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Ausgabe:

1902 Nr. 18

Spalte:

504-506

Autor/Hrsg.:

Mertz, Georg

Titel/Untertitel:

Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert 1902

Rezensent:

Knoke, Karl

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503 Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 18. 504

hält fich dann aber nach aufsen hin neutral, ohne im
Inneren andererfeits die Evangelifirung zu hemmen. 1532
fcheint eine günftige politifche Conjunctur den Reformfreunden
förderlich zu werden: der fchmalkaldifche Bund
hat nach Zwingli's Tode die Oberländer recipirt, Bayern
felbft, der alte Erbfeind Augsburgs, ift mit Philipp v. Heffen
verbündet — warum nicht zugreifen, zumal das verbündete
Ulm 1531 officiell evangelifch wurde:! Aber— in Augsburg
dominiren die Zwinglianer und für diefe ift bei den
Schmalkaldenern (den Heffen ausgenommen) kein Platz —
nlfo vergebliche Hoffnung! Auch als im Jahre 1533 die
Prädicanten einen neuen Vorftofs machen, und der Landgraf
, die Reftituirung Ulrich's V.Württemberg betreibend,
den füddeutfchen Städten fich nähert, felbft ein Bündnifs
mit ihnen anftrebt, ift des langen Politifirens kurzer Sinn
der: nicht etwa ein Bündnifs mit dem Heffen, fondern
ein enger Zufammenfchlufs der drei Städte Augsburg,
Nürnberg und Ulm. Man will fich die Selbftftändigkeit
wahren und den Anfchlufs an eine der grofsen Parteigruppen
vermeiden. Aber das war auf die Dauer nicht
durchzuführen. In gevviffer Weife war Augsburg durch
feine Zugehörigkeit zum fchwäbifchen Bunde ja doch,
wie gefagt, gebunden, und als nun — in richtiger Con-
fequenz der angedrehten Pofition — der fchwäbifche Bund
gelöft wird, zwingt des Heffen Vorgehen in Württemberg
aufs Neue zu einem Endweder — Oder, und als man auch
jetzt noch Neutralität zwifchen dem Landgrafen und Ferdinand
v.Oefterreich verfucht (d. h. thatfächlich mit beiden
Theilen verhandelt), macht Philipp'sentfcheidender Sieg bei
Laufen der Zauderpolitik definitiv ein Ende. Ein von den
Augsburger Predigern felbft, vielleicht auch von den Strafs-
burger Freunden verfafstes Gutachten vom Januar 1533
beginnt jetzt feine Wirkung zu thun, eine Rathsabordnung
proponirt eine Disputation — die übrigens (gegen Wolfart
) durchaus ernft gemeint war —, die warnende Stimme
Bayerns verhallt, und nach einigen Verhandlungen fällt
endlich am 22. Juli 1534 der denkwürdige Befchlufs: .Die
altgläubige Predigt wird ganz und die alten Ceremonien
werden in allen Kirchen (acht ausgenommen) abgefchafft',
und dem Befchlufse folgt die Execution auf dem Fufse.
Augsburg war reif, der evangelifche Vorort für ganz
Schwaben und Bayern zu werden. Aber die Koften
diefer Evangelifirung mufsten die Zwinglianer bezahlen.
In einer fcharfen Auseinanderfetzung mit Luther hatte
fich noch einmal deutlich gezeigt, dafs im Zwinglianismus
ein politifcher Hemmfchuh für Anfchlufs bei den Evan-
gelifchen lag. So mufste er fallen, aber in der milden
Form, dafs Bucer Lutheraner und fchweizerifch Gefinnte
unter feinen Unionshut brachte — tont comme chez nous
in Heffen.

Die Grundzüge der fo in Kürze wiedergegebenen
Darfteilung find ja nicht neu, fchon bei Seckendorf
finden fie fich. Aber der Verf. hat aus Acten des
Augsburger Stadtarchivs (z. Th. im Anhange mitgetheilt)
und vor Allem aus dem thesaurus Bauinianus die Linien
allenthalben fchärfer gezogen, und, was den äufseren
Hergang angeht, ein erfchöpfendes Bild geliefert. Auch
einige hübfehe Einzelergebnifse, wie z. B. die Zutheilung
der bei Walch (XVII S. 249fr.) den Augsburger Predigern
zugefchriebenen, angeblich an Luther adreffirten Schrift
an die Strafsburger als Entwurf für die Augsburger Prädicanten
, an die Adreffe des Rathes beftimmt, hat Verf. erzielt.
Ref. vermifst jedoch eine ftraffe Zufammenfaffung, die
klar und deutlich die fpringenden Punkte heraustreten
läfst; die Stoffmaffe erdrückt den Darftellenden, und die
dramatifche Spannung, die doch den Ereignifsen innewohnt
, kommt nicht zur Geltung. Und auf Eins hat
Verf. leider gar nicht fein Augenmerk gerichtet, das
auch lebhaftere Farben in die Darftellung gebracht hätte,
weil es aufserordentlich reizvoll ift: es fpielt fich in den
gefchichtlichen Ereignifsen auch ein Stück Dogmenge-
fchichte ab! Darüber foll mit dem Verf. nicht gerechtet
werden, dafs er die fehr intereffanten rechtlich-theologi-

