der chriftologifchen Gedanken aufnimmt; denn fchon
vorher, bei der Prüfung der Gotteslehre, kann jene Unter-
fcheidung Schleiermacher's nicht wohl entbehrt werden.
Auf S. 57 ift die Stelle der Glaubenslehre I 2, S. 176 nicht
genau im Wortlaut wiedergegeben und fälfchlich auf die
dogmatifchen Ausfagen über Gott bezogen, während fie
von den dogmatifchen Ausfagen über die Befchaffenheit
der Welt handelt. — Aber folche kleine Ungenauig-
keiten dürfen das Lob der Sorgfalt, das der Arbeit gebührt
, nicht beeinträchtigen. Ich wünfche und hoffe,
dem jugendlichen Verfaffer noch öfter auf literarifchem
Gebiete zu begegnen.

Halle a. S. Max Reife hie.

Schell, Prof. Dr. Herman, Religion und Offenbarung. A. u.

d. T.: Apologie des Chriftentums. Erfler Band. Paderborn
1901, F. Schöningh. (XXVIII,464S. gr. 8.) M.6.40

Mit diefem Werke veröffentlicht der bekannte Würzburger
Profeffor Schell den erften Band einer .Apologie
des Chriftenthums' im grofsen Stile. Er ftellt der Apologetik
die Aufgabe, ,eine Erörterung der grofsen Probleme
zwifchen den verfchiedenen Weltanfchauungen zu vermitteln
' und fieht fich dadurch veranlafst, fchon im
Vorwort diefe Wiffenfchaft gegen die Verdacht der tenden-
ziöfen Befangenheit zu vertheidigen. Dem ,katholifchen,
kirchlich gebundenen' Apologeten, dem vorgeworfen wird,
er fchreibe fchon zu Anfang den Gedankengängen vor,
welches Ziel fie erreichen follen, ftellt er Häckel's Welt-
räthfel gegenüber, von dem doch wohl niemand eine
dem Chriftenthum und Gottesglauben günftige Schlufs-
folgerung erwartet habe, obgleich Häckel nach üblichem
Maafsftab ein ganz freier Forfcher fei. ,Hätte', fragt er. ,die
Apologie eines kirchlich-,.gebundenen" Autors tenden-
ziöfer ausfallen können?' Bei dem Manne der Wiffenfchaft
fei es nicht die freie Selbftentfcheidung, welche in erfter
Linie die Richtung feiner Forfchung beftimme, fondern
die Gefammtheit jener Imponderabilien, welche das Leben
in feine Bahnen leiten, ganz ftill und unbemerkt, aber
ftark und ftetig. Ueber den Geift der Unbefangenheit, in
dem ein Buch gefchrieben wurde, entfeheide keine Form
und kein Bekenntnifs, weder Glaube noch Unglaube. In
jeder wiffenfehaftlichen und religiöfen .Denomination' finde
fich der Unterfchied von Geift und Buchftaben, von lebendiger
Wahrheitsforge und gebundener Tendenz. Auch
die .freie' Forfchung fei gebunden und zwar durch das
Ziel, wohin fie nicht kommen wolle. Auch die freie
Forfchung das Proteftantismus fei gebunden: pofitiv und
negativ. .Denn fie will und foll nichts anderes fuchen
und finden, als die Heilsgewifsheit, als Gott und Chriftus,
und zwar aus der heil. Schrift des Alten und Neuen
Teftaments, nicht aber auf den Bahnen des Vernunft-
beweifes, nicht in Rückfichtnahme auf die Autorität der
Kirche und Ueberlieferung, mit beftimmtem Ausfchlufs
von allen Ergebnifsen, die unzweideutig aus dem Chriftenthum
und dem Neuen Teftament hinausführen würden,
fowie aller Ergebnifse, die nach Rom oder zur griechifchen
Kirche oder z'u deren Lehrbegriff hinleiten' (S. Vif.).

Der Verf. unterfcheidet an diefer Stelle nicht zwifchen
der perfönlichenGefammtanfchauung, welchejederForfcher
haben und bei der Darlegung feiner Einzelergebnifse,
hauptfächlich Gefinnungsgenoffen gegenüber, als berechtigt
vorausfetzen wird, und der Begründung diefer Gefammt-
anfehauung auch Andersdenkenden gegenüber, wie fie etwa

die Apologetik liefern foll. Im letzteren Falle weifs fich
die proteftantifche Theologie, falls fie fich auf diefe Aufgabe
überhaupt einläfst, an nichts anderes, als an die all-
gemeingiltigen Gefetze des wiffenfehaftlichen Denkens
gebunden. Ueber das Maafs der Freiheit dagegen, welches
der Verf. auch für feine Apologetik in Anfpruch nehmen
möchte, hat, wie die Rückfeite des Titelblattes zeigt, das
.Bifchöf liehe Generalvikariat' zu entfeheiden. Keine dialek-
tifche Kunft vermag darüber hinwegzutäufchen, dafs diefe
der Maafsregelung durch die .Indexkongregation' gerade
in ihren bellen Vertretern ausgefetzte Wiffenfchaft in
ihrem Betriebe fpeeififeh verfchieden ift von jeder ,freien
Forfchung', felbft von dem materialiftifchen Dogmatismus
in Häckel's Welträthfeln.

