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Ausgabe:

1902

Spalte:

618-620

Titel/Untertitel:

Jahrbuch des Vereins für Evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark 1902

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 23.

618

einwandfrei. Der Verfuch, die inhaltlich fehr ungleichen i Eschatologie bei Z. im Unterfchiede von Luther's Pofition
Theile unter zwei aus einem bekannten Ausfpruch Kant's [ fehr knapp ausgefallen fei (S. 47). Dem Lobe des Vf.s,

entnommene Formeln zu fubfumiren, ift zwar geiftreich,
aber doch kaum in der Sache begründet; denn der unter
dem Titel ,Von der Tugend zur Begnadigung' vor-
ausgefchickte kurze Abfchnitt (S. 1 —13) läfst fich doch nur

der an dem ,weltfreundlichen Optimismus' Z.'s feine
Freude hat, ift zu erwidern, dafs die von ihm conftatirte
Thatfache ihre zwei Seiten hat; fie gereicht zwar der
Nüchternheit des von aller Schwärmerei und allem Aber-

wie eine Einleitung an, und bildet nicht ein mit dem witz abgewandten Reformators zum Lobe, fie beweift aber
Haupttheile der Schrift (S. 14—103) ,Von der Begna- j zugleich, dafs ihm Luther an religiöfer Kraft und prophe-

digung zur Tugend' wirklich coordinirtes Stück. Auch
die Zufammenfaffung jenes erlten Theiles, den K. keineswegs
in pelegianifchem Sinne meint, hat in folgendem Satz
einen etwas fchillernden Ausdruck gefunden: ,Von der
Tugend zur Begnadigung. Nicht durch die Höllenfahrt
der Buffe zur Himmelfahrt des Glaubens, fondern durch
die Tugenden der Vaterlandsliebe, der Wahrheit und der
Berufstreue gelangte Zwingli, in ftetiger und harmonifcher

tifcher Gewalt überlegen ift; denn Luther's Sehnfucht
nach dem lieben jünglten Tag, die K. mit Genugthuung
bei Z. vermifst, feine eschatologifch bedingte Stimmung
ift nur der Schatten feines heroifchen Glaubens, der in
den Beziehungen und Verhältnifsen diefer Welt nicht aufgeht
, fondern der herrlichen Offenbarung der feiigen Zukunft
der Gotteskinder entgegen eilt. — Schliefslich darf
nicht unerwähnt bleiben, dafs K. an manchen Stellen feiner

Entwickelung, zur Erkenntnifs des guten, wohlgefälligen ! lehrreichen Schrift die Zufammenhänge der ethifchen

und vollkommenen Gotteswillens und damit zum rechten
Verftändnifse des freimachenden Evangeliums' (S. 12—13).
Der Hauptftamm der Schrift, von dem foeben die Rede

Anfchauungen Z.'s mit mittelalterlichen Vorbildern (S.28.69.
91—92) hervorhebt, andererfeits auch der Einwirkungen
des Humanismus gedenkt; feine Schrift hätte indeffen an

war, zerfällt in zwei Unterabtheilungen: I. ,Die Sittlichkeit , Intereffe noch gewonnen, wenn er, ftatt jener zufälligen
Z.'s in ihrer Wirklichkeit als tugendhafte Gefinnung' | Andeutungen, dasZwingli'fche Lebensideal mit dem mittel-
(S. 14—49). II. ,Die Sittlichkeit Zwingli's in ihrer Erweifung I alterlichen und humaniftifchen in Parallele gebracht und
als pflichtmäfsiges Handeln' (S. 50—103), betreffend das { auf ihre Aehnlichkeit oder Verfchiedenheit beurtheilt hätte,
individuelle Verhalten (das Gebet, die Askefe) und das ; Doch würde diefe Erweiterung feiner Aufgabe die Grenzen,
fociale Verhalten (nämlich das häusliche, gefellfchaftliche, ! die er fich gezogen, verrückt haben, und die unbillige
ftaatliche und kirchliche Verhalten)'. Wollte ich einem I Geringfehätzung, mit welcher er von der .zweibändigen
Recenfenten mehr oder weniger anhaftenden Zuge zum 1 Materialfammlung Auguft Baur's' (S. 2) fpricht, läfst ver-
Schulmeiftern nachgeben, fo müfste ich zunächft den Aus- muthen, dafs ihm vor einer umfangreicheren Unterfuchung
druck ,Die Sittlichkeit Z.'s' als ungenau bezeichnen, da ja j graute; jedenfalls hat er das multum in parvo glücklich
offenbar der Vf. ,Z.'s Auffaffung vom Sittlichen' meint; i realifirt. Bei der knappen und überfichtlichen Zufammen-
doch wird der Lefer ftillfchweigend diefe Correctur felber j faffung des behandelten Stoffes wäre das doppelte (Sach-
vollziehen. Schwerwiegender dürfte die Frage fein, ob K. j und Bibelftellen-jRegifterentbehrlich gewefen. Diehübfche
das principielle Problem von dem Wefen und den Factoren ! originelle Ausftattung und der gefällige fchöne Druck Verdes
fittlichen Lebens und Proceffes nach Zwingli in feinem dienen alles Lob.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

vollen Umfang und feiner ganzen Tiefe zur Darftellung
gebracht hat. Wenn auch die Ausführungen über die
ethifche Tragweite des Zwingli'fchen Vorfehungsglaubens

fehr dankenswerth find, fo bleiben in jenem Abfchnitte Jahrbuch des Vereins für Evangelische Kirchengeschichte der

doch manche Punkte unerörtert. Hat vielleicht die Furcht, Grafschaft Mark. Vierter Jahrgang. 1902. Gütersloh

den der Schrift Bawincksuber Z. s Ethik vorgeworfenen _ _ , , _ „ J °, 6 ^ '