| fchen Gutachten über die innere und äufsere Berechtigung
der Reformationseinführung nur kurz fkizzirt1); das wird
! gefchehen fein mit Rückficht auf die etwa gleichzeitig
erfchienene Schrift von Hans: Gutachten u. Streitfchriften
über das ius reformandi ... in Augsburg 1534—1537.
Das dogmengefchichtlich Werthvolle an der Gefchichte
i der Reformationseinführung in Augsburg ift die fchon
: hier anfetzende, wenn auch vorfichtig, fo doch klar fich
| herausarbeitende Durchbrechung der Einfpannung des
j Staates in den Rahmen der fpeeififeh chriftlichen Gefell-
J fchaft und der Normirung an den Grundfätzen fpeeififeh
chrifUicher Ethik. Solange die Glaubenseinheit herrfchte,
wurde eine Spannung zwifchen Politik und chrifUicher Moral
nicht empfunden; Luther bekanntlich hält ftrengftens an
jener Einfpannung des Staates feit, bereitete aber gleichzeitig
durch feine Vertiefung der chriftlichen Ethik durch
Ankettung an die Bibel praktifch den Bruch vor, dem
die durch die Glaubensfpaltung in politifche Schwierigkeiten
und theologifche Bedenklichkeiten verftrickten Staatsmächte
fich fchliefslich nicht entziehen konnten, die ka-
tholifchen fo wenig wie die evangelifchen. Gerade an
Augsburg, diefer in das Centrum der fich durchkreuzenden
Ideen und Intereffen geftellten Stadt, läfst fich das hier
vorliegende Problem vortrefflich beobachten. Was ift das'
zögernde, nach rechtlicher und theologifcher Begründung
I derReformationseinführung ftrebendeVerhalten des Rathes
anders als mittelalterliche Denkweife, und was ift das in
j den geplanten Bündnifsen mit den katholifchen Mächten
] hervortretende Moment der,Ausnehmung derReligion'(vgl.

S. 83 u.ö.) anders als die beginnende Verfelbftftändigung der
; Politik? Derjenige, der von Anfang an die Politik, los vom
Gängelbande der Theologie, felbftftändig laufen laffen
I wollte, war Philipp von Heffen, dem man darum nicht
Mangel an Gewiffenhaftigkeit in der Wahl feiner Mittel
j (f. S. 26) vorwerfen follte — hier kommt der moderne
1 Menfch im Landgrafen zum Durchbruch. Die Aufgabe
aber, die in den theologifchen Zänkereien fich aufrei-
j benden Theologen zu erziehen zu einer felbftftändigen
Würdigung und Werthfehätzung der Politik, hatte Bucer
übernommen — und hier liegt wohl der tieffte Grund,
1 warum diefe beiden, Philipp v. Heffen und Bucer, fich
! finden mufsten. Hinter dem ,geriebenen Diplomaten'
(Boffert a. a. O.) fteckte eben auch ein Stück moderner
j Menfch, und feine auch in Augsburg angewandte Con-
cordienformel unio sacramentalis — deren von mir fchon
früher (in Nr. 8 diefer Zeitfchr.) herausgehobene Bedeut-
! famkeit auch hier wieder heraustritt (vgl. S. 63, 122) —
foll doch nur die Ruheftörerin Theologie einlullen, um
Bahn frei! für die Politik zu machen.

Giefsen. W. Köhler.

Mertz, Pfarrer Dr. Georg, Das Schulwesen der deutschen Reformation
im 16.Jahrhundert. Heidelberg 1902,C.Winters
Univbuchh. (VII, 681 S. gr. 8.) M. 16.— ; geb. M. 18.—

Der Verf. bekundet durch diefe Arbeit eine feltene
Vertrautheit mit den evangelifchen Kirchen- und Schulordnungen
des 16. Jahrhunderts. Mit aufsergewöhnlichem
Fleifse hat er aus ihnen eine Menge von Notizen zu-
fammengetragen, welche geeignet find, unfere Kenntnifse
vom Schulwefen im Reformationszeitalter zu vervoll-
ftändigen und durch illuftrirende Belege zu vervollkommnen
. In zehn Abfchnitten wird gehandelt von der
I principiellen Stellung der Reformation zum Schulwefen,
von den Schulmännern der Reformation, von den evangelifchen
Kirchen- und Schulordnungen, den Schulan-
ftalten, den Unterrichtsfächern, der Unterrichtsmethode,
den Erziehungsmitteln, den Lehrern, den Schülern und
dem Verhältnifse des Humanismus zur Reformation. Was
hier geboten wird, kann trotz der Fülle neuer Daten, die
angeführt werden, doch nur als eine Beftätigung der

1) vgl. allerdings den Anfatz zur fyftematifchen Betrachtung S. 69f.