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Ausgabe:

1902 Nr. 20

Spalte:

547-553

Autor/Hrsg.:

Huber, Eugen

Titel/Untertitel:

Die Entwicklung des Religionsbegriffes bei Schleiermacher 1902

Rezensent:

Otto, Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 20.

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wird er ermahnt, feinen Troft in der Lehre (!) von der
Gnadenwahl zu fuchen (Rom. 829—30). Wer nach
unterer Lehre zum Glauben gekommen ift, der weifs und
kann aufrichtig bekennen, dafs nicht fein Glaube die
Urfache feiner Wahl, fondern die Wahl die Urfache
feines Glaubens ift. In diefem Sinne behalten wir nach
dem Vorgange Andreä's den Ausdruck intnitu fidei als
eine zwar nicht correcte, aber bequeme dogmatifche
Formel bei' (S. 75—76). Wir können es uns erfparen auf
die beiden letzten Kapitel (III. Das Geheimnifs der Gnadenwahl
, S. 77—100, IV. Die Lehre von der Gnadenwahl nach
der Konkordienformel, S. IOI —131) einzugehen. Diefelben
zeichnen fich zwar durch einen an die grofsen Scholaftiker
unferer Kirche erinnernden Scharffinn, fowie durch das
Beftreben, den beiden charakterifirten Parteien gerecht I
zu werden, in hohem Maafse aus. Aber wenn der Verf.
auch zur Einzelexegefe des fchwierigen Artikels manch
werthvollen Beitrag liefert, fo verbietet ihm doch wieder
feine dogmatifch gebundene Stellung das Problem in feiner
ganzen Tragweite zu würdigen und namentlich in einen
gröfseren Zufammenhang zu ftellen. Die Frage kann
m. E. in fruchtbarer und allfeitiger Weife nur mit Heranziehung
von Art. I (De peccato originis) und II (De libero
arbitrid) beantwortet werden. Aus der Zufammenftellung I
der drei Abfchnitte aber wird fich ergeben, dafs die
Vieldeutigkeit der Erklärungen, welche dem Bekenntnifse 1
zu Theil geworden find, in letzter Inftanz doch in den J
hier noch ungelöften und zu keiner einheitlichen Grund-
anfchauung erhobenen Gegenfätzen gefucht werden müffen.
Diefe dogmatifche Unfertigkeit würde noch unzweideutiger
aus dem Vergleiche mit der Stellung des Symbols zu den
Lehren Luther's und Calvin's erhellen, und auch die folgende
Entwickelung des Dogmas im Schoofse der lu-
therifchen Kirche ift nur von jenen Voraufetzungen aus
zu erklären.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Huber, Eugen, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei ]

Schleiermacher. (Studien zur Gefchichte der Theologie
und der Kirche, herausgegeben von N. Bonwetfch und
R. Seeberg. Band VII. Heft 3.) Leipzig 1901, Dieterich.
(X, 315 S. gr. 8.) M. 6.-

Der Verfaffer .(teilte fich — und löfte — die Aufgabe,
alle in Betracht kommenden AeufserungenSchleiermacher's
zum Thema Religion zufammenzuftellen'. Schl.'s Predigten
werden ausgefchloffen. Im Ganzen wohl mit Recht, da
es fich um den Religionsbegriff im Allgemeinen handelt. I
Doch wären auch für diefen Predigten wie ,Demüthigung I
vor Gott' (I, 5) oder ,die Gemeinfchaft des Menfchen mit j
Gott' (I, Ii) oder ,die Aehnlichkeit der Zukunft und der !
Vergangenheit' (I, 1) mindeftens lehrreiche Illuftrationen.
Auch foll Schleiermacher aus fich felbft verftanden werden
mit wenig Rückficht auf feine geiftige Umgebung. Wohl 1
mit zu wenig. Schl.'s Religionsbegriff ift entftanden als I
Antwort und Rückfchlag auf beftimmte Anfchauungen 1
und Tendenzen feiner Zeit und nur mit und an diefen I
recht zu würdigen. Die fehr gründliche, gedankenreiche
Arbeit verdientDank. Viel Vorarbeit, zuviel eigene Ausein-
anderfetzung ift mit aufgenommen und befchwert und hindert
die Ueberficht.— Kurz fkizzirt Verf. Schleiermacher's
Gedanken über Religion aus der Zeit vor den ,Reden':
den Zufammenbruch feines Kinderglaubens, die rein mora-
lifche Werthung des Chriftenthumes, dann die Rückkehr
zur frommen .Empfindung', mit Abkehr vom Dogmatifchen
und Begrifflichen in der Religion. Eben hierin fieht er
mit Recht den Standpunkt der Reden fich vorbereiten.
Das Jahr 1793 in diefer Hinficht zu einem befonders ent- [
fcheidenden zu machen ift wohl kaum berechtigt. (Vgl.
fchon Brief aus 1791. Br. I, 100). — Die Darftellung des i
Religionsbegriffes der .Reden' leidet an dem Fehler, an
dem die meiden Darftellungen leiden. Man macht mit j