Fehler zu begehen und zu viel dogmatifchen Stoff mit C Bertelsmann. (164 S. gr. 8.) M. 3.—

aufzunehmen (S. 5), unfern Vf. dazu verleitet, wichtige und Zum erffen Mal hat Ref. die Aufgabe, das Organ

für die Charakteriftik der ethifchen Anfchauung des Refor- , des Vereins für Kirchengefchichte der Graffchaft Mark

mators nothwendige Vorausfetzungen auszufcheiden? j zu befprechen. Es ift nicht ganz leicht, ohne Kenntnifs

Uebrigens verfährt K. auch im Folgenden mehr andeutend
als entwickelnd und begründend. Trotzdem liefert er fo-
wohl zum Verftändnifs Z.'s als zur ,zeitgemäfsen Ausbeutung
feiner Ethik' (S. 5) bemerkenswerthe Beiträge.
Offenbar fchwebt ihm letztere Rückficht befonders vor: fie
bildet das leitende Intereffe, dem der Vf. mit Vorliebe
folgt. Die Frage, in welchem Maafse der Reformator
,modern' empfindet, denkt, urtheilt, wirft K. nachdrücklich
und häufig auf (S. 20. 25—26. 27. 77. 82. 192. vgl. auch das
Problem, das in der ethifchen Verwerthung der Bergpredigt
liegt, S.41. 53f. 56); in die hiftorifche Darftellung find nicht

der vorausgegangenen Jahrgänge dem Wirken und Streben
eines folchen Vereins, wie es in feinem Organ fich kund
giebt, gerecht zu werden. Schmerzlichmufste Ref. bedauern,
dafs ihm die eingehenden Unterfuchungen von Superintendent
Nelle in Hamm über die Gefangbücher im Vereinsgebiete
nur für die Städte Soeft und Lippftadt vorlagen
, während die gewifs orientirende Einleitung und
die Abhandlung über die Gefangbücher der Städte Dortmund
und Effen ihm unbekannt geblieben find.

Man darf wohl ficher fein, dafs der Verein feineAufgabe
nicht fo eng befchränkt, wie es nach dem Titel des Jahrbuches

feiten kritifche oder dogmatifche Bemerkungen einge- j Rheinen könnte, denn hier bezeichnet er fich als Verein

flochten, welche weniger den Hiftoriker als den Syftema
tiker erkennen laffen (S 25. 37. 43. 45- 47- 67- 74- 88. 94).
An letzt angeführter Stelle würde die Ausfage des
modernen Ethikers gewifs auf manchen Widerfpruch

für die evangelifche Kirchengefchichte, während nach
§ 1 der Satzungen Zweck des Vereins ift ,Erforfchung,
Veröffentlichung und Bearbeitung aller auf die Kirchengefchichte
der Graffchaft Mark und der angrenzenden

ftofsen. Dafs der Gedanke eines activen Widerftandes j Kirche bezüglichen Urkunden und Nachrichten' etc. Das
gegen die Obrigkeit vom Standpunkte der chriftlichen I ift auch allein das Richtige. Wohl foll die Arbeit im
Ethik unbedingt abzulehnen fei, kann doch nur unter den [ evangelifchen Geifte und im Ernfte der evangelifchen
Vorausfetzungen einer abfolutiftifchen Staatsform be- j Kirche, die nichts als die Wahrheit will, gefchehen, aber
hauptet werden; gegen eine wortbrüchige und verfaffungs- 1 ohne Kenntnifs der vorreformatorifchen Verhältnifse und
verletzende Obrigkeit ift auch der chriftliche Unterthan zum Zuftände gelangen wir nicht zur vollen Würdigung der
Widerftande durchaus berechtigt; in diefer Frage hat Rothe Reformation und ihrer mühfamen Arbeit. Wir können
gegen Kant und Schleiermacher die Directive des ,mo- j auch nicht warten, bis etwa von katholifcher Seite für
dernen'Chriften richtig angegeben. Unter den zahlreichen I die Gefchichte der evangelifchen Gebiete in vorreforma-
Punkten, die zu Auseinanderfetzungen mit dem Syftema- torifcher Zeit befriedigende Leiftungen vorliegen. Ref.
tiker Anlafs geben könnten, fei beifpeilsweife nur noch ift der letzte, der die Verdienfte katholifcher Gelehrter
einer abgedeutet. K. hebt es rühmend hervor, dafs die um verfchiedene Gebiete der Kirchengefchichte verkennen