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Ausgabe:

1902 Nr. 20

Spalte:

555-556

Autor/Hrsg.:

Gurewitsch, B.

Titel/Untertitel:

Die Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und die soziale Gliederung der Gesellschaft 1902

Rezensent:

Hummel, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 20.

556

Diefe Aufgabe ift nicht zu beeinträchtigen, wenn wir
nicht jene Theologen erziehen wollen, die ohne ficheren
Maafsftab und ohne begründete Anfchauungen von dem
was fein foll, Knechte des Herkommens und eines prin-
ciplofen Praktizismus werden. Die ,Evangelifche Kirchenkunde
' giebt keine Theorie, fie fleht eben damit aufser-
halb des Rahmens der ,Theorie des kirchlichen Handelns'
oder der ,Praktifchen Theologie'; aber fie hat die fchöne
und grofse Aufgabe, den kirchlichen Boden in Land und
Leuten, Sitten und Ordnungen, im religiöfen und fittlichen
Leben innerhalb der Landeskirche kennen zu lehren, die
das Feld der Thätigkeit unferer Commilitonen werden
foll und die fie an ihrem Theile mit zu erbauen haben.
In dem Lehrbetriebe der Praktifchen Theologie wird
eine Behandlung der .Evangelifchen Kirchenkunde' auf
dem Katheder wohl ausgefchloffen fein. Dagegen wird
in den Seminarien der Praktifchen Theologie der geeignete
Ort zu fehen fein, allerdings unter der unumgänglichen
Vorausfetzung, dafs fämmtliche Mitglieder des
Seminars derfelben Landeskirche angehören; beffer noch
ift in den Predigerfeminarien und im Lehrvicariat eine
Betriebsftätte diefer Disciplin einzurichten, und vor allem
wird es dem Privatftudium der angehenden und der am-
tirenden Pfarrer anheimzugeben fein, fich durch intime
Kenntnifsnahme der Kirchenkunde ihrer Landeskirche
das Verfländnifs der kirchlichen, religiöfen und fittlichen
Verhältnifse ihrer Gemeinden eröffnen und vertiefen zu
laffen. Vorläufig ift die fächfifche Landeskirche durch
das reichhaltige und fehr inftructive Werk von Drews
bevorzugt. Es fleht zu hoffen, dafs die weiter zu erwartenden
Bände der Tüchtigkeit ihres Vorgängers nichts
nachgeben, und dafs dem Dank der fächfifchen der der
übrigen deutfchen Landeskirchen fich verbinde. Unter
der Vorausfetzung eines tüchtigen Studiums der Theorie,
welche lehrt, wie kirchlich gehandelt werden mufs, wenn
zweckentfprechend gehandelt werden foll, wird das
Studium der Kirchenkunde, welche lehrt, wie kirchlich
gehandelt und empfunden wird, des Stimulus nicht entbehren
, die Gegenwart einer befferen Zukunft entgegenzuführen
.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Gurewitsch, B., Die Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse
und die sociale Gliederung der Gesellschaft. (Staatsund
focialwiffenfchaftliche Forfchungen, herausgegeben
von Guftav Schmoller. Neunzehnter Band. Viertes
Heft.) Leipzig 1901, Duncker & Humblot. (III, 129 S.
gr. 8.) M. 3. |

Die fehr fcharffinnige nationalökonomifche Abhandlung
unterfucht zum erftenmal genauer das Problem der
Entwickelung der menfchlichen Bedürfnifse in Wechfel-
wirkung mit der Frage wegen der focialen Gliederung
der Gefellfchaft. Die werthvollen Erörterungen berühren
fich an manchen Punkten mit den Aufhellungen der
empirifchen Pfychologie und geben auch allerlei Anregungen
für die Ethik. Verf. legt dar, dafs weder der
Erhaltungstrieb als folcher, noch der freie äfthetifche
Trieb für fich ein genügendes Erklärungsprincip für die
Bedürfuifsentwicklung abgebe, fondern dafs die letztere,
wie auch die Vervollkommnung der menfchlichen Thätigkeit
, nur ausreichend erklärt werde durch einen in
der Wiffenfchaft als pfychifcher Factor noch verhältnifs-
mäfsig ungenügend gewürdigten Trieb — das Streben j
nach focialer Macht. Bei Beachtung diefes wefentlichen
Triebes ergiebt fich die ganze fociale Nothwendigkeit
der Bedürfnifsentwicklung; durch dies Streben wird in
fortwährender Bewegung des focialöconomifchen Gleichgewichts
die für die Entwicklung der menfchlichen Bedürfnifse
und Thätigkeiten nothwendige fociale Grundlage
, die fociale Differenzierung gefchaffen. — So die
Analyfe des focial-ökonomifchen Lebens der Menfchen!