Aufwand von bewundernswerthen, logifchen, ontologifchen,
pfychologifchen Kenntnifsen fehr fcharffinnige Unter-
fuchungen über Methode der Forfchung, über pfycho-
logifche und metaphyfifche Vorausfetzungen, kommt zu
.überrafchenden' Entdeckungen zugrunde liegender pla-
tonifcher Ontologie, Schelling'fcher Identitätsphilofophie,
unterfucht die einzelnen Termini, und unterläfst nur eines:
die im Grunde fehr einfache, bedeutfame, an fich gegen
alle jene Dinge ziemlich gleichgiltige Grundanfchauung
deutlich und anfchaulich heraustreten zu laffen, die
Schleiermacher mit dem Begriffe Religion verbunden wiffen
wollte, den Stimmungsgehalt der Reden zunächft zu erhellen
und herauszuftellen, der das befte und der eigentliche
Gehalt des ganzen Werkes ift und den man gefafst haben
mufs, wenn man die Einzelvorftellungen und Termini recht
würdigen will. Und andererfeits vergifst man, dafs all
jenes fchwere Gefchütz übel am Platze ift einer Schrift
gegenüber, die nun einmal mehr ,Rhapfodie' als Differ-
tation ift, in der kommende pfychologifche, metaphyfifche,
erkenntnifstheoretifche Anfchauungen fich wohl andeuten
und vorbereiten aber noch nicht da find, deren fromme
Grundgedanken als folche unabhängig find von einer be-
ftimmten erkenntnifstheoretifchen oder metaphyfifchen
Doctrin, und die ihren Gegnern zwar vorrechnet, welch'
falfche Methoden fie gebrauchen, um den Begriff der
Religion aufzuftellen, felber aber eigentlich überhaupt keine
anwendet, fondern ihre Definition aus der Piftole fchliefst.
(Reden 1 51). Zur Aufhellung der Terminologie Schl.'s im
Einzelnen, fpeciell der .Anfchauung', wäre ein weiterer
gefchichtlicher Umblick erforderlich. Goethe's genialifches
Anfchauen und Erfaffen des Einzelnen aus dem Ganzen,
Kant's intellektuelle Anfchauung und deren Wandelung bei
Fichte und Sendling, ein gewiffer allgemeiner und un-
fyftematifcher Gebrauch des Wortes, wie er zum ßeifpiel in
Schloffer's Angriffen auf Kant vorkommt, flehen hinter
Schleiermacher's Ausdruck. Zugleich ift diefer gegen jene
wieder eigenthümlich und am betten wiederzugeben mit
.unmittelbarer Eindruck des Unendlichen durch das Endliche
auf das Gemüth in Vorftellungsform gefafst'. Sehr
zu vermiffen ift eine Darlegung des Begriffes von ,Uni-
verfum'. Der kurze Hinweis auf den Gebrauch bei Schelling
und Hemfterhuis erklärt ihn nicht. Er ift bei Schleiermacher
viel reicher und tiefer. Dafs er fo befonders ,im Gedanken-
kreife jener Zeit' gelegen habe, kann man nicht fagen.
Vom Univerfum zu reden hat man feit Parmenides nicht
aufgehört, that es aber damals kaum mehr als fonft.
Andererfeits, wie er fich Schleiermacher von feiner Grundanfchauung
aus ziemlich von felbft bieten mufste, wäre
leicht zu zeigen gewefen. Gelegentlich der .Gefühle' wäre
wohl darauf hinzuweifen gewefen, dafs genau befehen die
Unterfcheidung von ,Anfchauung und Gefühl' eine nur
relative ift. Anfchauungen im Sinne Schl.'s find nicht Er-
kenntnifse oder theoretifche Eindrücke, fondern Gemüths-
erlebnifse, felber vielmehr den Charakter von Gefühl als
fonft einen tragend. Und fo hätte fich fchon hier andeuten
laffen, dafs die fpätere Vereinfachung nach feiten des
Gefühls fich leicht und von felber ergab. Das Gefühl
der Demuth nennt Schi, nicht an erfter fondern an zweiter
Stelle: an erfter ,innige Ehrfurcht vor dem ewigen und
unfichtbaren'. Den vielbedachten ,myfteriöfen' Paffus,
Reden l, 72 ff., in dem Verf. ein Neft von Wider-
fprüchen, Schelling'fche Identitätsphilofophie, Fehler
Kantifcher Speculationen über das a priori bemerkt,
gegen ihn in Schutz zu nehmen, erlaubt der Raum
nicht. Mit Recht vertheidigt Verf. Schleiermacher gegen
den Vorwurf, Kunftfinn und äfthetifches Erleben mit
Religion zu verwechfeln. Doch fafste er nicht fcharf
die Hauptpointe. Sicher ift nach Schl.'s Definition — der
Wirklichkeit entfprechend — Religion und künftlerifches
Empfinden als etwas Paralleles zu bezeichnen. Beide find
beftimmte Gemüthserlebnifse, haben ihr Wefen und ihren
Zweck zunächft in beftimmten Erregungen des Gemüthes,
und nicht aufserhalb derfelben. Aber Religion ift ihm