Das Werk zerfällt in zwei Theile, von denen der
erfte die Religionsphilofophie, der zweite die Offenbarungs-
philofophie behandelt. Die Religion wird beftimmt als die
Verbindung des Geiftes, der die Anlage zu einem vollkommenen
Geiftesleben ift, mit Gott als dem (nach Inhalt
und Form) vollkommenen Geiftesleben. Die beiden Grundwahrheiten
, aus deren Feftftellung und näherer Wefens-
beftiinmung fich die Religion als Schlufsfolge ergiebt, find
daher Gott und Geift, beide in ihrer perfönlichen Eigenart
. Der Geift befteht als die Anlage und das Bedürfnifs
nach lebendiger Aufnahme und Verwerthung aller Wahrheit
, Wirklichkeit und Vollkommenheit. Gott exiftirt als
das felbfturfächliche Geiftesleben, als der allurfächliche
j Gedanke und Wille, als die alles erklärende Weisheit und
I Güte, Wahrheit und Allmacht, als vollkommene Perfön-
I lichkeit. Der Urfprung der Religion wird aus dem Bedürfnifs
des vernünftig-fittlichen Geiftes abgeleitet, aus dem
Suchen und Forfchen nach einem hinreichenden Erklärungsgrund
des Dafeins, nach einem Urbild und Kraftquell
aller Vollkommenheit, nach einem höchften Ziel und
Lebensinhalt. In eingehender Ausführung werden die
' Erklärungsverfuche abgewiefen, welche in der Religion
gleichfam nur eine pathologifche Begleiterfcheinung des
Kindesalters der Menfchheit, eine Folge der Unkenntnifs
I der natürlichen Urfachen, ein Gebilde der dichtenden
! Phantafie, ein Erzeugnifs der Furcht oder der felbftfüchtigen
| Begierde erblicken. Aber auch die der Religion eine
I bleibende Bedeutung zuerkennende .Gefühlstheorie' wird
in einer längeren beachtenswerthen Erörterung, welche
auf Schleiermacher, Ritfehl, Sabatier u. a. näher eingeht,
zu widerlegen verfucht.

Der zweite Theil des Buches befchäftigt fich mit der
.Vernünftigkeit der Offenbarung' und ftellt — unter anderem
im Gegenfatz zum proteftantifchen Kriterium des
,Zeugnifses des h. Geiftes', das im N. T. nicht als rein
fubjectives und unmittelbares Erlebnifs im Sinne des
Proteftantismus angerufen werde, vielmehr alle Beweisgründe
des Glaubens innerer und äufserer Art umfaffe
(S. 265) — vier Kriterien auf, welche die Erkenntnifsmittel
und Kennzeichen für die Göttlichkeit einer Religion
bilden follen. Da eine göttliche Offenbarung den Endzweck
der Religion, nämlich die Erhebung des Menfchen
zur vollkommenen Lebensgemeinfchaft mit Gott als dem
Urfprung und Ziel alles Dafeins mit übernatürlicher Ueber-
legenheit zu erfüllen hat, fo mufs fie fich bekunden:
a) als höhere Wahrheitsmittheilung, ausgezeichnet durch
das Kriterium göttlicher Weisheit und Ueberzeugungs-
kraft; b) als ein Gefetz höherer Sittlichkeit mit dem
Kriterium der übernatürlichen Heiligkeit. Diefe beiden
j heifsen innere Kriterien, weil fie zeigen, was das Reich
l Gottes innerlich ift. Das Reich Gottes oder die übernatürliche
Religion mufs fich aber auch in der äufseren Wirklichkeit
erproben und zwar c) durch die fiegreiche Ueber-
windung aller Mächte des leiblichen und geiftigen Verderbens
, die durch Wunder göttlicher Macht gefchieht;
d) durch die zielbewufst fortfehreitende Erfüllung eines
feftftehenden Heilsrathfchlufses d. h. als prophetifche
Weisfagung. Diefe vier Kriterien bilden zufammen ein
grofses Kriterium und find nichts anderes als die all-