Steht aber nur der eine genannte Trieb im Menfchen
gegen die Befchränkung auf das empirifch-Nothwendigfter

Crailsheim. Lic. theol. Friedrich Hummel.

Verzweifelt. Gefchichte eines Theologie-Studierenden.
(Von Oberlehrer Gotthold Häufsler.) Dresden 1902,
R. von Grumbkow. (90 S. 8.) M. 1.50

,Rudolf war Student der Theologie. Es ging ihm,
wie fo vielen von feinem Fache: je länger er über die
kirchlichen Dogmen nachdachte, je weniger konnte er
fie mit den Forderungen feines Verftandes vereinigen;
fo verlor er ein Stück feines kindlichen Glaubens ums
andere. Wenn ich feine Gefchichte veröffentliche, fo
thue ich es lediglich aus Freundfchaft für den Ver-
ftorbenen, in der Hoffnung, dadurch den Schatten, den
fein freiwilliger Tod auf fein Gedächtnifs geworfen,
in den Augen derer, die ihn kannten, etwas zu mildern.
Diefem Zwecke follen die folgenden Briefe und Tagebuchblätter
dienen'. Es wird ficher keinen Lefer geben,
der der Anficht wäre, dafs der in diefem Vorworte angegebene
Zweck erreicht worden ift; man wird vielmehr
urtheilen müffen, dafs der Herausgeber feinem Freunde
einen fehr Übeln Dienft geleiftet hat. Die in den mit-
getheilten Bruchftücken fich kundgebende Natur, weit
entfernt, irgend welche Sympathie einzuflöfsen, enthüllt
fich mit wachfender Klarheit als eine oberflächliche
und ordinäre, die ebenfo anfpruchsvoll und hochmüthig als
fchwach und innerlich haltlos erfcheint. Von den tragifchen
Kämpfen, welche die auf fenfationell gefärbtem Titelblatt
und in zitternden Lettern abgedruckte Ueberfchrift verheilst
, findet fich im Büchlein felbft kaum eine Spur. Wie
der von feiner, in orthodoxen Anfchauungen aufgehenden
Mutter zum geiftlichen Stande beftimmte Jüngling (S. 16—
17) dem Glauben feiner Eltern allmählig entfremdet wurde,
davon erfährt man gar nichts. Das erfte Blatt feines Tagebuches
(25. Januar) Hellt uns bereits vor die von dem
Studenten offen bekannte, mit keinem Worte aber erklärte
Thatfache, ,ich habe keinen Gott mehr'. Nichts
defto weniger bleibt der Unglückliche zunächft noch bei
der theologifchen F"acultät immatriculirt, weil er ein fehr
hohes Stipendium bezieht und er den Muth nicht hat,
feiner Mutter den wahren Sachverhalt zu geftehen. Die
letzten, kurz vor dem Selbftmorde niedergefchriebenen
Worte, find vom 28. November datirt. Was dazwifchen
liegt ift nicht etwa die ergreifende Schürzung eines durch
den jähen freiwilligen Tod aufgelöften Conflictes, der uns
in die Tiefen einer mit Zweifeln ringenden Seele einen
theilnehmenden Blick thun läfst, es ift vielmehr die zum
Theil recht widerliche Gefchichte der äufseren Nöthe
und Verlegenheiten, in welche der hinter dem Rücken
der ahnungslofen Mutter von der Theologie zur Medicin
übergehende Student immer tiefer geräth. Die vergeblichen
Verfuche, die verzweifelten Anftrengungen, die er
macht, um in einer Schule als Hilfslehrer fich kümmerlich
durchzufchlagen, haben mit dem pfychologifchen
und religiöfen Problem, auf das unfer irregeleitetes In-
tereffe durch den Gegenftand gelenkt war, fchlechter-
dings nichts zu thun. Diefer .verkrachte Student', dem
jeder Dank gegen die Freunde, die ihm helfen möchten,
eine Laft ift (S. 47. 52. 57. 58), der dem edlen, felbft-
lofen, ihm die rettende Hand reichenden Mädchen
nur Klagen, oder Stumpffinn, oder Phrafen entgegenzubringen
weifs, diefer von öder Eitelkeit zerfrerfene,
keines mannhaften Entfchluffes fähige, innerlich unwahre
Menfch, dem kaum jemals der tieffte Grund feiner Noth
aufdämmert, ift offenbar eine Phantafiegeftalt, zu deren
Erdichtung der Herausgeber vielleicht einzelne Züge aus
einer wirklich erlebten Thatfache entlehnt hat, die aber
ihrem inneren Kerne nach die unerfreuliche Ausgeburt
eines Romanfchreibers ift, dem jedes tiefere religiöfe
Verfländnifs, jeder feinere pfychologifche Tact abzu-